Franz Mehring 18930925 Eine Diebskomödie

Franz Mehring: Eine Diebskomödie

25. September 1893

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 17-20. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 288-293]

Früher als sonst wohl beginnt in diesem Herbste das Bühnenleben der deutschen Reichshauptstadt. Das Bühnenleben oder auch das Bühnensterben. Denn schon liegt eine ganze Anzahl von Leichen auf den Brettern, und auch das vielgepriesene Schiller-Theater ist glücklich eingesargt, zur glorreichen Blamage der Bourgeoisie, die sich einbildete, wenigstens noch einen dramaturgischen Vorstoß ins Land des Proletariats wagen zu dürfen. Nach mancherlei Fehlschlägen ist aber doch ein Silberblick über der bürgerlichen Bühne aufgeleuchtet: im „Biberpelz", einer „Diebskomödie" von Gerhart Hauptmann, die am 21. ds. Mts. zum ersten Mal auf dem Deutschen Theater aufgeführt wurde.

Es ist nicht die erste Komödie des jungen Dichters: vor zwei Jahren erlebte bereits sein „Kollege Crampton" auf demselben Theater eine Reihe von Aufführungen. Doch war dies Stück kaum mehr als der mit raschen Strichen hingeworfene Charakterkopf eines genialen Trunkenbolds von Künstler; es stand und fiel mit der Frage, ob der Held einen kongenialen Darsteller fand. Das Drum und Dran war eine alltägliche, oberflächlich hin gewischte Liebesgeschichte, und der rührsame Ausgang des Stückes brach dem wilden Humor, womit es angelegt war, sozusagen die Spitze ab. Ohnehin sind alkoholische Exzesse in der Dichtung unerträglicher als – unter Umständen – im Leben; wenigstens für unseren vielleicht sehr zurückgebliebenen Geschmack gehören bei der entschiedensten Vorliebe für einen guten Männertrunk die genialen Süffel oder versoffenen Genies doch einer sehr vergangenen Periode an. Und wenn „Kollege Crampton" in Georg Engels vom Deutschen Theater nicht eben einen kongenialen Darsteller gefunden hätte, so würde er kaum jemals das Licht der Lampen erblickt haben.

Diesen ersten Versuch im Lustspiel hat Gerhart Hauptmann nun glücklich überholt. Der „Biberpelz" ist endlich einmal eine Komödie im alten und echten Sinn des Wortes: eine lachende Geißelung der verkehrten Welt, worin wir leben und weben, dabei ganz frei von des spintisierenden Gedankens Blässe, ganz frei von den Mitteln und Mittelchen des hergebrachten Komödienapparats. Der Dichter bewegt seine heitere Welt selbst ohne den obligatorischen Drehzapfen der Geschlechterliebe. Ein bisschen dünn und dürftig mag der Vorwurf wohl noch sein, aber der „Biberpelz" ist ja auch erst ein Anfangsschritt auf der Bahn des wahren Lustspieldichters, dem Platen den Beruf zuweist,


Volk und Mächtige zu geißeln, ein gefürchtet Haupt im Staat.


So klein der Ausschnitt des Lebens sein mag, den uns der Dichter bietet, sosehr es sich für Hauptmann nur um die Verspottung eines schließlich ziemlich harmlosen Zusammenstoßes mit der Polizei handeln mag, so lässt er in dem winzigen Einzelfalle doch den ganzen komischen Widersinn eines Gemeinwesens aufquellen, das die Guten schützen und die Schlechten strafen will, aber tatsächlich die Guten straft und die Schlechten schützt.

