Franz Mehring 19000206 Berliner Theater (Hauptmann, „Schluck und Jau")

Franz Mehring: Berliner Theater

Hauptmann, „Schluck und Jau"

6. Februar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 631-634. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 312-316]

Die dramatische Produktion der Gegenwart wird in erster Reihe durch ihre Armut gekennzeichnet, und dies Kennzeichen tritt in dem gegenwärtigen Winter noch greller hervor als in den vorhergehenden Jahren. Allerdings ist es nur Armut im qualitativen, nicht in quantitativem Sinne; neue Stücke jagen rastlos über die zahlreichen Bühnen der Reichshauptstadt; aber sie schwinden fast alle ebenso schnell wie sie kommen, und nur ein winziger Prozentsatz bleibt etwas länger am Leben, mehr oder weniger achtbares Mittelgut, das einen bleibenden Wert auch nicht beanspruchen kann.

Mit um so größeren Erwartungen wurde dem neuen Possenspiel entgegengesehen, das Gerhart Hauptmann am 3. d. Mts. im Deutschen Theater aufführen ließ. Es führt den Titel „Schluck und Jau", einen verheißend genug klingenden Titel, der von einer unleidlichen Reklame bis zur Bewusstlosigkeit ausgebeutet wurde, um die Spannung des kunstliebenden Publikums auf langsamem Feuer zu braten. Überhaupt – die Hauptmannsche Reklame! Der Bartkünstler Haby irrt sehr, wenn er in seinen Annoncen stolz verkündet: Es ist erreicht! Würde er eine kleine Privatlektion bei Herrn Gerhart Hauptmann nehmen, so würde er reumütig erkennen, dass er noch lange nicht den Gipfel der Reklamekunst erreicht hat. Es ist eine Sache von langem Atem: sobald im wunderschönen Mai das Theaterjahr abläuft, tauchen in den willigen Blättern die ersten Notizen auf über die Fülle der Schätze, die im kommenden Theaterjahr von Hauptmann zu erwarten sind. Zunächst werden fünf oder sechs Possen genannt, die der „vielseitige und ungemein produktive" Dichter unter der Feder hat. Dann schmilzt die Zahl dieser Meisterwerke allmählich zusammen, während sich die anpreisenden Hinweise auf das Meisterwerk der Meisterwerke häufen, das im Beginn des neuen Theaterjahrs von der ganzen Herrlichkeit übriggeblieben ist. Nun wird darüber in dunklen und geheimnisvollen Runen geflüstert, wie über das verschleierte Bild von Sais; auch lüftet man den Schleier wohl vom Ohrzipfel oder von der Nasenspitze; der Tag der Aufführung wird zehnmal angesagt und zehnmal abgesagt, natürlich immer aus Gründen, die ein strahlendes Licht auf das Werk werfen; die Künstler, denen das unsterbliche Los zufällt, die „ungemein schwierigen, aber auch ungemein dankbare Rollen zu kreieren", erscheinen in bengalischer Beleuchtung, und endlich dröhnt der letzte Paukenschlag über das „literarische Ereignis", am Morgen des Tages, an dessen Abend das große Ei gelegt werden soll.

Diesmal aber war es ein großes Windei: „Schluck und Jau" ist eine neue Variation auf ein uraltes Motiv der Weltliteratur, auf den Bettler, den eine fürstliche Laune auf einen Tag zum König macht, um ihn dann wieder, etwa um ein Almosen bereichert, in der Masse der Bettler verschwinden zu lassen. In den Kinderzeiten der Geschichte entstanden, hat sich dies Motiv nur noch im Kindermärchen seine naive Frische gewahrt; wo es in historisch entwickelten Jahrhunderten darüber hinaus dringt, wird es sehr fade, es sei denn, dass es einen bitteren und nichts weniger als künstlerischen Beigeschmack erhält. Die großen Dichter der Weltliteratur, die sich seiner bemächtigt haben, sind denn auch immer darauf bedacht gewesen, es künstlerisch zu erfrischen und zu vertiefen, indem sie in der verkehrten Welt der Dichtung sich die Verkehrtheit der wirklichen Welt spiegeln ließen. So Calderón, Cervantes, Holberg und andere. Ein berühmtes Beispiel gibt es freilich auch für das Gegenteil, die Einleitungsszenen zu Shakespeares „Zähmung der Widerspenstigen", wo ein Lord, rein um des possenhaften Ulkes willen, ohne allen, um mit Grabbe zu sprechen, „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" einen betrunkenen Kesselflicker auf sein Schloss schleppen und dort als Schlossherrn behandeln lässt. So wenig nun aber Shakespeares Zeit an derben und selbst rohen Spaßen sich stieß, so war es doch schon ihrem Geschmack schwer erträglich, einen albernen Junker allzu billige und zugleich brutale Scherze mit einem armen Teufel treiben zu sehen; deshalb benutzt Shakespeare wohlweislich das Motiv nur in ein paar schnell hingeworfenen Eingangsszenen und lässt seinen Lord selbst sich entschuldigen:


