Franz Mehring 19001226 Berliner Theater (Gerhart Hauptmann „Michael Kramer" – Otto Ernst „Flachsmann als Erzieher“)

Franz Mehring: Berliner Theater

Gerhart Hauptmann „Michael Kramer" – Otto Ernst „Flachsmann als Erzieher“

26. Dezember 1900

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 407-410. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 317-319, 414 f.]

Mit seinem neuesten Werke „Michael Kramer", einem „Künstlerdrama", wie es sich betitelt, hat Gerhart Hauptmann wieder ausgeglichen, was er mit seinem Scherzspiel „Schluck und Jau" gesündigt hatte. Nicht als ob dies Drama, das am 21. Dezember zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde, in irgendeinem Sinne ein Meisterwerk wäre oder sich auch nur mit den glücklicheren Würfen Hauptmanns vergleichen ließe, aber es ist eine ehrliche Arbeit, die in ihrem Gelingen und Misslingen die Spuren des Dichters zeigt, und dadurch gewiss nicht schlechter geworden ist, dass sie, zum Unterschied von Hauptmanns letzten Dramen, ohne den Vorspann einer peinlichen Zeitungsreklame auf die Bühne gelangt ist. Was dem Dichter selbst zur Ehre gereicht, der redliche Wille, um so höher zu steigen, je tiefer er gefallen war, ist nun freilich bis zu einem gewissen Grade seiner Dichtung verhängnisvoll geworden. Der dramatische Konflikt soll aus der innerlichen Tiefe zweier Künstlercharaktere gegriffen werden: des Vaters, der ein Talent, der ein ernster, knorriger, pflichtbewusster Charakter, des Sohnes, der ein Genie, aber verbummelt und verkommen ist. Alle anderen Charaktere stehen im Hintergrund und sind jedenfalls ohne jeden Anspruch auf Originalität entworfen, wie denn auch die Handlung ziemlich dünn und dürftig ist. Das dramatische Interesse konzentriert sich durchaus darin, wie dieser Vater und dieser Sohn miteinander fertig werden, und zwar als Künstler. Denn hierauf hat es der Dichter abgesehen, und nicht auf den altbackenen Gegensatz zwischen beschränkt soliden Vätern und genial liederlichen Söhnen.

Eben dies aber, was Hauptmann herausbringen wollte, hat er doch nicht herausgebracht. Nicht zum geringsten liegt die Schuld daran in den Dingen selbst; es ist bekannt, wie schwer alles, was sich „Künstlerdrama" nennen lässt, das heißt also, wie schwer sich alle Bühnenwerke, deren dramatischer Springpunkt das innerliche Schaffen von Künstlercharakteren sein soll, im Lampenlicht verkörpern lassen. Man hört dann sehr viel von künstlerischen Dingen, aber man sieht sehr wenig davon: die Tragik löst sich in Rhetorik auf, oder der Künstler wird zum beliebigen Dutzendmenschen; nicht mehr Raffael oder Rembrandt steht vor uns, sondern Hinz oder Kunz, der Raffaels oder Rembrandts Maske vorgebunden hat. So bleibt in „Michael Kramer" schließlich auch nur ein polternder Alter und ein leichtfertiger Bengel übrig; dass der eine mit eiserner Energie und keuscher Wahrhaftigkeit an einem Christusbild malt und der andere glänzende Skizzen entwirft, müssen wir dem Dichter auf sein Wort glauben; die dramatische Entwicklung vollzieht sich nicht durch diesen Hebel, wie es doch in einem „Künstlerdrama" sein sollte.

Hauptmann hat nun obendrein die schon in der Sache selbst liegende Schwierigkeit dadurch noch bedeutend gesteigert, dass er den jungen Kramer als einen gar zu läppischen und windigen Gesellen darstellt. Von diesem kläglichen Hanswurst zu glauben, dass er ein künstlerisches Genie sei, geht über das Maß der psychologischen Glaubwürdigkeit hinaus, an das der dramatische Dichter gebunden ist. Freilich leidet der junge Kramer unter einer abstoßenden Missgestalt; äußerlich ein Trottel, wird er es auch innerlich. Allein diese Rechnung ist immer ohne das Genie gemacht, das er doch besitzen soll. Ein Mensch, der nur noch über einen Funken Genie, ja auch nur über einen Hauch ästhetischen Geschmacks verfügt, kann nicht dermaßen, um einen berlinischen Lokalausdruck zu gebrauchen, zum „Fatzke" werden. Namentlich der dritte Akt, wo der junge Kramer sich von betrunkenen Philistern in einer Kneipe hänseln lässt, um dann vor Scham und Reue ins Wasser zu gehen, wurde bei der ersten Aufführung mit Recht unter eisigem Schweigen abgelehnt. Es ist unmöglich, hier die Empfindung zu haben, dass sich ein tragisches Schicksal vollzieht; man sieht vielmehr einen Narren, der sich von bezechten Spießbürgern hänseln lässt und schließlich wütend von dannen rennt, um sich morgen wieder hänseln zu lassen, wie er sich gestern und vorgestern hänseln ließ.

