Franz Mehring 18930308 Entweder – Oder

Franz Mehring: Entweder – Oder

8. März 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 777-782. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 279-285]

Zu den traurigsten Resten der vormärzlichen Polizeiwirtschaft gehört die Theaterzensur. Dank der Zaghaftigkeit unserer bürgerlichen Klassen, die niemals gründliche Arbeit gemacht haben, hat sie sich erhalten, trotz der Verfassung von 1850, die jedem Preußen gestattet, seine Meinung frei in Wort, Rede oder Schrift zu äußern, und trotz der Gewerbeordnung von 1869, die sonst der kapitalistischen Bühne die Schranken öffnete. Die Bourgeoisie begnügte sich gern damit, das Theater als „Gewerbebetrieb" freizubekommen; um die Schaubühne als künstlerische oder gar „moralische Anstalt" ließ sie sich weiter keine grauen Haare wachsen. Durfte nur jeder Budiker eine Kunstbude aufschlagen, so mochte der Pegasus ruhig am Leitseile der Polizei traben; weder die Ausbeutung des schauspielerischen Proletariats noch die gewinnreiche Spekulation auf die geilen Triebe des Pöbels – nicht zum wenigsten des Pöbels in seidenen Hüten – kamen dabei ins Gedränge.

Diese Rechnung war denn auch nicht ohne den Wirt gemacht. Vielleicht in keiner Klasse der Bevölkerung bestehen so trostlose Zustände wie in dem schauspielerischen Proletariat, und auf mehr als einer hiesigen Bühne herrscht die nackte Zote, ohne sich selbst nur um das dünnste Feigenblatt einer sogenannten Kunst zu bemühen. Dagegen verfällt von Zeit zu Zeit eine dramatische Dichtung der polizeilichen Zensur. Nach welchen Grundsätzen dabei vorgegangen wird, ist schwer zu erkennen; man kann im Allgemeinen nur sagen: Aus der Wolke ohne Wahl zuckt der Strahl. Bald wird in der Provinz verboten, was in Berlin erlaubt ist, bald wird umgekehrt ein Schuh daraus. Bald wird ein Stück verdonnert, das sonst klanglos zum Orkus hinab wandeln würde und das somit eine Art grönländischen Sonnenscheins darin finden mag, wenn es wenigstens mit einigem Krach auf den polizeilichen Felsen rennt; bald packt die Theaterzensur ein Stück, dessen Fernhaltung von der öffentlichen Bühne grundsätzlich und tatsächlich eine schwere Schädigung der Kunst bedeutet. Unter diesen Schauspielen obenan stehen Gerhart Hauptmanns „Weber"; sie von der öffentlichen Aufführung ausschließen, hieß nicht nur tatsächlich ein ausgezeichnetes Drama an seiner lebendigen Verwirklichung hindern, sondern auch grundsätzlich der Wiedergeburt einer echten Kunst die Türen des Theaters schließen.

Unseres Erachtens wäre dieser Fall von Theaterzensur so recht geeignet gewesen, endlich eine scharfe Schere an den vormärzlichen Zopf zu setzen; die Allheilmittel der bürgerlichen Apotheke, Parlament und Presse, hätten da einmal eine kräftig durchschlagende Wirkung erreichen können. Aber weder in dem reaktionären Abgeordnetenhause regte sich's noch in der hiesigen Kapitalistenpresse, die ja die Nächste dazu gewesen wäre, aber die in ihren „maßgebenden" Organen vermutlich froh war, dass die Polizei ihr die Mühe abgenommen hatte, die „Weber" totzuschlagen. Es blieb noch der Weg, dass der Dichter selbst sein Kind der Faust der Polizei zu entreißen suchte. Indessen deuteten wir schon in voriger Nummer dieses Blattes an, dass uns dieser Weg nicht recht praktikabel zu sein scheine und dass der Dichter sich lieber mit Würde in das polizeiliche Verbot der öffentlichen Aufführung seines Schauspiels fügen solle. Wir sagten dies nicht etwa aus irgendeiner Missachtung des Kampfes ums Recht, nicht etwa weil das Interdikt der „Weber" sich schwer anfechten lässt, solange die Polizei ein „gesetzliches" Recht der Theaterzensur hat und also vom polizeilichen Standpunkte die Harmlosigkeit des Schauspiels nachgewiesen werden müsste. Auch wir halten das Wort hoch:


Um einen Strohhalm groß sich regen,

Steht Ehre auf dem Spiel.


