Franz Mehring 19060124 Berliner Theater (Gerhart Hauptmann, „Und Pippa tanzt")

Franz Mehring: Berliner Theater

Gerhart Hauptmann, „Und Pippa tanzt"

24. Januar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 597-600. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 328-332]

Es lohnt nicht, diesen begrifflichen Wirrwarr, diesen symbolischen Spuk, diesen windgeblähten leeren Märchensack zu ergründen." Das ist der Ton, aus dem die meisten Kritiker der Tagespresse das „Glashüttenmärchen" in vier Akten besprechen, das Gerhart Hauptmann auf den gesucht-manierierten Titel „Und Pippa tanzt" getauft hat und am 19. Januar zum ersten Male im Lessing-Theater aufführen ließ. Die Kritiker sind diesmal vollkommen in ihrem Recht, und wir würden gern darauf verzichten, ihr mit allem Fug gefälltes Urteil nochmals zu unterschreiben, wenn es uns nicht darum zu tun wäre, ein Unrecht abzuwehren, das sie dem Dichter gleichwohl tun.

Die Heldin des „Glashüttenmärchens" ist die tanzende Pippa, die Tochter eines italienischen Glastechnikers, der in einer Glashütte des Riesengebirges arbeitet. In einer Gebirgsschenke beginnt das Drama; während der Vater Pippas mit ein paar Glasmachermeistern Karten spielt und sie nach Kräften bemogelt, entzückt Pippa durch ihren Tanz gleich ihrer drei: den Glashüttendirektor, den alten Glasbläser Huhn, einen verwilderten Natur- und Waldmenschen, und den reisenden Handwerksburschen Michel, der um die Mitternachtszeit in der Schenke eintrifft. Inzwischen offenbart sich die Mogelei von Pippas Vater; er versucht zu fliehen, wird aber von den Betrogenen auf der Flucht eingeholt und niedergestoßen; seine Hilferufe leeren die Schenke bis auf Pippa und Huhn. Diesen Augenblick benutzt der Waldmensch, um das zarte Mädchen zu ergreifen und sie in seine verfallene Hütte zu schleppen.

Mit dem zweiten Akt geht dann der höhere Märchenzauber an. Pippa ängstigt sich in der graulichen Behausung des Ungetüms, das sie mit unheimlicher Zärtlichkeit behandelt. Jedoch bald kommt der Geselle Michel, klopft an die Tür und bittet um einen Schluck heißen Kaffee und einen Sitz vorm Ofenloch. In „stierer Wut" stürzt der alte Huhn mit einem „schweren Knüttel" hinaus, begnügt sich aber, von Zeit zu Zeit den rätselhaften Ruf Jumalai auszustoßen, während Michel wohlgemut hereinspaziert kommt und, nach allerlei unverständlichen Reden mit Pippa, sich entschließt, mit ihr in ihre Heimat nach Venedig zu wandern.

Die beiden letzten Akte spielen dann ununterbrochen hintereinander fort in einer Gebirgsbaude, wo die – nach dem Theaterzettel – „mystische Persönlichkeit" Wann haust. Sein Zimmer ist mit allerhand Raritäten vollgepfropft, namentlich mit altertümlichen Schiffsmodellen, die von der Decke herabhängen. Wann selbst ist „neunzig oder mehr Jahre alt, aber so, als wenn Alter potenzierte Kraft, Schönheit und Jugend wäre". Der Glashüttendirektor erscheint, und Wann soll ihm offenbaren, wo Pippa steckt. Wann zaubert sie sofort herbei, indem sie hilfeflehend erscheint, denn ihr Michel ist im Schnee steckengeblieben. Wann und der Direktor retten ihn, und der Direktor, nunmehr von seiner Leidenschaft kuriert, verschwindet von der Szene. Dagegen wird Wann von Pippas Zauber ergriffen und bezwingt sich edelmütig in diesem Monolog:


In meine Winterhütte brach der Zauber ein.

Der Weisheit Eiswall räuberisch durchbrach er mir,

Der Goldgelockte. Obdach hab', ich ihm gewährt

Aus väterlicher Seele, alter Tücke voll.

Wer ist der Fant, dass er dies Kind besitzen will,

Das göttliche, das meine Schiffe segeln macht -

Sie knacken, knistern, schaukeln leise hin und her,

Die alten Rümpfe, antiquarisch aufgehängt!