Was wir dabei empfinden sollen, erfahren wir erst im vierten und letzten Akte, aus der Totenklage des Vaters: „Was haben die Gecken von dem da gewusst: diese Stöcke und Klötze in Mannesgestalt! Von dem und von mir und von unseren Schmerzen! ? Sie haben ihn mir zu Tode gehetzt. Erschlagen, wie so 'n Hund. Das haben sie, denn das kann ich wohl sagen." Diese Rede des klagenden Vaters müssen wir ihm wieder auf sein Wort glauben; in den drei ersten Akten hat der Dichter „unsere Schmerzen" eben nicht plastisch darzustellen gewusst oder doch nur so, dass der Kummer des Vaters über einen unverbesserlichen Liederjan von Sohn offenbar wurde, aber nicht der Schmerz des Künstlers über den tragischen Untergang eines künstlerischen Genies.

Leidet der dritte Akt mit seinen salzlosen Kneipenszenen an ungewöhnlicher Plattheit, so der vierte Akt, der im Wesen der Sache nur ein Monolog des Vaters an dem Sarge des Sohnes ist, an ungewöhnlicher Verstiegenheit. Es fehlt nicht an manchem ergreifenden Akzent, aber das Dunkle, Mystische und sozusagen auch Renommierende überwiegt: „Was jetzt auf seinem Gesicht liegt, das alles hat in ihm gelegen. Das fühlt' ich, das wusst' ich, das kannt' ich in ihm und konnte ihn doch nicht heben, den Schatz. Nun hat ihn der Tod gehoben, nun ist alles voll Klarheit um ihn her, das geht von ihm aus, von dem Antlitz … Man wird überhaupt so klein: Das ganze Leben lang war ich sein Schulmeister. Ich habe den Jungen malträtiert, und nun ist er mir so ins Erhabene gewachsen. Ich hab' diese Pflanze vielleicht erstickt. Vielleicht hab' ich ihm seine Sonne verstellt; dann wär' er in meinem Schatten verschmachtet. Aber er nahm mich nicht an, und wenn ihm vielleicht der Freund gefehlt hat, ich durfte der Freund nicht sein … Reue? Reue kenne ich nicht! Aber ich bin zusammengeschrumpft. Ich bin ganz erbärmlich vor ihm geworden. Ich sehe zu diesem Jungen hinauf, als wenn es mein ältester Ahnherr wäre! … Wo sollen wir landen, wo treiben wir hin? Warum jauchzen wir manchmal ins Ungewisse. Wir Kleinen, im Ungeheuren verlassen? Als wenn wir wüssten, wohin es geht. So hast du gejauchzt! Und was hast du gewusst? Von irdischen Festen ist es nichts! Der Himmel der Pfaffen ist es nicht! Das ist es nicht und jen's ist es nicht, aber was … (mit gen Himmel erhobenen Händen) was wird es wohl sein am Ende???" Mit dieser resignierten Frage schließt das Drama.

Es gipfelt offenbar in seinem vierten Akte. Nicht minder offenbar hat Hauptmann in diesem Akte sein Bestes geben wollen und mehr, als er bisher gegeben hat. Er verliert sich in einem Tiefsinn, worin einfach, menschlich, natürlich zu sprechen wohl einem Goethe und einem Shakespeare, aber ebendeshalb ihm nicht gegeben ist. Wo der Dramatiker Hauptmann zu philosophieren beginnt, bleibt er immer im Gespreizt-Trivialen stecken; ihm fehlt die geschlossene Weltanschauung, die den großen Dichter macht. Die bedeutenden Erfolge, die er mehr noch seiner Energie und seinem Fleiße, als der Fülle und der Kraft seiner ursprünglichen Begabung zu danken hat, lassen es wohl erklärlich erscheinen, dass er auch nach dem höchsten Lorbeer trachtet, aber die Schranke, die ihn von diesem Lorbeer trennt, ist bei seinem zwölften Drama, eben „Michael Kramer", um kein Haar weniger breit als bei seinem ersten.

Das entgegengesetzte Bild wie Hauptmanns Drama bietet die Komödie: „Flachsmann als Erzieher", die Otto Ernst am ersten Weihnachtsfeiertag im Lessing-Theater aufführen ließ. Fasste sich Hauptmann nach seinem Gehenlassen in seiner vorjährigen Posse nun um so fester zusammen, und hinterlässt „Michael Kramer" trotz aller Schwächen doch einen ernsten und nachdenksamen Eindruck, so lässt sich Otto Ernst, der bis dahin als ein nicht gerade großes, aber in bescheidenen Grenzen doch echtes Dichtertalent gelten konnte, in seiner sogenannten Komödie bis zur Bewusstlosigkeit gehen. Es ist ein gar trauriges Machwerk, und nur das, was Otto Ernst als Lyriker und Satiriker bisher geleistet hat, kann rechtfertigen, dass wir die dramatische Missgeburt an dieser Stelle kurz besprechen.

