Franz Mehring 18931115 Ein Traumstück

Franz Mehring: Ein Traumstück

15. November 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 245/246. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 294-297]

Es tut uns sehr leid um Herrn Gerhart Hauptmann, aber wenn er unter die Räuber der bürgerlichen Kritik gefallen ist, wenn die Börsenpresse ihm jubelnd bescheinigt, er biege endlich in das „Tor der echten und wahren Dichtkunst" ein, so hat er dies Schicksal reichlich verdient mit seinem „Hannele", einem „Traumstück in zwei Teilen", das gestern zum ersten Male auf der Bühne des königlich preußischen Schauspielhauses aufgeführt wurde. Wir sind noch niemals verurteilt gewesen, einen so großen Missbrauch eines so großen Talents mit eigenen Augen zu sehen.

Eine Kritik des „Traumstücks" gehört nun freilich zu den halb unmöglichen Dingen. Nicht etwa von dem Standpunkt aus, dass sich über den Geschmack nicht streiten ließe. Da jede Kunst ihre Gesetze hat, so lässt sich über den Geschmack sehr wohl streiten. Worüber sich aber allerdings nicht diskutieren lässt, das ist die Stimmung, die durch unkünstlerische Mittel, durch ein melodramatisches Durcheinander von Musik, Beleuchtungseffekten und bunten Gewändern erzielt werden soll. Es mag Leute geben, die sich dadurch bis zu Tränen rühren lassen, aber es gibt hoffentlich auch noch Leute, die sich mit Widerwillen abwenden, wenn ihnen dergleichen Zeugs als dramatische Kunst aufgeredet werden soll.

Wir sind nicht der Ansicht, dass die Technik des Dramas eine im Wechsel der Zeiten unabänderliche Form ist. Wir haben es gerade an Herrn Hauptmann mit lebhafter Freude anerkannt, dass er wiederholt, so in den „Webern", so auch im „Biberpelz", die herkömmliche und vielfach verknöcherte Form des bürgerlichen Dramas auszuweiten versucht hat. Aber mit der neuen Kategorie des „Traumstücks" verlässt er überhaupt den Boden der dramatischen Kunst. Sie steht und fällt mit der künstlerischen Widerspiegelung menschlichen Lebens, mit der Entwicklung und dem Kampfe menschlicher Charaktere. Was uns Herr Hauptmann in seinem „Traumstück" bietet, ist dagegen nach einer einleitenden Szene der physische Todeskampf eines Kindes und die Visionen, die diesen Todeskampf begleiten. Von einer dramatischen Handlung ist keine Rede und ebenso wenig von dramatischen Charakteren. Die Engel und Erzengel und abgeschiedenen Geister, die das „Traumstück" beleben, sind keine Menschen, und ebenso wenig ist es Jesus, den der Dichter supranaturalistisch zu begreifen sucht. Wenn die preußische Hofbühne sich so spröde dem Erscheinen verstorbener Hohenzollern auf ihren Brettern widersetzt, nunmehr aber den lieben Herrgott selbst frank und frei zwischen ihren Kulissen deklamieren lässt, so wollen wir nicht leugnen, dass der vielgefeierte „Einbruch des Naturalismus in die starren Schranken der Königlichen Theater" einen Kulturfortschritt anbahnt, mag es auch nur ein Fortschritt in preußischer Kultur sein. Im Wesentlichen aber ist die szenische Verkörperung einer Reihe von Traumvorstellungen keine dramatische Kunst; sie ist ein unkünstlerisches Missgebilde, das nicht einen Schritt über das bürgerliche Drama hinaus, sondern viele Schritte hinter das bürgerliche Drama zurückgeht.

Wir müssen nun freilich auf den Einwand gefasst sein, dass der Dichter ja nicht seine Traumvorstellungen gebe, sondern die Traumvorstellungen seiner Heldin, die als solche gar nicht aus dem dramatischen Rahmen herausfielen. Das ist ganz richtig, aber damit verlegt man die Debatte erst recht auf ein für Herrn Hauptmann ungünstiges Gebiet. Wir wollen nicht lange bei einem Mangel verweilen, der weniger die Absicht des Dichters trifft als die Ausführung dieser Absicht. Einerseits ist die ganze Engelmaschinerie so grob und handgreiflich zugehauen und wurde auch so grob und handgreiflich dargestellt, wie es etwa einer zwölfjährigen Phantasie entsprechen mag; namentlich der Todesengel machte mit der steinernen Unbeweglichkeit seines bierfröhlichen Gesichts trotz seiner schwarzen Flügel einen äußerst vertrauenerweckenden Eindruck. Andererseits waren aber die klingelnden Verse, in denen der Herr Jesus die Freuden des Paradieses beschrieb, und die hochstelzige Prosa, in der die „lichten Engel", wir verstanden nicht recht welche erfreuliche Aussicht in das Jenseits eröffneten, eine wahre Satire auf eine naive Kinderphantasie. Indessen, wie gesagt, dieser Vorwurf trifft mehr das Können als das Wollen des Dichters, und wir gehen darüber hinweg.

