Franz Mehring 19021210 Berliner Theater (Hauptmann, „Der arme Heinrich")

Franz Mehring: Berliner Theater

Hauptmann, „Der arme Heinrich"

10. Dezember 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 345-348. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 323-327]

Nach den ganzen und halben Misserfolgen, die Gerhart Hauptmanns dramatische Produktion in den letzten Jahren zu verzeichnen gehabt hat, ist „Der arme Heinrich", ein „Drama aus der deutschen Sage", das am 6. dieses Monats zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde, wieder ein Schritt aufwärts. Freilich kein Schritt auch nur entfernt auf die Höhe der „Weber" oder des „Biberpelzes", aber immerhin ein Schritt aufwärts, der wieder achtungsvolle Sympathie für das dichterische Schaffen Hauptmanns einzuflößen vermag.

Den Stoff seines neuen Dramas hat er nicht sowohl der „deutschen Sage" als der poetischen Erzählung des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von der Aue entnommen, der seinerseits nach einer lateinischen Vorlage gearbeitet hat, die sich denn freilich wohl auf ursprünglich heidnische Vorstellungen zurückführen lässt. Es ist die Geschichte des reichen Ritters, der, an dem unheilbaren Aussatz leidend, nur durch das Blut einer reinen, sich freiwillig opfernden Jungfrau geheilt werden kann. Das Töchterlein eines seiner Bauern drängt sich zu diesem Opfer, nicht aus Mitleid oder aus einem natürlichen Gefühl, sondern in der Hoffnung, dass seine Selbstaufopferung zu seinem eigenen Seelenheil gereichen werde. Der brave Ritter selbst lacht erst über den kindischen Einfall, aber je näher der Tod heranschleicht, um so heißer erwacht in ihm die Liebe zum Leben: er nimmt das Opfer des Mädchens an und zieht mit ihr nach Salerno zu einem Arzte, der das Wunder vollbringen kann, mit dem Blute der Jungfrau das Leiden des Ritters zu heilen. Schon liegt das Kind auf dem Seziertisch, als der Kranke, der durch eine Türspalte zusieht, von dem rührenden Anblick überwältigt wird; sein Herz ergibt sich Gott, da er sieht, wie dies Kinderherz sich Gott im Tode freiwillig ergibt; er demütigt sich und nimmt nun seine Krankheit willig als Fügung Gottes an. Er hindert den Tod des Kindes und zieht mit der Geretteten heim, die an ihrem Teile bis zum Tode betrübt ist, dass sie die ewige Seligkeit nicht erlangt hat. Aber Gott ist barmherzig und schenkt seine Gnade dem, der sich vor ihm demütigt. So nimmt er den Aussatz von dem Ritter, dann wird das Mägdlein die Gemahlin des durch sie nicht nur leiblich geretteten, sondern auch in der Seele umgewandelten Herrn.

Man braucht sich die poetische Erzählung Hartmanns von der Aue nur in diesen allgemeinsten Grundzügen zu vergegenwärtigen, um auf den ersten Blick zu erkennen, wie die mittelalterliche Kirche hier eine ursprünglich heidnische und auch barbarische Vorstellung, die heilende Kraft grausam verschütteten Jungfrauenbluts, in ihre religiösen Vorstellungen übersetzt und in ihrer Weise auch zivilisiert hat. Das Mädchen will sich freiwillig opfern, um in den Himmel zu kommen; während sie schon nackt auf dem Seziertisch in Salerno liegt und der Arzt das Messer wetzt, um sie zu schlachten, wird sie von ihm eindringlich examiniert, ob nicht Drohungen des Herrn oder sonstige Beweggründe, sondern ganz reiner, freier Wille sie zur Selbstopferung bestimme. Der aussätzige Ritter wieder, der „arme Heinrich", trägt sein Hiobslos im Anfang keineswegs mit Hiobsgeduld, sondern verwünscht die Stunde, wo er geboren wurde, und lacht über das rührende Gottvertrauen des Mädchens. Dann packt ihn feige Todesfurcht, und nun will er das Opfer erbarmungslos auf die Schlachtbank schleppen, bis Gott denn im letzten Augenblick sein Herz erleuchtet. So wird der reiche Ritter seinen Aussatz los, und in seinem legitimen Brautbett erlischt die Sehnsucht des armen Mädchens nach dem himmlischen Bräutigam, ein anmutiger Scherz, womit die kirchliche Legende ihrer selbst spottet, nachdem sie die heidnische Sage in sich verschlungen hat.