Und wäre nicht einmal so viel Aussicht, wie ein Strohhalm wert sein mag, auf einen günstigen Erfolg gewesen, so würden wir gleichwohl gebilligt und unterstützt haben, dass der Dichter im Verwaltungs-Streitverfahren sein Recht suchte, soweit er es in ehrlichem Kampfe irgend zu erreichen hoffen durfte.

Allein wir kannten unsere Pappenheimer allzu gut und allzu lange, um nicht vorauszusehen, dass die bourgeoise Literatenclique, die sich an den Dichter der „Weber" hängt, in dem Kampfe um die Befreiung des Schauspiels aus der polizeilichen Haft zu den bedenklichsten Mitteln greifen würde, zu Mitteln, um deren Preis eine ehrliche und lautere Begeisterung für Kunst nicht einmal den „Faust" oder den „Hamlet" erkaufen möchte. Leider haben sich unsere Befürchtungen denn auch schneller und umfassender, als wir dachten, zu erfüllen begonnen. Der Rechtsanwalt Greiling, ein missglückter Dramatiker und Politiker, kämpfte gestern vor dem Bezirksausschusse als Vertreter des Herrn Gerhart Hauptmann mit dem Polizeipräsidium um die „Weber" in einer Weise, die nicht scharf genug getadelt werden kann. Um den Dichter kann es einem dabei in der Seele weh tun, und wir setzen gerne voraus, dass er von den verschlagenen Advokatentricks seines juristischen Vertreters vorher nichts gewusst und sie nachträglich nicht gebilligt hat. Aber für die künstlerischen und politischen Zustände des Deutschen Reichs ist die ganze Episode zu bezeichnend, als dass sie hier nicht etwas näher beleuchtet werden sollte.

Wir deuteten an: von seinem Standpunkte aus handelte das Polizeipräsidium nicht unberechtigt, wenn es die öffentliche Aufführung der „Weber" verbot, womit natürlich nicht gesagt ist, dass dieser Standpunkt selbst irgendeine Berechtigung für sich geltend machen kann. Und wenn das Polizeipräsidium vor dem Bezirksausschusse als Grund seiner Maßregel die „wohlbegründete Befürchtung" angab:

dass die den unteren Bevölkerungsklassen angehörenden Theaterbesucher unter dem Eindrucke der Bühnenhandlung, aus welcher ihnen die täglich gehörten Schlagworte der Sozialdemokratie von der seitherigen Unterdrückung des Proletariats und seinem nahenden Siege widerklingen, in ihrer Neigung zu gewalttätiger Auflehnung gegen die bestehende Ordnung werden bestärkt werden, ja dass sie sich zu öffentlichen Ausbrüchen der Parteileidenschaft fortreißen lassen werden, so war es am Ende selbst für die mäßigen Geistesgaben eines freisinnigen Durchfallskandidaten leicht, diesen ganzen Gedankengang in sein Nichts aufzulösen. Es ist unrichtig, dass aus den „Webern" auch nur ein „täglich gehörtes" oder überhaupt nur ein „Schlagwort der Sozialdemokratie widerklingt"; es ist unrichtig, dass die „unteren Bevölkerungsklassen von Berlin" irgendeine „Neigung zu gewalttätiger Auflehnung gegen die bestehende Ordnung" besitzen, und es liegt nicht die geringste Annahme zu der „Befürchtung" vor, dass sich diese Klassen durch die öffentliche Aufführung eines bedeutenden Dramas zu „öffentlichen Ausbrüchen der Parteileidenschaft fortreißen lassen werden", nachdem sie nicht einmal durch die heimlichen Komödien der Ihring-Mahlow und Naporra1 dazu fortgerissen worden sind.