In ihrer schablonenhaften Weise fühlt sich die bürgerliche Kritik ohne Ausnahme durch Hauptmanns „Biberpelz" an Kleists „Zerbrochenen Krug" erinnert; ja, einzelne kühne Geister gehen so weit, auf ein mehr oder minder verhülltes Plagiat anzuspielen. Tatsächlich besteht die ganze Ähnlichkeit darin, dass beide Dichter versucht haben, das deutsche Lustspiel aus der Misere des alltäglichen Philisterklatsches herauszuheben und in den staatlichen Zuständen den komischen Widerstreit zwischen dem, was sein sollte, und dem, was ist, aufzusuchen. Kleist hat vielleicht – wir können diese Frage hier nicht eingehend untersuchen – ein größeres Maß komische Kraft aufzuwenden gehabt, aber deshalb ist es nicht minder ungerecht, ihn als Meister und Hauptmann als einen womöglich noch perfiden Schüler hinzustellen. Die bürgerliche Kritik lernt eben nie, beim ästhetischen Urteile den sozialen Untergrund aller Dichtung in gebührenden Anschlag zu bringen. Kleist lebte in einer so trostlos eingeengten Zeit, dass er die Handlung seines Lustspiels nach Holland verlegen musste. Sein grimmiger Spott über die patriarchalische Gerichtsbarkeit kam ihm selbst kaum zu halbem Bewusstsein und war sogar einem Mann wie Goethe ganz unverständlich. Sein Lustspiel blieb einsam in der deutschen Literatur, und von Kleist galt nicht minder als von Platen selbst:


Größres wollt' er wohl vollenden, doch die Zeiten hindern es.

Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes.


In den neunzig Jahren seit dem Erscheinen des „Zerbrochenen Kruges" sind wir nun freilich noch kein „freies Volk" geworden, aber etwas freieren Spielraum hat der Komödiendichter doch trotz aller Theaterzensur, und so geht Hauptmann der preußischen Polizei resoluter zu Leibe, als Kleist der holländischen Justiz zu Leibe ging. Wie immer es um die individuelle Begabung der beiden Dichter stehen mag, der „Biberpelz" selbst ist an komischer Kraft dem „Zerbrochenen Krug" überlegen, und Hauptmann begeht wahrhaftig kein Plagiat an Kleist, wenn die preußische Polizei heute noch ebenso lustige oder gar lustigere Böcke schießt als die holländische Justiz vor hundert Jahren.

Zwischen den Gestalten und Situationen der beiden Lustspiele besteht nicht die geringste Ähnlichkeit. Der „Biberpelz" würde geradeso da sein, wie er ist, auch wenn der „Zerbrochene Krug" niemals gewesen wäre. Die Komödie spielt „irgendwo um Berlin" zur „Zeit des Septennatskampfs". Damals lebte der Dichter in dem Vororte Erkner an der Oberspree, und er soll, weil er reichsfeindliche Zeitungen hielt und auch sonst nicht den nötigen Hurrapatriotismus entwickelte, des Verdachts verdächtig geworden sein. In einer Nebenfigur seiner Komödie, dem von der Ortspolizei verfolgten „Demokraten" Fleischer, scheint er sich selbst gezeichnet zu haben; ebendeshalb ist diese Figur wohl blasser herausgekommen als die übrigen Gestalten des Stücks. Denn diese Gestalten alle sind aus ganzem Holze geschnitzt, von köstlicher Lebenswahrheit durchweg. Der mordspatriotische, schneidige Amtsvorsteher, der für die höchsten Güter der Nation kämpft und beständig auf Majestätsverbrecher fahndet, aber dabei den einfachsten Pflichten seines Amtes nicht nachzukommen versteht, dann seine polizeilichen Gehilfen, die devote Schreiberseele und der jämmerlich besoldete Amtsdiener, der in stillem Suff sein häusliches Elend verduselt und für ein Glas Grog unwissentlich den Dieben bei ihren nächtlichen Diebszügen mit der Laterne leuchtet, nicht zu vergessen des freiwilligen Denunzianten, der von allerlei Hochstapeleien lebt und dem, der nicht schnell genug sich begaunern lässt, eine Majestätsbeleidigung an den Hals hängt. Dann die Gruppe der Gegenspieler: die Diebsfamilie Wolff und ihre Anhängsel, hier alle überragend und überhaupt wohl die prächtigste Figur der Komödie Mutter Wolff, eine fleißige, tüchtige und im Grunde auch ehrliche Person, nur dass ihre Ehrfurcht vor dem bürgerlichen Eigentumsbegriff etwas mangelhaft entwickelt ist. Sie arbeitet als Waschfrau für zwei und möchte es gern zu was in der Welt bringen, aber mit ihrem schlagenden Mutterwitze erkennt sie, dass sie mit ihrer Hände Arbeit nicht vom Flecke kommt. Sie regiert dreist und gottesfürchtig ihr Haus und hält ihre Töchter zur Kinderlehre an; Stehlen ist ihr eine Sünde, aber so 'n bisschen Wildern und Mausen bei Leuten, denen es auf eine Fuhre Knüppelholz und einen Biberpelz nicht weiter ankommen kann, ja da lässt sie mit sich reden. Mit einem Wort: eine lustige, sympathische und schließlich auch ehrliche Spitzbübin, wie sie aus dem Leben und aus der Literatur ganz verschwunden sind, seit das Eigentum mehr und mehr zum Palladium des sittlichen Staates erwuchs, und wie sie nunmehr, je mehr dies Palladium zu wackeln beginnt, wieder auftauchen. Eine dritte Gruppe bilden dann der Doktor Fleischer und der Hausbesitzer Krüger; jener ist, wie gesagt, etwas undeutlich gezeichnet, aber dieser steht nahezu ebenbürtig neben dem Amtsvorsteher v. Wehrhahn und Mutter Wolff: ein freisinniger Philister, der sich mit Räsonieren bei der Polizei missliebig gemacht hat und, weil sie ihm nun nicht schnell genug zu seinen gestohlenen Kieferknüppeln und Biberpelzen hilft, wie ein angeschossener Eber tobt, in seinen heiligsten Eigentumsgefühlen verletzt.