Warum denn setz' ich diesen Michel in mein Schiff,

Anstatt mit ganzer Flottenmacht aussegelnd mir,

Und im Triumph, verlassne Himmel wiederum

Zu unterwerfen, und als Galeone sie voran.

Oh, Eis auf meinem Scheitel, Eis in meinem Blut!

Du taust hinweg vor einem jähen Hauch des Glücks.

Du heiliger Hauch, oh, zünde nicht in meiner Brust

Die Feuersbrunst der Gier und wilden Lüste auf.

Dass ich, Saturn gleich, nicht die eignen Kinder schlucken muss.

Schlaft! Euren Schlaf bewach' ich und bewahre euch das,

Was flüchtig ist. Als Bilder schwebet mir vorbei,

Solang noch Bild, nicht Wesen, meine Seele ist,

Nicht klares, unsichtbares Element allein.

Modert, ihr Rümpfe, und nach neuen Fahrten dürst' ich nicht.


Mehr noch: als der alte Huhn auf der Suche nach Pippa erscheint, ringt Wann den wilden Naturmenschen nieder:


So muss es kommen, ungeschlachter Riese!

Krankes, starkes, wildes Tier – brich du in

Ställe! Raubtierfraß birgt diese eingeschneite

Hütte Gottes nicht!


Die Schmerzensschreie des Gebändigten erwecken selbst Michels und Pippas Mitleid, aber Wann wehrt ihnen, dem Alten zu helfen: „Hier ist keine Gnade! Hier rast der giftige Zahn und der weißglühende Wind, solange er rast! Hier keltern typhonische Mächte den gellenden Qualschrei rasender Gotteserkenntnis. Blind, ohne Erbarmen, stampfen sie ihn aus der heulenden und vor Entsetzen sprachlosen Seele aus." Vielmehr soll Michel hinausgehen und den Tod rufen. Dessen weigert sich Michel, und Wann geht nun selbst. Während er fort ist, fordert Huhn einen Tanz von Pippa. Nach einer Okarina, die Michel spielt, tanzt Pippa immer wilder und bacchantischer, während Huhn tobsüchtig mit den Fäusten den Tanzrhythmus nachtrommelt. Danach sterben Pippa und Huhn, während Michel erblindet und sich allein auf dem Wege nach Venedig weitertastet.

Soviel über die Handlung des Dramas und zugleich einige Proben seiner geschmacklos geschwollenen Sprache. Es leuchtet ein, weshalb die meisten Kritiker überhaupt darauf verzichtet haben, einen Sinn in diesen Unsinn zu bringen. Die wenigen aber, die sich dennoch der Qual unterfingen, haben vom Dichter nicht einmal Dank geerntet. Denn kaum waren ihre geistreichen und scharfsinnigen Deutungsversuche ans Tageslicht gelangt, als Hauptmann sie samt und sonders verleugnete. Er selbst erschloss irgendeinem Interviewer den innersten Schrein seiner Dichterseele und erklärte, unter seiner Heldin Pippa habe er die Schönheit verstanden; von allem übrigen aber gab er ziemlich unumwunden zu, dass er sich darunter eigentlich gar nichts gedacht habe; es seien gaukelnde Träume, wie sie ihm so durch den Sinn gefahren wären.

Genug und schon zu viel von der törichten Sache selbst, zumal da die Kritik der Tagespresse die ästhetische Frivolität Hauptmanns diesmal mit der gebührenden ästhetischen Schärfe gegeißelt hat. Jedoch tut sie oder doch ein Teil von ihr dem Dichter zu viel, wenn sie von seinem „schauerlichen Zusammenbruch" spricht und den unaufhaltsamen Niedergang des kaum erst vierzigjährigen Mannes nicht begreifen kann. Von solchem Niedergang und Zusammenbruch kann unseres Erachtens nur für die gesprochen werden, die in Hauptmann einmal einen zweiten Goethe oder Shakespeare, ein überragendes Genie oder einen Weltdichter gesehen haben. Sie prügeln ihren Götzen, weil er nicht die Hoffnungen erfüllt, die sie unverständigerweise auf ihn setzten.

