Franz Mehring 18961203 Ein Märchendrama

Franz Mehring: Ein Märchendrama

3. Dezember 1896

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 347-349. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 303-306]

Es ist ein rechtes Elend mit der modernen Kunst. Wir möchten so gern ihre hehren Geheimnisse ergründen, so gern ihre erhabenen Geistesflüge bewundern, aber in all' unserer Rückständigkeit wird es uns so unendlich schwer. Und dabei lassen es ihre Bewunderer nicht einmal daran fehlen, uns den Star zu stechen.

Die seit kurzem erscheinende parteigenössische Monatsschrift „Neuland", die „in der Erziehung der Arbeiterschaft zum Verständnis der zeitgenössischen Kunst gerade vom Standpunkte des Klassenkampfes aus eine hochbedeutsame Aufgabe von nicht zu unterschätzender Tragweite" sieht, macht uns wegen der anspruchslosen Bemerkungen, die wir kürzlich in der „Neuen Zeit" über Kunst und Proletariat veröffentlicht haben1, den harten Vorwurf, dass wir „über der Beschäftigung mit den Werken einer wichtigen, aber vergangenen Kunstperiode die Fähigkeit verloren hätten, mit eigenen Augen unbefangen zu sehen". Dieser Vorwurf bezieht sich darauf, dass wir verlangt hatten, die moderne Kunst solle, wenn sie wirklich parteilos sein wolle, doch nicht bloß die alte vergehende, sondern auch die neue entstehende Welt schildern, sie solle doch auch einmal das arbeitende und kämpfende Proletariat zu finden wissen, nachdem sie unzählige Male das Lumpenproletariat im Bordell und in der Schnapskneipe zu finden gewusst habe. „Neuland" legt diese Ansicht dahin aus, dass wir gefordert hätten, „Zukunftsmenschen auf die Bühne zu stellen, überhaupt die Zukunft positiv zu schildern", und im Namen der „Modernen" lehnt es diese Zumutung stolz ab. Schön! Wenn wir in unserer „Befangenheit" die „neue Welt" schon seit dreißig Jahren leben und schaffen sehen, wenn wir in der revolutionären Arbeiterbewegung des neunzehnten Jahrhunderts die größte Erscheinung der Weltgeschichte erblicken und das bescheidene Verlangen stellen, eine Kunst, die modern oder gar eine große Kunst sein wolle, solle sich aus nichts weniger als erhebenden Beweggründen doch nicht um eine solche Erscheinung herumdrücken, dann sind wir mit unheilbarer Blindheit geschlagen, und der Klassenkampf wird erst auf die Beine kommen, wenn das klassenbewusste Proletariat zum Verständnis der modernen Kunst erzogen wird. Beispielsweise zum Verständnis der Märchendramen von Gerhart Hauptmann: deren neuestes, die „Versunkene Glocke", gestern im Deutschen Theater zum ersten Male aufgeführt wurde.

Dies Märchendrama wird die höchste Bewunderung unserer Freunde von „Neuland" erregen. Gerhart Hauptmann lässt sich nicht mit „Zukunftsmenschen" ein, nicht einmal mit Gegenwarts-, ja auch nicht mit Vergangenheitsmenschen. Die Hauptpersonen des Stückes sind „die alte Wittichen", eine Hexe, „Rautendelein, ein elbisches Wesen", „der Nickelmann, ein Elementargeist", „ein Waldschratt: faunischer Waldgeist", „vier Elfen" und ein Haufe Zwerge, Holzmännerchen und Holzweiberchen. Die „handelnden Menschen" haben rein episodische Rollen – mit der Ausnahme des Glockengießers Heinrich, der als Spielball jener über- oder unterirdischen Wesen dient. Im ersten Akt wird er in einen Feuerzauber gesponnen, im zweiten Akt küsst ihm Rautendelein die Augen wach zu geheimnisvollen Blicken in das Weltall, im dritten Akt kommandiert er allerlei Gezwerg in einer phantastischen Eisenhütte, im vierten Akt erscheinen ihm die Gespenster seiner toten Kinder, im fünften Akt gibt ihm die alte Wittichen allerlei Zaubertränke ein. Dass der arme Kerl nach all diesen Pferdekuren sich hinlegt und stirbt, zur Strafe dafür, dass er um des Teufelsspuks willen ein braves Weib und unschuldige Kindlein verlassen hat, versteht sich am Rande. „Moralisches Traktätchen", liebes „Neuland"?

