Franz Mehring 19090319 Der neueste Hauptmann

Franz Mehring: Der neueste Hauptmann

19. März 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 935/936. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 336]

Wie alljährlich, so hat Gerhart Hauptmann auch in diesem Winter ein neues Drama ans Licht der Bühne gebracht und wie schon seit manchem Jahre einen mehr oder minder märchenhaften Stoff gewählt – diesmal die mittelalterliche Mär der Griseldis –, um seine modernen Gefühle hinein zu geheimnissen. Aus Achtung vor dem Dichter der „Weber" haben wir bisher von diesen dramatischen Experimenten eingehendere Notiz genommen, obgleich es im Grunde Raum- und Zeitverschwendung war, über Dinge zu grübeln, die der Dichter vermutlich selbst nicht verstanden hat, zumal da ihr einziger Vorzug darin bestand, dass sie nach acht Tagen von aller Welt vergessen waren.

Auch über die Ursachen des traurigen Verfalls, denen dieser Dichter erlegen ist, der einst mit so frohen und stolzen Verheißungen begann, haben wir uns oft genug ausgesprochen. Die Hoffnung, dass er sich noch einmal aufraffen werde, ist heute auf den Nullpunkt gesunken; da er unmöglich einen perversen Genuss darin finden kann, jährlich ein totes Kind zur Welt zu bringen, so muss er nicht mehr fähig sein, lebende Kinder zu erzeugen. Was uns in dieser Ansicht bestärkt, ist die Taktik seines eifrigsten und unermüdlichsten Bewunderers, des Herrn Brahm vom Lessing-Theater, der die Eintrittspreise für die erste Aufführung des neuen Dramas von Hauptmann verdoppelt hat, in der Voraussicht, dass es kaum mehr als die drei üblichen Respektvorstellungen erleben werde.

Wird das Geschäft in dem Maße raffinierter, wie die Dichtung tiefsinniger wird, so ist es wohl an der Zeit, endlich Schicht zu machen.

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