Hauptmann gehört schon deshalb nicht zu den großen Dichtern, weil sein dichterisches Talent wesentlich anschmiegender Art ist. Er bedurfte immer der Anlehnung an ein größeres und stärkeres Talent, um sicheren Schrittes zu gehen. Die „Patenstücke" seiner einzelnen Dramen sind ja oft genug aufgezählt worden. Seine Stärke war immer die feine Arbeit im kleinen, und es war der große Glückszufall seines Lebens, dass er auf Arno Holz stieß, der ihn auf das Gebiet des Naturalismus trieb; auf ein beschränktes immerhin, aber ebendeshalb für Hauptmann in erster Reihe geeignetes Gebiet. Auf ihm hat er geschaffen, was in der deutschen Literatur bleiben wird, so den „Biberpelz" und namentlich die „Weber", sein Meisterwerk, bei dem auch sonst vieles seiner Eigenart fördernd entgegenkam. Aber wie die „Weber" freigebig Hauptmanns ganzes Talent zeigten, so zeigte gleich darauf der „Florian Geyer" mit unerbittlicher Grausamkeit die Grenzen dieses Talentes. Vor großen historischen und philosophischen Stoffen versagt Hauptmann vollständig; da ist er niemals über die Sekunda hinausgekommen, wie ein bürgerlicher Kritiker ganz richtig sagt.

Ein genialer Dichter ist Hauptmann schon deshalb nicht, weil ihm das unbewusst sichere Schaffen des Genius völlig fehlt. Er hat sich von Anfang an – wie sein trivial-schwulstiges „Promethidenlos" zeigt – in verhängnisvoller Weise über die Art und die Schranken seiner Begabung getäuscht. Erst fremder Einfluss brachte ihn auf die richtige Bahn, hat ihn dann aber auch wieder in die Irre geleitet. Wie es das größte Glück seines Lebens war, mit Holz zusammenzutreffen, so war es sein größtes Unglück, in die Hände Brahms und überhaupt der Schererschen Schule zu geraten. Ohne die ästhetischen und literarischen Verdienste dieser Schule zu bestreiten, war sie von vornherein allen revolutionären Tendenzen der Zeit fremd und konnte dem Dichter am wenigsten geben, was sie selbst nicht besaß, aber was er am notwendigsten brauchte: nämlich historische und philosophische Bildung. Dagegen machte sie ihn zum Meister- und Musterdichter der Zeit, mit aller – um uns höflich auszudrücken – rührigen Betriebsamkeit einer eingeschworenen Schule. Das ist jedoch für Dichternaturen, wie Hauptmann eine ist, für Dichternaturen, denen die unablässige Selbstkritik die unerlässliche Vorbedingung alles Gelingens sein sollte, das schlimmste Gift. So ist in Hauptmann das Selbstbewusstsein erwachsen, das ihn von Niederlage zu Niederlage geführt und endlich dazu verführt hat, in diesem „Glashüttenmärchen" einen Schmarrn zu veröffentlichen, der selbst seinen eifrigsten Bewunderern die Augen zu öffnen beginnt.

Gelänge es dem misslungenen Werke, seinem Schöpfer selbst auch die Augen zu öffnen, so brauchte man von einem „schauerlichen Zusammenbruch" Hauptmanns nicht zu sprechen. Wer vor zwanzig Jahren Hauptmanns „Promethidenlos" las, diese unglaublichsten Trivialitäten, eingehüllt in die geschwollensten Phrasen, der hätte diesem Dichter niemals eine bedeutende Zukunft prophezeit. Gleichwohl hat Hauptmann danach die „Weber" und den „Biberpelz" geschaffen. Schlimmer als das „Promethidenlos" ist das „Glashüttenmärchen" aber auch nicht. Nicht sowohl ein Verfall spricht sich darin aus, als die Tatsache, dass Hauptmann völlig ungenießbar wird, wenn er zu philosophieren beginnt. Aber damit ist nicht gesagt, dass er auf dem Gebiet, wo er wirklich künstlerisches Vermögen besitzt, nicht noch manches Schöne schaffen kann.

Es kommt darauf an, ob sich Hauptmann noch von dem blinden Selbstvertrauen befreien kann, in das ihn eigene Torheit und fremde Schuld gewiegt haben. Und darüber zu urteilen, ist nicht des Kritikers Amt.

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