Franz Mehring 18981108 Berliner Theater (Hauptmann, „Fuhrmann Henschel")

Franz Mehring: Berliner Theater

Hauptmann, „Fuhrmann Henschel"

8. November 1898

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 243-246. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 307-311]

Als Gerhart Hauptmann vor zwei Jahren seine „Versunkene Glocke" im Deutschen Theater aufführen ließ, entstand unter seinen Verehrern große Bewegung. Man hatte so viel von der gänzlichen Umwälzung der Kunst durch den modernen Naturalismus geschwärmt, und nun verlor sich der naturalistische Meister in ein Märchendrama, dessen Motive aus allen möglichen, nur aus keinen neuen Gattungen der Literatur zusammengesucht waren. Man hatte so viel über die Schiller-Epigonen von „Jambenschmierern" gelästert, und jetzt dichtete Gerhart Hauptmann in Jamben, in richtigen fünffüßigen Jamben, die sich von Schillers Jamben nur noch unterschieden wie ein grobgeflickter Kärrnerskittel von einem purpurnen Königsmantel.

Es war sehr ergötzlich, die Verwirrung zu beobachten, die dadurch in Hauptmanns großer Gemeinde einriss. Soweit ihre Priester in der Zeitungspresse sprachen, entschieden sie sich wohl im allgemeinen dafür, das Weihrauchfass unentwegt weiter zu schwingen, sintemalen man ein altes Götzenbild niemals zerbrechen soll, ehe man denn ein neues hat. Kritischer wurde die Frage in den Schriften erwogen, die sich mit Hauptmann im Allgemeinen und mit der „Versunkenen Glocke" im besonderen beschäftigten. Wie viele solcher Schriftchen überhaupt erschienen sind, vermag ich nicht zu sagen, aber ihrer vier sind mir durch die Hand gelaufen, und es ist nicht ohne Interesse, sie einmal kurz abzuhören, namentlich in diesem Augenblick, wo das neueste Drama Hauptmanns die kaum wieder rangierten Reihen der Gläubigen in neue Verwirrung zu bringen droht.

Da ist zunächst die Linke, eine Rotte borstiger Gesellen, der es um die Sache des Naturalismus zu tun ist oder das, was sie nach bester Einsicht unter dieser Sache versteht. Sie kam durch die „Versunkene Glocke" ziemlich aus dem Häuschen und erklärte rundweg: „Wer nach diesem Drama noch die Behauptung aufzustellen wagt, die moderne deutsche Dichtung sei eine vollständig neue, die Überwindung nicht bloß des Klassizismus, sondern überhaupt aller poetischen Bestrebungen, die vor Anno 1885 aufgetaucht sind, den soll man einfach auslachen." Sie fand, dass unglaublich viel Gemachtes und Gesuchtes in dem Märchendrama sei, und führte dafür eine lange Liste namentlich auch sprachlicher Böcke an. Statt echter Naivität und wahrhafter Poesie habe Hauptmann ihre bösen Halbgeschwister, die Süßlichkeit und die Koketterie, erwischt und sei in Regionen geraten, wo die Redwitz und andere Frauenzimmer, nicht aber die Goethe und Grillparzer wohnten. So die gekränkte Liebe der ehrlichen Linken. Etwas behutsamer, aber doch noch deutlich genug sprach das linke Zentrum. Hauptmann verdiene eigentlich keinen Vorwurf, weil er vielerlei alte Motive aus Märchen und Sage verwendet habe. „Aber er hat leider so manchen hübschen alten Märchenbestandteil verdorben, indem er ihn nur als äußerliche unverständliche Zierat einsetzte. Die sechs dem Meister am Schmiedefeuer helfenden Zwerge sind eine nicht näher zu deutende und darum anmaßende Allegorie, ebenso die drei Becher, die Heinrich vor seinem Tode auf das Geheiß der Buschgroßmutter leert. Desgleichen wäre eine blühende, schwungvolle Sprache wohl zu unterscheiden von einer bombastischen, reflektiert rednerischen, wie sie in der ,Versunkenen Glocke' herrscht." Auch das linke Zentrum gab Proben sprachlicher Geschmacklosigkeiten, von denen man schwer begreift, wie sie einem geborenen Dichter passieren können.