Die Fabel der Komödie ist denkbar einfach und ergibt sich von selbst aus den Charakteren der Personen. Wie der Amtsvorsteher hinter den Hochverrätern Fleischer und Krüger herjagt und dabei immer über die Diebe stolpert, ohne sie je trotz aller Beschwerden des Bestohlenen und trotz aller handgreiflichsten Indizien zu entdecken, das führt zu einer übersprudelnden Fülle komischer und völlig ungezwungener Szenen. Zweimal tobt die wilde Jagd, in den beiden ersten Akten um die gestohlene Fuhre Holz, in den beiden letzten um den gestohlenen Biberpelz, beide Male mit dem gleichen Misserfolge. Die Komödie schließt damit, dass der Amtsvorsteher der Mutter Wolff auf die Schulter klopft: „So wahr es ist, wenn ich hier sagte: die Wolffen ist eine ehrliche Haut, so sage ich Ihnen mit gleicher Bestimmtheit: Ihr Doktor Fleischer, das ist ein lebensgefährlicher Kerl." Worauf die gutmütige Diebesmutter: „Da weeß ich nu nich …" Gegen diesen Schluss und überhaupt gegen die Komposition der Komödie hat die bürgerliche Kritik mancherlei auf dem Herzen, das sich wohl der Prüfung verlohnt. Sie klagt den Dichter des Verrats an den „ewigen Kunstgesetzen des Dramas" an, weil sein Stück sich im Kreise herumbewege, weil es zweimal hintereinander dieselben Vorgänge wiederhole und doch zu keinem Schlusse komme; ebenso gut hätten drei Diebstähle der Mutter Wolff zu sechs oder vier zu acht Akten verarbeitet werden können und so ins Endlose. Und gewiss, in Wirklichkeit wird sich diese Diebskomödie wohl ins Unendliche fortspinnen. Aber auf der Bühne war der zweimalige Diebstahl gerade genug, nicht zu viel und nicht zu wenig. Nicht zu viel, denn zweimal mussten wir die Geschichte schon erleben, um die unergründliche Borniertheit des loyalen Patriotismus zu erschöpfen, und zudem hatte der Dichter durch fesselnde Details für hinreichende Abwechslung gesorgt. Nicht zu wenig, denn einer weiteren Erleuchtung bedürfen wir freilich nicht, und jedes gute Ding will sein Ende haben. Und was den Schluss anbetrifft – je nun, welchen anderen Schluss soll die Komödie haben, als dass der Amtsvorsteher v. Wehrhahn in seiner hoffnungslosen Schneidigkeit so weiterwurstelt, wie er bisher gewurstelt hat? Soll etwa der Landrat oder Regierungspräsident auf der Bildfläche erscheinen, um ihn abzusetzen, Mutter Wolff ins Zuchthaus zu sperren und dem Rentier Krüger wieder den Glauben an irdische Gerechtigkeit beizubringen? Als ob die preußischen Landräte und Regierungspräsidenten etwas Besseres als Wehrhahns in höherer Potenz wären! Eine Komödie, die ihrer Zeit Gebrechen lachend straft, darf gar nicht solchen Schluss haben, wie ihn die bürgerliche Kritik am „Biberpelz" vermisst – trotz klassischer Komödien, wie Lessings „Minna" und Molières „Tartüffe". König Friedrich als deus ex machina am Schlusse der „Minna" war auch nur satirisch gemeint, und wenn Molière am Schlüsse des „Tartüffe" den Dragonaden-Ludwig feierte:


Nous vivons sous un prince ennemi de la fraude

Un prince dont les yeux se font jour dans les coeurs,


so hatte er dazu zwar gute, aber ganz gewiss keine künstlerischen Gründe. Seien wir doch froh, dass wir auf solch Brimborium endlich verzichten dürfen !

Schließlich ist der Kummer der bürgerlichen Kritik über den mangelnden Schluss des „Biberpelzes" auch nicht sowohl ästhetischen als sozialen Ursprungs. Die ganze Komödie ist ihr unheimlich, und sie ist darin nur das getreue Echo der bürgerlichen Welt. Das Premierenpublikum nahm die ersten Akte des Stücks sehr freundlich auf; es hatte lebhaftes Gefallen an der drastischen Komik und dachte wohl, dass die Diebe schließlich an den Galgen kommen würden. Als die Dinge aber nun so ganz anders kamen und aus der harmlosen Posse sich eine bitterböse Satire entwickelte, da schlug die Stimmung sofort um, und der „Biberpelz" hat schwerlich ein langes Leben auf der bürgerlichen Bühne zu erwarten.

Gespielt wurde die Komödie vortrefflich, am ehesten ließ noch Georg Engels insofern zu wünschen übrig, als er den Amtsvorsteher v. Wehrhahn zu karikiert gab, karikierter jedenfalls, als ihn der Dichter gezeichnet hat. Einen großen Dienst erwiesen alle Schauspieler dem Publikum und nicht minder dem Poeten dadurch, dass sie ihre Rollen je nachdem hochdeutsch oder in verschieden abgestuften Färbungen des berlinisch-märkischen Dialekts sprachen, nicht aber in jener bunten Musterkarte von Dialekten, in denen Hauptmann sein Stück geschrieben hat. Er lässt eine so echte Spreepflanze wie Mutter Wolff in schlesischem, eine in ihrer Art nicht minder echte Spreepflanze wie den Rentier Krüger in sächsischem Dialekte sprechen, den er noch dazu gar nicht beherrscht. Wir wollen dem Dialekte gern alle Rechte gönnen, die er irgend beanspruchen kann; es gibt Dinge, die sich nur im Dialekte sagen lassen, weil sie nur im Dialekte gedacht werden können. Aber die Art, wie die heutigen Naturalisten jeder behäbigen Person jeden beliebigen Dialekt anhängen und so aus lauter Streben nach „Natur" zur gräulichsten Unnatur kommen, artet nachgerade in groben Unfug aus. Gerhart Hauptmann mindestens, der es doch wahrhaftig nicht nötig hat, sollte auf solche Kinkerlitzchen verzichten.

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