Es ist ein schön ausbündiger Zeitvertreib,

Wird er gehandhabt mit bescheidenem Maß.


Wenn nun Hauptmann dieses Motiv aufgriff, so war das selbstverständlich sein gutes Recht, und wäre er der ganz große Dichter, den seine kritiklosen Bewunderer in ihm sehen, so böte unsere Zeit ihm wahrlich überreichen Stoff, den alten Schlauch mit neuem Wein zu füllen. Wer jedoch seine dichterische Entwicklung mit kritischem Blicke verfolgt hat, konnte keinen Augenblick daran zweifeln, dass er auf den Spuren der Großen wandeln würde, die vor ihm denselben Weg gegangen sind, und sobald man das erste Hundert der frostig klappernden Verse genossen hat, weiß man auch, dass diesmal Shakespeare der Erwählte ist. Die Wahl war gewissermaßen von selbst gegeben, sobald Hauptmann darauf verzichtete, das alte Motiv neu zu fassen, allein missverstanden hat er sein Muster doch, was ihm bekanntlich nicht zum ersten Male passiert. Er hat das „bescheidene Maß" übersehen, das Shakespeare so dringend anrät; was bei diesem in zwei flüchtigen Szenen schnell vorübergleitet, das wird bei Hauptmann in sechs Akten breitgetreten, von denen zum Glücke für die Besucher des Deutschen Theaters nur fünf auf die Bühne gelangen. Das Stück erlitt eine schwere Niederlage, obgleich eine ebenso zahlreiche wie fanatische und ebenso fanatische wie taktlose Claque für Hauptmann kämpfte.

Eine kritische Analyse des Machwerks würde zwecklos sein. Etwa ganz im Anfang gelingen noch einige dürftige Späße von flüchtiger komischer Wirkung, weniger durch den Witz des Dichters, als durch die Kunst der Schauspieler, dann geht es in einem Sumpfe abgeschmackter Langeweile, aus dem man erst im vierten Akte wieder auf eine Art festen Landes gerät, nämlich auf den Sand des Zirkus, wo die Clowns ihre Purzelbäume schießen. Die gipfelnde Szene dieses Aktes, die den Bettler Schluck als verkleidete Fürstin dem Bettler Jau als verkleidetem Fürsten zuführt, müsste auf der letzten Vorstadtbühne ausgepfiffen werden; ein Theater von künstlerischen Ansprüchen wird durch sie einfach entwürdigt. So kläglich wie die Führung der Handlung ist die Gestaltung der Charaktere, die ganze Hofgesellschaft wird über denselben konventionellen Kamm geschoren; höchstens an den beiden Vagabunden, namentlich an Schluck, merkt man einige Arbeit des Dichters, wenn anders nicht auch hier die ausgezeichnete Darstellung der Rollen einen trügerischen Schein hervorgerufen hat. Der letzte Akt, wo die beiden Vagabunden wieder im Straßengraben liegen, bringt dann noch eine Art Moral oder Philosophie des Stückes; Jau findet, dass der Landstreicher eigentlich bei Lichte besehen so glücklich sei wie der Fürst. Es ist eine ebenso wohlfeile wie ehrwürdige Weisheit, aber immerhin – hätte Hauptmann sie in seinem „Possenspiel" künstlerisch zu gestalten gewusst, so könnte man sich's gefallen lassen. Jedoch so nachträglich angeflickt, macht die moralphilosophische Maxime den Eindruck, als würde auf eine Flasche voll gewöhnlichen Fusels nachträglich ein Etikett geklebt, das den Inhalt wenigstens für sauren Landwein erklärt.