Für die Art, wie die mittelalterliche Kirche sich mit den heidnischen Überlieferungen abzufinden wusste, ist die Geschichte vom armen Heinrich geradezu ein Musterbeispiel, und von den romantischen Wiederentdeckern der mittelhochdeutschen Literatur ist Hartmanns poetische Erzählung denn auch als Meisterwerk gepriesen worden. Dagegen nahm der große Heide Goethe lebhaften Anstoß an dem eklen Gegenstand der Dichtung, und Gervinus fragte von seinem modern-bürgerlichen Standpunkt aus: „Wenn es uns heute schon schwerfällt, jenes asketische Christentum selbst von religiöser Seite her nur zu begreifen, sollen wir es dann moralisch gutheißen oder gar ästhetisch bewundern? … Was soll man sagen, wenn hier die seltsamsten Eigenheiten der christlichen Rechtgläubigkeit und ihre wundertätigen Einflüsse auf die menschliche Seele den Inhalt der Dichtung gestalten, wenn die ohnehin so schwer zu ergründende Natur des Menschen hier mit der Decke der religiösen Schwärmerei verhängt wird? Das Wunderbare ist schwer erträglich, wo es aus gefabelten und unbegreiflichen Kräften hergeleitet ist, die nicht gemeinsame Sympathien aller Menschen anerkennen. Nicht als ob die Legende an sich ein für allemal verwerflich wäre; … wie rein poetische Wirkung die Legende machen kann, haben so verständig-sinnige Männer wie Goethe und Hans Sachs gezeigt, die aber gerade ihre Göttersöhne und Wundertäter dann in die gruseligsten Tagesgeschichten und Begebenheiten versetzten. Die zu große Achtung vor dem Stoff hat in dem Mittelalter aller Dichtung geschadet." In diesen Sätzen urteilt Gervinus zu hart über Hartmann von der Aue, dem am Ende des zwölften Jahrhunderts füglich nicht zugemutet werden konnte, seinen Stoff im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, aber was Gervinus sagt, trifft auf Hauptmanns neuestes Drama zu: die „zu große Achtung vor dem Stoff" ist der Grundfehler dieser Dichtung, die wenig mehr ist als eine dialogische Umschreibung der mittelhochdeutschen Erzählung.

Die literarische Leibgarde Hauptmanns, die noch keineswegs ausgestorben ist, wenn sie auch aus triftigen Gründen nicht mehr so lärmt wie vor drei Jahren, hat zwar das Stichwort ausgegeben, dass Hauptmann den überkommenen Stoff dichterisch umgebildet und den Schwerpunkt der psychologischen Entwicklung aus der Seele der Heldin in die Seele des Helden gelegt habe, der im mittelhochdeutschen Epos nur eine ganz passive Rolle spiele. Das ist aber nur äußerlich richtig, insofern als Hauptmann den aussätzigen Ritter in den Vordergrund der Handlung stellt und nicht die edelmütige Maid, die mit ihrem Trachten nach dem Himmelreich in einem modernen Drama, wenn es anders nicht zum religiösen Passionsspiel werden sollte, zurücktreten musste. Aber es ist vollkommen unrichtig, dass Hauptmann die psychologische Entwicklung des Ritters, so wie sie bei Hartmann von der Aue gegeben ist, irgendwie umgebildet oder gar vertieft habe. In der sehr breiten Exposition der beiden ersten Akte Angst und Sorge um die hereinbrechende Krankheit, im dritten Akte aufbäumende Verzweiflung, im vierten Akte feige Todesangst, im fünften Akte Läuterung und Sühne: alles das ist Schritt für Schritt der mittelalterlichen Erzählung nachgedichtet. Eher könnte man sagen, Hauptmann habe die psychologische Entwicklung verflacht; was Hartmann gläubig, naiv, treuherzig dem „heiligen Krist" zuschreibt, das setzt Hauptmann gespreizt, phrasenhaft, trivial irgendeiner „Gottheit" auf die Rechnung.