Eine dramatische Kritik dieses Dramas ist natürlich unmöglich. Seitdem ein gewisser Aristoteles vor einigen tausend Jahren oder, um „moderner" zu bleiben, ein gewisser Lessing vor hundert Jahren über Dramaturgie geschrieben haben, ist es zum ästhetischen Gemeinplatze geworden, dass es das Drama nicht mit Engeln oder Teufeln zu tun hat, sondern mit Menschen, dass „die Bewegungsgründe zu jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und Meinungen nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters genau gegeneinander abgewogen sein", dass „jene nie mehr hervorbringen müssen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen können", dass mit einem Worte ein auf „moralischen Wundern" aufgebautes Drama das widrige Zerrbild eines Dramas ist. Selbst ein so verbiesterter Romantiker wie Fouqué gab im Jahre 1811 sein Märchen „Undine" nicht als Drama, sondern als Epos heraus. Indessen „Neuland" wird uns sagen, dass Aristoteles und Lessing einer „wichtigen, aber vergangenen Kunstperiode" angehören und dass es der Gipfel echter Modernität sei, wenn Herr Gerhart Hauptmann in dem abgelegten und noch dazu verkehrt angezogenen Rocke Fouqués auf der Bühne erscheine. Womit wir uns denn wieder bescheiden müssen.

Wir wissen wohl, dass wir uns mit diesen Ausführungen den Vorwurf des Banausentums zuziehen. Man wird uns sagen: die poetische Stimmung, die das Werk ausströmt, die bezaubernde Macht der Sprache, wer, der kein Barbar ist, verstände sie nicht? Nun, diesen Standpunkt des ästhetischen Dusels verstehen wir so wenig, wie er unseren Standpunkt versteht; insofern sind wir allerdings Barbaren füreinander. Wir bekennen offenherzig, dass wir uns bei den meist klangvollen und oft sinnlosen Versen, bei der „Freischützkaskadenfeuerwerkmaschinerie", womit die handwerksmäßige Routine des Dichters, des Regisseurs und der Darsteller die „poetische Stimmung" erzeugte, zum Sterben gelangweilt haben. Hätte uns nicht unsere Rezensentenpflicht bis zum Schlusse des fünften Aktes festgehalten, so wären wir nach dem Schlusse des ersten Aktes geflohen – in irgendeine Arbeiterversammlung, wo man doch modernen Geist atmet. In der Tat, für diese Art Dramatik denken und empfinden wir ein wenig zu – modern.

Klassischer und knapper, als wir selbst es könnten, drückt Herr Paul Schienther, der dramaturgische Mentor des Herrn Hauptmann, unser Urteil über die „Versunkene Glocke" aus, indem er in der gestrigen Abendausgabe der „Vossischen Zeitung" schreibt: „Er sorgte für Auge und Ohr viel, fürs Herz wenig, für den Verstand gar nicht. Nirgend zwingen uns die Ereignisse, nirgend zwingen uns die Personen, der dumpfe Druck aufs Hirn, mit dem wir das Theater verließen, kehrt wieder, so oft wir uns dieses Theaterstückes erinnern." Freilich spricht Herr Schienther nicht vom Märchendrama Hauptmanns, sondern von irgendeinem Trampelstücke des Herrn v. Wildenbruch. Über Hauptmanns Stück bläst Herr Schienther einen halben Tag später, in der heutigen Morgenausgabe der „Vossischen Zeitung", natürlich eine ganz andere Flöte, und es lohnt sich, da er die Absichten des Dichters am besten kennt, auch davon Notiz zu nehmen. Herr Schienther spricht also von einem „Zwiespalt in der Brust" des „Weber"-Dichters und erklärt, dass „dem Dichter des irdischen Elends nun doch ein Werk gelungen sei, das in den Höhen phantastischer Sinnbilder zu leben" vermöge. Somit soll die „Versunkene Glocke" das Gegenstück zu den „Webern" sein; vor dem Elend, das der Kapitalismus schafft, soll nun bei elbischen Wesen über- oder unterirdischer Art, beileibe nicht auf dieser Erde selbst Rettung sein. In diesem Sinne fasste denn auch der untrügliche Klasseninstinkt des geldprotzigen Premierenpublikums das Märchendrama auf: es hatte einen Bombenerfolg, von dem nur ein Teil, und vielleicht selbst nur der kleinere Teil, auf die Rechnung einer ausgezeichnet organisierten Claque zu setzen ist.

Immerhin – bestände die Freie Volksbühne noch, so würden wir uns bemühen, auch auf ihren Brettern Hauptmanns Stück zur Aufführung zu bringen. Könnten es einige tausend moderne Arbeiter dargestellt sehen, so wäre einer heute, wie es scheint, nicht völlig ausgeschlossenen Gefahr für immer ein Riegel vorgeschoben: der Gefahr nämlich, dass sich in die Reihen des klassenbewussten Proletariats aus sehr achtungswertem Interesse für moderne Tendenzen in der Kunst eine Kunstsimpelei schleicht, deren entnervende Wirkungen den proletarischen Klassenkampf schwer schädigen müssten.

1 „Kunst und Proletariat“ (21. 10. 1896).

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