Etwas anders, aber wahrlich nicht schwerer, stand es um die Aufgabe, die „Begründung" zu widerlegen, durch die das Polizeipräsidium seine Befürchtung rechtfertigt. In dieser Beziehung führte es aus:

In grellen Zügen wird geschildert, wie die armselige Weberbevölkerung trotz angestrengtester und gesundheitzerstörender Arbeit den kärglichsten Lebensunterhalt nicht mehr erwerben kann. Nicht sowohl der – nur nebensächlich behandelte – Umstand, dass in einigen Fabriken mechanische Webstühle eingeführt worden, sondern die gewissenlose Habsucht der reichen Arbeitgeber ist als die Ursache des bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Elendes der Arbeiterschaft hingestellt. Männer und Weiber dulden stumpf, dass die Fabrikangestellten aufs roheste ihrer Not spotten und ihnen bei der Abnahme der Arbeit den Bettellohn noch durch schmutzige Geschäftskniffe schmälern. Ungehört sind die Klagen verhallt, welche die Weberschaft in ihrer höchsten Bedrängnis an die Regierung gerichtet hat; von den niederen Beamten, dem Förster, dem Gendarmen, dem Polizeiverwalter, wird den Unterdrückten mit Hohn und Härte begegnet, auch der Ortsgeistliche ist für ihre Klagen taub. Nicht ein mitleidiges Herz schlägt in den Kreisen der Besitzenden; der einzige, der eine bescheidene Fürsprache für die Notleidenden wagt, der arme Kandidat im Hause des reichen Fabrikanten, wird von diesem alsbald aus seiner Stelle entlassen. Diese Züge zeigen klar, dass das Drama nicht etwa nur die Hartherzigkeit einzelner Besitzender und ihrer Werkzeuge schildert, vielmehr sind alle im Rahmen des Stücks auftretenden Besitzenden als die brutalen Ausbeuter der Arbeiterschaft hingestellt, und es ist, da doch nach der Darstellung des Stücks die Organe von Staat und Kirche die vollberechtigten Klagen der Ausgebeuteten abgewiesen haben, die ganze Staats- und Gesellschaftsordnung der Zeit, in welcher sich die Handlung abspielt, als des Bestehens unwert geschildert. Darum erscheint die bewaffnete Erhebung der unterdrückten Arbeiterschaft hier als die unabweisbare Folge der sozialen Missstände, die Beteiligung am Aufstande ist als die Pflicht des tüchtigen Mannes hingestellt. Bezeichnend ist es für diese Auffassung des Autors, dass er den einzigen Arbeiter, der, sich des besseren Lebens im Jenseits getröstend, von Gewalttätigkeiten abrät und bei der Arbeit bleibt, von der Kugel der Soldaten fallen lässt, welche dann vor den siegreichen Aufständischen die Flucht ergreifen müssen.

Abgesehen von der polizeilichen Färbung des Stils, für die wir nicht aufzukommen haben, ist diese Inhaltsangabe der „Weber" im wesentlichen richtig. Und so hatte Herr Greiling, wenn er der Würde der Dichtung und seinem eigenen Freisinn gerecht werden wollte, einfach zu sagen: Jawohl, so ist es, aber was der Dichter im Spiegel der Kunst widergibt, ist historische Wahrheit. Die Organe von Staat und Kirche haben damals die vollberechtigten Klagen der Ausgebeuteten abgewiesen, und wenn das Polizeipräsidium daraus folgert, dass die ganze Staats- und Gesellschaftsordnung der Zeit, in welcher sich die Handlung abspielt, des Bestehens unwert war, so hat es ja durchaus recht, wie sich vier Jahre später auch durch den schmählichen Zusammenbruch der vormärzlichen Staats- und Gesellschaftsordnung erwiesen hat. Aber wie kommt das Polizeipräsidium dazu, in der dichterischen Widerspiegelung historisch durchaus unanfechtbarer Tatsachen eine strafbare „Tendenz" zu sehen? Tendenz in diesem Zusammenhange ist die Entstellung oder Färbung eines wirklichen Hergangs für bestimmte, politische Zwecke, aber der Dichter der „Weber" hat sich mit peinlichster Treue an den wirklichen Hergang der Dinge gehalten, und es ist doch unerlaubt, anzunehmen, dass eine so erleuchtete Behörde wie das Berliner Polizeipräsidium an reaktionärer Beschränktheit noch den Duodezdespotismus des achtzehnten Jahrhunderts übertreffen will, der niemals die öffentliche Aufführung von Lessings „Emilia Galotti" oder Schillers „Kabale und Liebe" verboten hat, obgleich diese Dramen wahrheitsgetreu die von dem Duodezdespotismus geschaffenen Zustände widerspiegeln.