Flachsmann als Erzieher" soll eine Satire auf das heutige Schulwesen sein, ist aber nur eine wie mit der Axt zugehauene Karikatur davon. Jürgen Hinrich Flachsmann hat sich durch gefälschte Zeugnisse zum Leiter einer Knabenvolksschule emporgearbeitet; von allem, was zu seinem Beruf gehört, besitzt er keine blasse Ahnung, er schindet Geld, macht unzüchtige Attentate auf die Mütter seiner Schüler, belobt und fördert die Bösewichter und Intriganten, misshandelt und quält die Guten und Tüchtigen unter den Lehrern der von ihm geleiteten Schule. Besonders ein junger Lehrer Flemming, ein wiedergeborener Pestalozzi, ist der Gegenstand seines Hasses, und er ist gerade dabei, dieser Lichtgestalt den Hals umzudrehen, als der Regierungsschulrat auf der Bildfläche erscheint, mit dem genialen Blicke der hohen Obrigkeit die Guten wie die Schlechten erkennt, den Betrüger Flachsmann mit seinen gefälschten Papieren zum Tempel hinauswirft und an dessen Stelle den Pestalozzi-Flemming zum Leiter der Schule bestellt. Die naive Kindlichkeit dieser dramatischen Aktion könnte die Kritik beinahe entwaffnen, wenn sich mit der Kindlichkeit nicht doch ein gewisses unangenehmes Raffinement vermischte: wer Satiren auf die heutigen Schulzustände schreiben will und dabei in den Regierungsschulräten die fleischgewordene Weisheit, in den Lehrern aber, von einzelnen Lichtgestalten abgesehen, einen Haufen stumpfsinniger Skatdrescher, geistloser Pedanten, gesinnungstüchtiger Streber, böswilligster Verleumder erblickt, der muss eigentümlich konstruierte Augen im Kopfe haben.

Gleichwohl hatte das Stück bei dem Weihnachtspublikum des Lessing-Theaters einen rauschenden Erfolg, einen fast so rauschenden Erfolg, als wäre es ein Schwank aus Blumenthal-Kadelburgs Fabrik1. Und wirklich hat Otto Ernst ungefähr nach demselben Leisten gearbeitet wie diese Klassiker. Als erfahrene Weltmänner stellen sie sich nicht mehr so an, als wollten sie eine aus den Fugen gegangene Welt wieder einrenken, was Otto Ernst noch für nötig hält, dagegen ist ihre technische Mache viel ausgebildeter. Aber sonst ist es ziemlich dieselbe Geschichte: ein Dutzend gute und einige Dutzend schlechte Witze über das Stück verstreut, allerlei Schulschnurren, die von Generation zu Generation ihre zwerchfellerschütternde Wirkung erprobt haben, einzelne drastisch in krasser Übertreibung herausgearbeitete Charaktere und Szenen, unverzuckerte Grobheiten, die sich die bösen von den guten Menschen sagen lassen müssen und so weiter. Dramatische Gestaltungskraft besitzt Otto Ernst sowenig wie Blumenthal und Kadelburg, aber er besitzt literarisches Talent genug, um die uralten Ingredienzien der Possenfabrikation zu einem neuen Brei zusammen zu rühren, der dem heutigen Bourgeoispublikum trefflich mundet.

Schade um den Dichter, der dabei verlorengeht. Wir sind weit entfernt zu behaupten oder auch nur zu glauben, dass sich Otto Ernst aus tadelnswerten Beweggründen, um der äußeren Erfolge willen zum theatralischen Handwerker entwickelt hat. Seine dichterische Produktion war niemals durch besondere Feinheit oder Tiefe ausgezeichnet; sie hatte immer ein wenig von der banalen und trivialen Art dessen, was man gesunden Menschenverstand zu nennen pflegt; trieb ihn sein Ehrgeiz einmal auf die Bühne, so lässt sich wohl verstehen, wie er auf die Arbeit mit der Holzaxt verfallen ist. Aber eins hängt sich dann ans andere, und je mehr Beifall Otto Ernsts Art findet, umso unweigerlicher wird der Dichter vor dem Macher kapitulieren. Täuschen wir uns gleichwohl, und findet sich Otto Ernst von diesen verhängnisvollen Irrwegen wieder zurück, so soll es uns umso lieber sein.

1 Mehring spielt auf die von Oskar Blumenthal und Gustav Kadelburg gemeinsam serienweise verfassten kitschigen Schwänke und Lustspiele an, wie „Großstadtluft", „Der Herr Senator", „Im weißen Rössl" und viele andere.

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