Untersuchen wir nun aber seine Absicht, so müssen wir erstaunt fragen: wie in aller Welt kommt der Dichter dazu, in dem absterbenden Geiste eines verkommenen Proletarierkindes überirdische Phantasien zu entdecken, die in der wohlgegliederten Symmetrie der himmlischen Hierarchie die entsprechenden Vorstellungen eines ergrauten Kirchenvaters beschämen können? In der einleitenden Szene wird uns das Milieu, worin Hannele aufgewachsen ist, nach der bekannten Art der sogenannten „naturalistischen" Dichter geschildert: es ist ein schmutziges Lumpenproletariat, Diebe und Huren, ohne einen Schimmer der menschlichen Würde, die heute in keiner Klasse so reich vertreten ist wie im wirklichen Proletariat. Gleichviel aber: der Dichter macht einmal diese Voraussetzung; Hannele wächst in einer so infamen Umgebung auf, wird jeden Tag von ihrem Stiefvater blutrünstig geschlagen, muss betteln und hungern oder darf sich höchstens einmal an ein paar kalten Kartoffeln sättigen. Trotzdem sieht sie in ihrer Sterbestunde den Himmel offen, sieht sie das Paradies in denselben glühenden und lebendigen Farben leuchten, mit denen je ein königlich preußischer Hofprediger in der satten Behaglichkeit seiner fetten Pfründe das Jenseits ausgemalt hat, um die hungernde Menschheit über das Diesseits zu trösten.

Wie in der Tat kommt Hannele dazu? Ein naturalistischer Dichter wird sich ja, wenn er einmal die letzten Phantasien eines sterbenden Proletarierkindes darstellen will, zunächst darüber unterrichten, wie es im Geiste und Gemüte solcher armen Geschöpfe aussieht. Es gibt darüber eine sehr reichhaltige und zuverlässige Literatur, freilich nicht in unserem gesegneten Vaterlande, aber in anderen Ländern, deren Gesetzgebung es mit der Förderung menschlicher Kultur noch ein wenig ernst nimmt. In den Berichten der englischen Fabrikinspektoren und Untersuchungskommissionen findet sich beispielsweise vollkommen authentisches Material darüber, was sich Proletarierkinder, die unter solchen sozialen Lebensbedingungen aufwachsen wie Hannele, unter dem Herrn Jesus, unter Engeln und Erzengeln usw. vorstellen. Wir wissen nicht, ob Herr Hauptmann sich die Mühe genommen hat, die tatsächlichen Zustände zu studieren, aus denen er seine Traumvorstellungen ableitet, aber ob er es getan hat oder nicht: was er uns bietet, schlägt allen Begriffen von Naturalismus einfach ins Gesicht. Man braucht gar kein Poet, man braucht nur ein denkender und fühlender Mensch zu sein, man braucht nur ein wenig Sympathie mit den arbeitenden Klassen und ein wenig Verständnis für ihre soziale Lage zu haben, um sich von Hanneles Todesphantasien unendlich ergreifendere und erschütternde Vorstellungen zu machen, als durch den Klimbim des königlich preußischen Schauspielhauses gestern in den weinerlichsten Mannesseelen der Börse geweckt werden konnte. Dieser Klimbim ist nicht Poesie, nicht Wirklichkeit, auch nicht einmal Mystizismus in dem naiven und sozusagen mittelalterlichen Sinne des Wortes. Er ist höchstens verheuchelter Mystizismus zu Ehren der ausbeutenden und unterdrückenden Klassen.

Als wir kürzlich an dieser Stelle Hauptmanns „Biberpelz" besprachen, wurde von mehreren Seiten, auf deren Urteil wir Wert legen, unsere Auffassung als etwas zu günstig für die Komödie bestritten. Sollte dem wirklich so gewesen sein, so haben wir jedenfalls nur gefehlt aus Achtung vor Hauptmanns Talent und in dem lebhaften Wunsche, ihn auf dem richtigen Wege zu erhalten, den er mit dem „Biberpelz" betrat. Aus der gleichen Empfindung der Achtung und Sympathie heraus müssen wir heute sagen, dass ein Poet, dem seine Poesie nicht bloß ein müßiges Spiel ist, solchen Quark nicht schreiben darf wie das Traumstück „Hannele".

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