Franz Mehring 19011127 Berliner Theater (Hauptmann, „Der rote Hahn")

Franz Mehring: Berliner Theater

Hauptmann, „Der rote Hahn"

27. November 1901

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 283-285. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 320-322]

Es sind jetzt etwas über acht Jahre her, seit Gerhart Hauptmanns Diebskomödie „Der Biberpelz" zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde. Sie hatte durchaus keinen Erfolg; das Premierenpublikum schwieg vielmehr befremdet, als der Vorhang zum letzten Male fiel, und über die drei Respektsvorstellungen hat es die Komödie damals nicht gebracht. Auch die Kritik ließ sich überwiegend ungünstig aus, jedoch an dieser Stelle wurde der hohe künstlerische Wert des Stückes gebührend hervorgehoben, das seitdem auch seinen Weg auf die Bühne gefunden und nächst den „Webern" wohl am meisten dazu beigetragen hat, Hauptmanns Ruhm zu begründen. Seinen dichterischen Ruhm, wenn auch nicht seine Popularität unter den Bildungsphilistern, die sich am meisten an dem künstlerisch minderwertigen Klingklang der „Versunkenen Glocke" ergötzen.

Ginge es nach unseren Wünschen, so möchten wir uns heute in den gleichen Widerspruch mit der Ablehnung setzen, die das Premierenpublikum des Deutschen Theaters am 27. November der Fortsetzung des „Biberpelzes" bereitet hat: dem „Roten Hahn", einer von Hauptmann so betitelten „Tragikomödie" in vier Akten. Indessen, zu unserem Leidwesen müssen wir abermals konstatieren, dass dieses Drama eine Niete ist, wie Hauptmanns Dramen in den letzten Jahren überhaupt. Wir wollen nicht annehmen, dass der Dichter die Fortsetzung des „Biberpelzes" geschrieben hat, um zu zeigen, dass der Frevler, der sich an den Gesetzen des heiligen Eigentums vergreift, schließlich doch von der Nemesis ereilt wird, allein in jedem Falle war es unvorsichtig von ihm, eine so geschlossene und in köstlichen Humor sicher gebettete Dichtung, wie den „Biberpelz", fortsetzen zu wollen. Mit derartigen Fortsetzungen ist es überhaupt eine eigene Sache; Goethe und Cervantes sind daran gescheitert, und Hauptmann hätte um so weniger dies Wagnis riskieren sollen.

Er hat nichts damit erreicht, als dass er zwei Gestalten, von denen man sagen durfte, dass er sie mit schöpferischer Hand lebendig zu machen gewusst habe, arg verunstaltet hat. Der Amtsvorsteher v. Wehrhahn, dieser ergötzliche Dummkopf von patriotischem Streber, hat sich in der neuen Komödie zu einem langweiligen Esel ausgewachsen, und nun gar die Mutter Wolffen! Aus der liebenswürdigen und lustigen Person, die mit naiv-pfiffigem Mutterwitz in ihrem kleinen Kreise die Ungleichheiten des Eigentums einzuebnen versucht, ist eine Verbrecherin nicht bloß in kriminellem Sinne geworden, eine Brandstifterin, die sich das Haus über dem Kopfe anzündet, um die Versicherungssumme zu erschleichen, und einen armen blödsinnigen Tölpel in den Verdacht der Täterschaft bringt oder ihn doch unter diesem Verdacht lässt. Freilich fühlt Hauptmann wohl, dass dieser Stoff nicht der Stoff einer Komödie ist, und so macht er eine Tragikomödie daraus. Der Vater des blödsinnigen Tölpels, ein ehemaliger Gendarm, kommt der Wolffen auf die Sprünge und ängstigt sie mit drohenden Anspielungen, bis sie im vierten Akte eines natürlichen Todes stirbt. Mit dieser Tragik steht es aber um kein Haar breit besser als mit der Komik des Stückes, und man mag es insofern mit Recht eine Tragikomödie nennen, als schwer zu sagen ist, wo seine Tragik und wo seine Komik steckt.