So oder so ähnlich – denn an die Pracht seiner Beredsamkeit reichen wir natürlich nicht heran – hätte Herr Greiling als Anwalt der „Weber" vor dem Bezirksausschusse sprechen sollen. Statt dessen aber – was sagte er? Wir zitieren die wesentlichen Sätze seines Plädoyers nach der „Täglichen Rundschau", einer ihm freundlich gesinnten Quelle:

Er müsse geltend machen, dass den angezogenen, scheinbar revolutionären Stellen andere von abwiegelndem, besänftigendem Charakter entgegenständen. Der Dichter stehe auch gar nicht auf Seiten des Aufruhrs, er lasse vielmehr die Ordnung durch das Eingreifen einer Handvoll Soldaten siegen. Auch mit der gegenwärtigen sozialen Bewegung habe der Weberaufstand durchaus nichts gemein, er sei ein reiner Hungeraufstand gewesen – ein Zustand, der durch unsere heutige Arbeiterschutz-Gesetzgebung für die arbeitende Bevölkerung beseitigt sei … Übrigens fehle ein Präzedenzfall, dass jemals durch eine Bühnenvorstellung ein Aufruhr veranlasst sei; daher suche man vergeblich nach dem Grund für die große Ängstlichkeit des Polizeipräsidiums. Um so weniger sei etwas bei einer Aufführung im Deutschen Theater zu befürchten, als dort drei Viertel des Publikums zu den höheren Ständen gehören. Der Verteidiger wies des weiteren darauf hin, dass sich in Berlin mehrere „Freie Bühnen" gebildet hätten, unter denen eine, die Freie Volksbühne, ausgesprochen sozialdemokratischen Charakter aufweise und dass diese vor ihren Mitgliedern – bis zu Zehntausenden von Proletariern – dieses Stück aufführen könne, also vor Personen, die allein und am leichtesten den angeblich im Stück enthaltenen Aufreizungen vielleicht zugänglich seien. Wenn hiergegen kein Verbot erlassen werden könne, so sei ein solches doch am allerwenigsten für das Publikum des Deutschen Theaters berechtigt. Die Aufführung in Kostümen erschwere es auch dem naiver denkenden Publikum, die Personen des Stückes auf die heutigen Verhältnisse zu übertragen. Aus dem allem bestreite er, dass das Stück in tendenziöser und aufreizender Weise geschrieben sei, und behaupte, dass es sich nur um ein lebenswahres dichterisches Werk handle.

Es sei ferne von uns, alle diese advokatorischen Mätzchen im Einzelnen zu zergliedern; es sei an wenigen Bemerkungen genug. Es ist Sache des Dichters, sich mit der „abwiegelnden" Tendenz seines Schauspiels abzufinden, aber Herr Greiling sagt die Unwahrheit, wenn er in den „Webern" die „Ordnung durch das Eingreifen einer Handvoll Soldaten siegen" lässt; das Drama schließt in der Tat so, wie das Polizeipräsidium in seiner Inhaltsangabe ausgeführt hat. Wo die Schutzgesetzgebung für die hausindustrielle Arbeiterschaft steckt, wo das Hungern durch diese Gesetzgebung verhindert sein soll, ist das Geheimnis des Herrn Greiling. Seine Denunziation der Freien Volksbühne2 richtet sich selbst. Die Polizei braucht nur darauf anzubeißen, um nicht nur die Aufführung der „Weber" in der Freien Volksbühne zu hindern, sondern auch diese Bühne selbst zu sprengen. Ist Herr Greiling noch so bekümmert darüber, dass er keine Gegenliebe fand, als er im Jahre 1890 alle möglichen „Garantien" für sein Wohlverhalten im proletarischen Sinne bot, wenn ihm die Arbeiterstimmen eines anhaltinischen Wahlkreises aus der Rolle des ewigen, freisinnigen Durchfallskandidaten heraus und in den Reichstag hinein verhelfen wollten? Oder meint er wirklich, dass eine Arbeiterbühne schon geopfert werden dürfe, wenn nur die „höheren Stände" im Deutschen Theater ihre erschlafften Nerven ein wenig mit der drastischen Schilderung des Weberelends aufkitzeln können.