Das rechte Zentrum lenkte dann aber bedeutend ein. Es sagte, im „Florian Geyer" habe Hauptmann eine längst verstummte Zeit auch in ihren Lauten naturalistisch lebendig gemacht, und dies dreiste Erkühnen sei nicht missglückt. „Solch starken Eigenwillens hat sich der Dichter der ,Versunkenen Glocke' begeben. Er ruft sich den Goethe des zweiten Faustteils und den schlegelischen Shakespeare des Sommernachtstraums zu Hilfe, und diese Muster helfen ihm nun eine Verssprache schmieden. Die ,Versunkene Glocke' ist das erste und einzige dramatische Werk Gerhart Hauptmanns, worin er nicht mehr künstlerisch revoltiert. Er lenkt in schöne alte Traditionen ein. Seine Dichterkraft begleitet ihn auch hierhin. Noch freundlicher begleitet ihn hierhin die Gunst des Volks." Klingt in dieser Sprache des rechten Zentrums noch eine leise Resignation durch, so ist die Rechte fertig mit dem Entscheid, Hauptmann habe den Naturalismus überwunden, aber, so etwa in Hegelscher Negation der Negation, durch eine noch höhere Kunstform, den Symbolismus oder wie sich das Ding sonst nennen mag, der aus dem Naturalismus naturwüchsig entstanden sei. „Der Naturalismus – das wollen wir nie vergessen – ist die trieb- und gestaltungskräftige Wurzel, aus der die ganze moderne Kunst erwuchs. Aus ihm allein auch konnte sich, wie eine schöne späte Blüte, der neue poetische Stil Gerhart Hauptmanns entfalten, dessen schlagende Bildkraft und glockentönige Sprachmusik Freund und Feind bezaubert und bezwungen hat." Bim bam, bam bim, wie es bei Lassalle heißt.

Im „Fuhrmann Henschel", seinem neuesten Schauspiel, das am 5. dieses Monats zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde, hat Hauptmann sich nun auf die Wurzel des Naturalismus zurückbesonnen, und das war sehr gescheit von ihm, denn soweit diese Wurzel echt ist, spendet sie seinem dichterischen Talent die eigentliche Kraft. Was ihm in auffallendem Maße fehlt, ist das schöpferische Genie des Vollblutpoeten; was er dagegen in hohem Grade besitzt, ist ein fleißig und sorgsam ausgebildetes Talent der Beobachtung, einer mikroskopisch feinen, freilich auch kleinen Beobachtung. Wo Hauptmann einen Helden zu schaffen gesucht hat, ist ihm der Wurf regelmäßig missglückt: man lasse nur einmal Alfred Loth, Wilhelm Scholz, Johannes Vockerath, Florian Geyer, den Glockengießer Heinrich die Revue passieren – es sind vom künstlerischen Standpunkt durchweg Ritter von der traurigen Gestalt; einen wirklichen Mann, einen handelnden und kämpfenden Mann, auf seine zwei Beine zu stellen, ist dem Dichter in zehn Dramen noch nicht einmal geglückt. Dagegen hat er eine Fülle episodischer Gestalten geschaffen, die sorgsam dem Leben abgelauscht sind. Seine Domäne ist das Milieudrama; wo er auf einen glücklichen Stoff stößt, wie in den „Webern" und – in geringerem Grade – auch im „Biberpelz", da hat er dichterische Werke geschaffen, die in der deutschen Literatur dauern werden. Das wird ihm kein unbefangener Beurteiler abstreiten, mag auch das unleidliche Geschwätz seiner Bewunderer, als sei Hauptmann der Weltdichter, um den die Goethe und die Shakespeare kreisen, wie der Sterne Chor zur Sonne sich stellt, noch so heftigen Widerspruch herausfordern.