Der „Biberpelz" war arm an Handlung, aber reich an lustigen Verwicklungen, die sich ungezwungen aus den Charakteren der handelnden Personen ergeben. Der „Rote Hahn" ist noch ärmer an Handlung und ganz frei von lustigen Verwicklungen. Die berühmte „Kleinmalerei" Hauptmanns verpufft in Äußerlichkeiten, die spurlos am Hörer oder Leser vorüber gleiten. Sie ist von jeher die Hauptstärke Hauptmanns gewesen und hat ihm seine großen Wirkungen gesichert, sobald er wirklich etwas im Kleinen zu malen hatte. So vor allem in den „Webern", wo ein erschütternder Stoff sich nur durch Kleinmalerei bewältigen ließ, aber auch noch im „Biberpelz", im „Kollegen Crampton", selbst noch im „Fuhrmann Henschel". Jedoch das Leben dieses Dramatikers ist nicht so reich, dass es ihm unerschöpflich neue Stoffe böte. Sich durch Studium eine umfassende Weltanschauung zu erwerben, hat Hauptmann verschmäht, wie seine gänzliche Hilflosigkeit gegenüber historischen Stoffen speziell im „Florian Geyer" zeigt; ebenso hat er sich dem großen Weltgetriebe immer ferngehalten, er hat in angeblicher Vornehmheit sein Poetenstüblein vor den großen Bewegungen der Zeit verrammelt; was Wunder also, wenn der Strom allmählich im Sande versickert, der erst in so breitem Bette daher zu strömen schien.

Gewiss darf man dem Dichter seinen immer hoffnungsloseren Untergang nicht allein aufs persönliche Konto setzen. Es ist überhaupt vorbei mit dem Naturalismus, der sich eine Zeitlang gebärdete, als eröffne er eine neue Weltwende der Kunst. Wir sagen es nicht im Gefühl irgendeiner Befriedigung oder gar Schadenfreude, denn wir suchen vergebens nach den ersten Anzeichen einer höheren Kunstform, die sich über den Naturalismus erhöbe, wie dieser sich vor Jahren schon über die kapitalistische Verseuchung der Kunst zu erheben begann. Allein vor einer handgreiflich hervortretenden Tatsache darf man die Augen nicht verschließen, und darauf glauben wir uns allerdings am Tage der Enttäuschung berufen zu können, dass wir nie in die reklamenhafte Übertreibung eingestimmt haben, womit die Propheten des Naturalismus sich aufspielten und etwa einen Gerhart Hauptmann zu einem zweiten Goethe oder Shakespeare aufzublasen versuchten. So dick hat es die bürgerliche Welt nun schon lange nicht mehr, und hätte sie sich von Anbeginn etwas bescheidener zu fassen gesucht, so brauchte sie heute nicht gar so katzenjämmerlich dreinzuschauen. Der Naturalismus war eine ganz achtbare und erfreuliche Episode, und speziell Gerhart Hauptmann wird mit einigen seiner Dramen einen dauernden Platz in der Geschichte der deutschen Dichtung behaupten, aber eine neue Weltwende der Kunst kann von einer untergehenden Welt nicht erzeugt werden.

Jedoch lohnt es sich überhaupt, an den „Roten Hahn" so weitgreifende Betrachtungen zu knüpfen? An sich wohl nicht, wenn nur über den „Roten Hahn" selbst etwas zu sagen wäre, was der Mühe lohnte. Gerhart Hauptmann ist mit dieser Tragikomödie in das gefährliche Stadium gelangt, sich selbst zu kopieren, ein Stadium, das im Gebiet der Kunst so viel bedeutet wie die Lungenschwindsucht im Gebiet der physischen Natur. Der Fall nimmt sehr hippokratische Züge an, aber wer lebt, darf auch noch hoffen, und könnte der Dichter der „Weber" sich noch einmal aufraffen, wir wünschten es schon um seines Meisterwerkes willen.

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