Hat man die Marter hinter sich, so fragt man unwillkürlich: Besitzt Hauptmann unter seinen zahlreichen Bewunderern nicht einen ehrlichen Freund, der ihn rechtzeitig warnte, diesen Schmarren auf die Bühne zu bringen? Oder wenn Versuche dieser Art gemacht worden sein sollten, worauf die Streichung eines Aktes und ein anscheinend nachträglich entstandener, auf mildernde Umstände plädierender Prolog hindeuten – sind sie an Hauptmanns Selbstüberhebung gescheitert? Sei dem nun so oder so: die Schlacht ist verloren, und die kleinen Mittelchen, womit die Hauptmann-Clique auch jetzt noch arbeitet, werden sie nicht wiederherstellen. Die bei aller Einseitigkeit ehrlichen Bewunderer des Dichters fühlen sich wie durch einen betäubenden Schlag getroffen; sie glauben, vor einer völligen Erschöpfung seiner poetischen Fähigkeiten zu stehen. Diese Sorge wäre auch wohl begründet, wenn Hauptmann das wäre, wofür sie ihn halten: ein großer oder gar ein größter Dichter. Die Kleist und Hebbel und selbst die Goethe und Shakespeare haben manches halb oder ganz Verfehlte geschaffen, aber läppisch sind sie nie geworden, und die bare Ohnmacht grinst nirgends aus ihren Dichtungen. Spuren der Kraft finden sich auch noch in dem Schwächsten, was sie geschrieben haben. Misst man Hauptmann mit diesem Maßstab, so ist nichts mehr von ihm zu erwarten.

Allein wir anderen, die wir bei der lebhaftesten Anerkennung dessen, was Hauptmann wirklich geleistet hat, doch auch ihm gegenüber nie auf das kritische Urteil verzichtet haben, brauchen noch nicht zu verzagen; indem wir den Stab über seine traurige Missgeburt brechen, geben wir noch nicht den ganzen Dichter auf. Hauptmann ist kein schöpferisches Genie, nicht einmal ein sehr starkes Talent; die dichterische Produktion solcher verhältnismäßig schwacher, wesentlich eklektischer, auf fremde Muster angewiesener Kräfte ist aber gewöhnlich sehr ungleich. Es kommt bei ihnen zumeist auf den günstigen Stoff und die günstige Stunde, auf die Selbstkritik und Selbstzucht, auf die gesammelte Willenskraft an, die auch mäßige Gaben zu entwickeln und in fester Hand zu konzentrieren versteht. Wo das Wasser durch ein weitläufiges Druck- und Pumpwerk gehoben werden muss, sprudelt es nicht so frisch und gleichmäßig wie ein Wiesenquell. Freilich hat Hauptmann bei aller Ungleichheit seines dichterischen Schaffens so gänzlich wie in „Schluck und Jau" doch niemals vorbeigeschossen, allein der Weihrauchsqualm, womit ihn eine geschäftige Clique umnebelt, ist auch nie so dick gewesen wie in den letzten Jahren. Ohne die bedeutsame Um- und Vorsicht, womit Hauptmann ehedem Ibsen, Tolstoi, Molière und wen sonst nachgeahmt hat, wollte er diesmal Shakespeare nachahmen und hat dabei von der Keule des Riesen einen Schlag erhalten, der ihm hoffentlich ebenso heilsam werden wird, wie er leider verdient gewesen ist.

Dem unglaublich übertriebenen Geniekultus eines geschäftsmäßigen Cliquen- und Klaquenwesens hat Hauptmann vor allem seinen allmählichen Niedergang zu danken, und deshalb wäre es ganz falsch, aus Rücksicht auf seine früheren Verdienste mit schonendem Schweigen über seinen neuesten Missgriff hinwegzugehen. Bei aller Berechtigung, die diese Auffassung sonst haben würde, so ist unter den obwaltenden Umständen dem Dramatiker Hauptmann doch allein mit scharfer Kritik gedient. Er würde sie nur auf seine eigenen Unkosten missachten. Tiefer als mit „Schluck und Jau" geht es nicht mehr hinab, und noch einen oder zwei solcher Stöße hält auch der stärkste Ruf nicht aus. Dagegen liegt kein wirklicher Grund vor, zu befürchten, dass Hauptmann, wenn er sich auf sein besseres Teil und seine bessere Vergangenheit zurückbesinnt, nicht auch wieder den Weg nach oben finden wird.

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