In gewissem Sinne lässt sich sagen, dass Hauptmanns jüngstes Schauspiel zwischen dem, was er kann, und dem, was er nicht kann, einen Mittelweg einschlägt, wobei sich freilich, wie bei allen solchen Kompromissen, viel mehr zeigt, was er nicht kann, als was er kann. Das Stück hat einen Helden, den Fuhrmann Henschel, der seiner guten Frau auf dem Totenbett verspricht, sich nicht mit der bösen Magd zu verheiraten, nach dem Tode der ersten Frau aber dies Versprechen bricht und durch die zweite Frau in Unehre kommt, worauf er sich in Gewissensbissen über den Bruch seines Wortes erhängt. Einen ähnlichen Stoff hat der Dichter vor zehn Jahren einmal in einer kleinen Novelle behandelt, dem „Bahnwärter Thiel", wo die robuste Sinnlichkeit der zweiten bösen Frau den starken, aber einfältigen Mann unterjocht, bis er in einem Anfall von Raserei das Weib erschlägt. Der Stoff eignet sich ungleich mehr für die epische als für die dramatische Gestaltung, aber nicht deshalb allein ist der „Fuhrmann Henschel" ein entschiedener Rückschritt gegen den „Bahnwärter Thiel". In der Novelle motiviert Hauptmann mit psychologischer Sorgfalt, was er in dem Schauspiel vollständig unterlässt; Fuhrmann Henschel ist in der ersten Szene genau derselbe wie in der letzten, und ebenso das böse Weib; ein seelisch-sinnlicher Kampf zwischen beiden, wie im „Bahnwärter Thiel", entwickelt sich nicht, und ebenso wenig ist der Selbstmord Henschels menschlich begründet: die gespensterhafte Angst vor der toten Frau gehört doch nur zu den Mittelchen zweifelhafter Melodramatik. Wenn ein Kritiker der bürgerlichen Presse in seiner bombastischen Weise sagt, die fünf Akte des Schauspiels seien „fünf mächtige, aus des Lebens Urkraft heraus gepellte Bilder", so braucht man nur den Bombast zu streichen, und es bleibt ein empfindlicher, aber gerechter Tadel übrig: es sind in der Tat nur Bilder, die am Zuschauer vorübergehen; dem Stücke fehlt das psychologische Rückgrat.

Dafür bietet aber die Milieumalerei um so weniger einen Ersatz, als sie nur sehr lose mit der dramatischen Handlung zusammenhängt. Die alte Schwäche des Dichters, seinen Modellen auch die beiläufigsten Äußerlichkeiten abzusehen, die mit dem künstlerischen Zwecke nicht in der entferntesten Beziehung stehen, tritt in diesem Schauspiel besonders aufdringlich hervor. Hauptmann schildert das Leben und Treiben in seinem elterlichen Hause mit einer breiten Behaglichkeit, die seiner Pietät das günstigste Zeugnis ausstellt, aber leider mit dem Geschick des Fuhrmanns Henschel sehr wenig zu schaffen hat. Es ist keine Indiskretion, davon zu sprechen, da der offiziöse Biograph des Dichters, Herr Paul Schienther, alle diese Dinge an die große Glocke gehängt hat; der Hotelbesitzer Siebenhaar, der edelherzige, wohltätige, durch unglückliche Konjunkturen verarmte Mann, der in dem Stücke etwa zehnmal so viel spricht, als er zu handeln hat, ist der Vater des Dichters, der Dichter selbst tritt als wohltätiger, Hühnersuppe austeilender Page auch auf: die Masken sind genau dem Bilde von Vater und Söhnchen nachgeahmt, das Schienther seiner Biographie beigegeben hat. Ich weiß wohl, dass die Bewunderer des Dichters darin eben den epochemachenden Naturalismus sehen, den die Banausen nicht begreifen können, aber wenn sie mit dem sklavischen Abklatsch der zufälligsten Wirklichkeit eine „neue Kunstform" entdeckt haben wollen, so sollten sie ruhig zu Hause bleiben. Das sind ja längst abgetakelte Geschichten.