Wir geben nur eine Probe: wie der arme Heinrich im fünften Akte den Augenblick schildert, wo nach der Legende Gottes Erleuchtung über ihn kommt:


Das Wunder war vollbracht, ich war genesen!

Gleichwie ein Körper ohne Herz,

ein Golem, eines Zauberers Gebilde -

doch keines Gottes – tönern oder auch

aus Stein … oder aus Erz bist du, so lange nicht

der reine, gerade, ungebrochene Strom

der Gottheit eine Bahn sich hat gebrochen

in die geheimnisvolle Kapsel, die

das echte Schöpfungswunder uns verschließt:

dann erst durchdringt dich Leben. Schrankenlos

dehnt sich das Himmlische aus deiner Brust,

mit Glanz durchschlagend deines Kerkers Wände,

erlösend und auflösend -: dich! die Welt!

in das urewige Liebeselement.


Dass diese Gottheit mit der geheimnisvollen Kapsel wirklich eine psychologisch vertiefende Umbildung des „heiligen Krist" sei, wird sich ernsthaft kaum behaupten lassen.

Die Vorgänge in Salerno selbst bleiben in dem Drama hinter der Szene. Dadurch schwindet die geringe Handlung fast auf nichts zusammen. Vier lange Akte hören wir den armen Heinrich in den fortschreitenden Stadien seiner Krankheit jammern und klagen, fluchen und toben, kriechen und winseln; im fünften erzählt er seine Rettung und sein Glück:


Es ist

ein stolzes Ding, die Lust verstehn und Herr

der Freude sein! Des Abgrunds Tiefen ruhen

unter des Schiffes Kiel, auf dem wir gleiten,

und ist ein Taucher dort hinab getaucht

und heil zurückgekehrt zur Oberfläche,

so ist sein Lachen, wenn er wieder lacht,

Lasten von Golde wert.


Die paar anderen Personen des Dramas sind im Grunde nur dazu da, die Monologe Heinrichs im Rollen zu erhalten, einschließlich des Mägdleins Ottegebe, das in seiner ekstatischen, halb irdischen, halb himmlischen Verzücktheit natürlich keiner dramatischen Entwicklung fähig ist. Auf der Bühne ermüdet das Drama deshalb außerordentlich, und es ist nur ein halber Trost, wenn Hauptmanns Bewunderer sagen, man müsse es lesen, um es in all seiner Schönheit zu genießen. Gewiss mag man da an manchen Einzelheiten seine Freude haben, aber man wird schließlich auch das Buch ohne rechte Befriedigung aus der Hand legen. Gedankenreichtum ist Hauptmanns Sache eben nicht und noch viel weniger philosophische Weite des dichterischen Blickes; auch sein Vers stolpert viel mehr auf Shakespeares Stelzen einher, als dass er darauf schreitet.

Ob sich die Legende vom armen Heinrich überhaupt mit modernem Geiste füllen lässt, wer möchte es bejahen? Nur ein dichterisches Genie könnte die Frage durch die Tat beantworten. Dies Genie ist Hauptmann nicht, und er wird es auch niemals werden. Es geht über seine Kraft, die mittelalterliche Legende, sei es nur aus dem Geiste ihrer Zeit, zu reproduzieren oder aber zum Vehikel moderner Probleme zu machen. So mischt er die kirchliche Mystik, die doch einmal ein echter Wein gewesen ist, der eine ganze Welt berauscht hat, mit aufklärerischem Wasser, das reichlich fade ist; eine halbwegs strenge Geschmacksprobe hält dieses Drama nicht aus, mag man es nun lesen oder hören.

Aber in jeder seiner Szenen spürt man, dass Hauptmann mit ehrlichem Eifer um ein hohes Ziel gerungen hat, und das sichert dem „Armen Heinrich" ein Maß sympathischer Achtung, wie es Hauptmanns Schöpfungen in den letzten Jahren nicht gewährt werden konnte.

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