Wäre dem so, welch Wechsel der Zeiten würden sich darin spiegeln! Vor dreißig Jahren schrieb Gustav Freytag, der klassische Mann der bürgerlichen Literatur zur Zeit, als die deutsche Bourgeoisie aus ihrer idealistischen in ihre mammonistische Periode hinüberwechselte, in seiner Technik des Dramas: „Wenn vollends ein Dichter die Kunst dazu entwürdigen wollte, soziale Verbildungen des wirklichen Lebens, Tyrannei der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen, welche von der Gesellschaft fast nur Leiden empfangen, polemisch und tendenzvoll für Handlung eines Dramas zu verwerten, so würde er durch solche Arbeit wahrscheinlich das Interesse seiner Zuschauer lebhaft anregen, aber diese Teilnahme würde am Ende des Stücks in einer quälenden Verstimmung untergehen. Die Schilderung der Gemütsprozesse eines gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger Teil unserer praktischen Interessen im Leben sein, die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester." Freytag vertritt darnach gegenüber der arbeitenden Klasse etwa denselben ästhetischen Standpunkt wie Gottsched gegenüber der bürgerlichen.

Aber man beachte nun wohl den Fortschritt der bürgerlichen Ästhetik, seitdem der Mammonismus der Bourgeoisie ganz ihren Idealismus überwunden hat. In der berühmtesten Bourgeoisiedichtung unserer Tage, dem rührenden Roman von der Spar-Agnes, wird geschildert, wie die Armen von der Gesellschaft nichts als Lust und Freude empfangen, und Herr Greiling schlägt auf eine Arbeiterbühne los, nur um die „sozialen Verbildungen", die einmal in verschollener Vorzeit durch eine „Handvoll Soldaten" beseitigt worden sind, für die „höheren Stände" als Nervenkitzel retten zu können.

Leider versagte die glühende Beredsamkeit des Herrn Greiling vor dem Bezirksausschusse; das Verbot, die „Weber" öffentlich aufzuführen, wurde aufrechterhalten. Herr Gerhart Hauptmann will nun an das Oberverwaltungsgericht gehen. Wir wünschen ihm den besten Erfolg, vorausgesetzt, dass er die Wahl seines juristischen Vertreters in zweiter Instanz mit größerer Umsicht trifft als in erster. Wir sind überzeugt, dass Herr Greiling, so wie er plädierte, gegen den Willen seines Mandanten plädiert hat, aber Herr Hauptmann wird nunmehr erkannt haben, dass es sich hier um ein Entweder – Oder! handelt. Er steht den Verhältnissen nahe genug, um zu wissen, dass der einfachste Redakteur des einfachsten Arbeiterblattes lieber das härteste Ungemach von Justiz und Polizei erdulden würde, ehe er sich mit dem advokatorischen Firlefanz des Herrn Greiling verteidigen ließe. Für allerhand gemeines Verbrechen mag sich ja der populäre Grundsatz empfehlen: ich leugne alles und erwarte den Gegenbeweis. Aber der politisch Angeklagte, der polizeilich Verfolgte gibt mit Befolgung dieses Grundsatzes das eine auf, was ihm Sympathie und seiner Tat Würde verleiht; er verrät, dass er nicht in gutem Glauben an sein Recht gewesen ist. Und wir möchten um alles nicht an dem guten Glauben der „Weber" zweifeln. Allein wenn sie in zweiter Instanz verteidigt würden wie in erster, so würde Bettina v. Arnims melancholisches Wort: In Berlin wird alles ruppig! allerdings nur eine neue und sehr melancholische Bestätigung finden.

1 Der Polizist Naporra und der Polizist Ihring, der sich unter dem Namen eines Mechanikers Mahlow während des Sozialistengesetzes in einen Berliner Arbeiterverein eingeschlichen hatte, waren Lockspitzel und Provokateure. Sie wurden 1886 beziehungsweise 1888 entlarvt. Siehe dazu Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweiter Teil, S. 628/629.

2 Greilings „Denunziation der Freien Volksbühne" – bezieht sich auf die Bemerkung von Hauptmanns Rechtsanwalt, dass die Freie Volksbühne „ausgesprochen sozialdemokratischen Charakter aufweise". Nach den preußischen Vereinsgesetzen war die Freie Volksbühne nur unter der Voraussetzung erlaubt, dass sie ein „unpolitischer" Verein sei und keine Bindung zu einer politischen Partei haben dürfe.

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