Der ihnen sonst nicht unliebe Schopenhauer sagt sehr richtig: „Es ist dem Kunstwerk wesentlich, die Form allein, ohne die Materie, zu geben, und zwar dies offenbar und augenfällig zu tun. Hier liegt nun eigentlich der Grund, warum Wachsfiguren keinen ästhetischen Eindruck machen und daher keine Kunstwerke (im ästhetischen Sinne) sind; obgleich sie, wenn gut gemacht, hundertmal mehr Täuschung hervorbringen, als das beste Bild es vermag, und daher, wenn täuschende Nachahmung des Wirklichen der Zweck der Kunst wäre, den ersten Rang einnehmen müssten." Statt eines dramatisch-psychologischen Konflikts gibt Hauptmann fünf Bilder, worin die Wachsfiguren ja täuschend nachgeahmt, oder, um im höheren Stile des Naturalismus zu sprechen, „aus des Lebens Urkraft heraus gepellt" sein mögen, nur dass alle ästhetisch-dramatische Wirkung darüber zum Teufel geht. Wer Schienthers Buch kennt, wird von Bild zu Bild in peinlichster Weise gestört; wer es nicht kennt, weiß überhaupt nicht recht, was er mit dem Stücke anfangen soll.

Das wird auch keineswegs durch den „starken Erfolg" widerlegt, den das Schauspiel bei der ersten Aufführung gehabt hat. Dieser „starke Erfolg" war von A bis Z gemacht. Schon seit Wochen wurde in die Welt trompetet, die Billetts für die ersten drei bis vier Vorstellungen seien längst vergriffen; als ich, verhindert, der ersten Vorstellung beizuwohnen, die dritte besuchte, waren nicht nur die besten Plätze noch haufenweise zu haben, sondern das nur mäßig gefüllte Haus nahm das Schauspiel mit der gleichgültigsten Kühle auf, trotz der ausgezeichneten, in ihrer Weise ganz unübertrefflichen Darstellung. Einzig nach dem vierten Akte erhob sich lärmender Beifall, ohne jede Spur von Stimmung, nur weil – auch so ein „naturalistisches" Mätzchen! – das Gerücht ins Haus lanciert wurde, der Dichter sei zugegen, und das biedere Publikum ihn zu sehen verlangte. Weit entfernt, dies Publikum als maßgebenden Kunstrichter aufzustellen, erwähne ich seine Haltung in der dritten Vorstellung nur, um festzustellen, was es mit dem „starken Erfolg" der ersten Vorstellung auf sich hatte. Reklameschwindel aufzudecken, gehört zu den ersten Aufgaben der Kritik.

Erfreulich bleibt unter allen Umständen, dass Hauptmann sich von der „Versunkenen Glocke" zum „Fuhrmann Henschel" zurückgefunden hat. Die Theoretiker seiner Kunst werden nun wieder geschwind ihre Hefte umarbeiten müssen, und der Himmel weiß, welche neue Offenbarung – etwa das Prinzip des „Herauspellens"? – sie entdecken. Wer ein wirklicher Freund des Dichters ist, kann nur wünschen, dass er sich als Mann über den lärmenden Chor seiner Korybanten zu erheben weiß, dass er sich in ehrlicher Selbsterkenntnis darüber klar wird, was er leisten kann und was nicht, dass er sich rückhaltlos der Kunst ergibt, der mit müßiger Selbstbespiegelung und geschäftlichem Reklamehumbug nicht gedient ist.

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