Franz Mehring 18930301 Gerhart Hauptmanns „Weber"

Franz Mehring: Gerhart Hauptmanns „Weber"

1. März 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 769-774. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 270-278]

Am 26. Februar brachte der Verein Freie Bühne, der für diesen Zweck von den Toten auferstanden war, im Neuen Theater das Weber-Schauspiel von Gerhart Hauptmann zur ersten Aufführung1. Die Darstellung des Stückes auf einer öffentlichen Bühne ist bekanntlich durch die hiesige Polizei verboten worden, von ihrem Standpunkt aus nicht unberechtigter-, aber deshalb doch überflüssigerweise. Die bürgerlichen Kritiken in den heutigen Morgenblättern werden sie belehrt haben, dass sie es getrost der Bourgeoispresse hätte überlassen können, die „Weber" langsam aber sicher abzuwürgen. Indessen wollen wir nicht mit den heiteren Knaben rechten, die im „Berliner Tageblatt" und der „National-Zeitung" das kritische Richtschwert schwingen; heut winkt uns eine höhere Jagd, nämlich- jener Musenhof am Müggelsee, der angeblich Gerhart Hauptmann „entdeckt" hat und nun durch Herrn Julius Hart in der „Täglichen Rundschau" verkünden lässt, die „Weber" atmeten „revolutionären Geist", „sozialdemokratischen Ingrimm", „Echtheit und Entschiedenheit der Gesinnung", aber was zu stürmischem Beifall hinreiße, sei nicht die „revolutionäre Rede eines Parteipolitikers, sondern nur die allgemeine große Menschlichkeit"; „alles Politische und Sozialistische habe sich hier abgeklärt zu reinster künstlerischer Bildung und über dem nackten Interesse schwebender Menschlichkeit". Gerhart Hauptmann gehöre zu den ganz wenigen in unserer Zeit, „die an ihren Schultern die echten Dichterflügel tragen und auf ihnen über den Dampf und Dunst alles Parteipolitischen sich hoch erheben und in jenen reineren Höhen wohnen, die sich nur dem Dichter, dem Philosophen und den wahrhaft religiösen Naturen erschließen". Doch wir fürchten, dass unsere Leser von diesem Bombast genug und mehr als genug haben; wir haben ihnen dies Pröbchen auch nur vorgesetzt, um die trockene Bemerkung daran zu knüpfen, dass Herr Julius Hart aus den antiquarischen Bücherschätzen des Musenhofes am Müggelsee ebenso gut wie wir, und viel besser als das Bourgeoispublikum, das er durch das Klingeln seiner Schellenkappe ergötzt, darüber unterrichtet ist, wie tief die „Weber" im „Dampf und Dunst alles Parteipolitischen" stecken. Denn ihr Dichter hat sie nach dem Text eines unverfälschten Sozialdemokraten gearbeitet.

Im „Deutschen Bürgerbuch für 1845", herausgegeben von H. Püttmann, schildert Wilhelm Wolff – es ist derselbe „kühne, treue, edle Vorkämpfer des Proletariats", dem Marx den ersten Band des „Kapitals" gewidmet hat und dessen von Engels mit einer biographischen Einleitung herausgegebene „Schlesische Milliarde" unseren Lesern bekannt sein wird – „das Elend und den Aufruhr in Schlesien".2 Er leitet darin den Bericht über die Unruhen in Peterswaldau und Langenbielau mit den Worten ein: „Wenden wir uns jetzt nach dem Eulengebirge, an dessen Fuße sich der erste blutige Akt, mindestens ein Vorspiel, in dem unaufhaltbaren Proletarierdrama, im Kampfe des niedergetretenen, von der Macht des Geldes und der schlauen Berechnung zur Maschine erniedrigten Menschen um Wiedergewinnung seiner Würde, im Kriege der Besitzlosen gegen die Tyrannei und Selbstsucht des Privateigentums zu Anfang dieses Monats (Juni 1844) entwickelt hat." Und Wilhelm Wolff schließt seinen Aufsatz mit den Worten: „Wer über die Natur des Privateigentums und seine Konsequenzen ernstlich nachdenkt, wird von Dingen, die höchstens einige Zeit als kleines Palliativ wirken können, keine Radikalkur hoffen. Nur eine Reorganisation, eine Umgestaltung der Gesellschaft auf dem Prinzip der Solidarität, der Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit, mit einem Worte der Gerechtigkeit, kann uns zum Frieden und zum Glücke führen." Man ermesse den Schauder, womit die „wahrhaft religiöse Natur" des Herrn Julius Hart aus ihren „reineren Höhen" auf diesen „parteipolitischen Dampf und Dunst" herabblicken mag. Und doch – was zwischen den beiden eben zitierten Sätzen von Wilhelm Wolff liegt, ist nicht nur nach den trockenen Tatsachen, sondern auch der gedanklichen Auffassung nach der Inhalt der „Weber".

Es sei gestattet, diese Behauptung in möglichster Kürze zu beweisen. Wolff geht von einer allgemeinen Schilderung des Weberelends aus. „Da ertönte der Notruf in Schlesien und fernhin durch ganz Deutschland; Vereine zur Linderung der Not bildeten sich überall; ein Hoffnungsstrahl drang in die Hütten der Armen … Der Notruf hatte zwar nicht die Not hervorgerufen, wie freilich viele uns jetzt überreden möchten, und die Verzweiflung würde überdies zum Ausbruch gekommen sein, denn ,Not kennt kein Gebot'. Allein wenn die Armen glaubten, nun in Kürze auf eine bessere Gestaltung ihrer Lage rechnen zu dürfen, so sahen sie doch bald, dass sie wie immer von der Willkür der Fabrikanten abhingen … Die Not und das Drängen nach Arbeit wurde von einzelnen Fabrikanten möglichst benützt, um für geringen Lohn viel Ware zu erhalten. Unter diesen ragten die Gebrüder Zwanziger in Peterswaldau besonders hervor. Für eine Webe Kattun von 140 Ellen, woran ein Weber neun Tage zu arbeiten hat und wofür andere Lohnherren 32 Sgr. zahlten, gaben sie nur 15 Sgr. Für 160 Ellen Barchent, welches acht volle Tage angestrengter Arbeit erfordert, entrichteten sie 12 und 12 Sgr. Lohn. Ja, sie erklärten sich bereit, noch 300 Weber in Arbeit zu nehmen, wofern diese ebenso viel für 10 Sgr. arbeiten wollten … Das anfangs nicht allzu große Vermögen der Zwanziger war in kurzer Zeit zu großem Reichtum angewachsen. Sechs prächtige Gebäude gaben Zeugnis davon. Herrliche Spiegelscheiben, Fensterrahmen von Kirschbaumholz, Treppengeländer von Mahagoni, Kleider- und Wagenpracht sprachen der Armut der Weber Hohn. Bei der letzten Lohnverkürzung sollten die Zwanziger auf der Weber ihre Vorstellung, dass sie nun gar nicht mehr bestehen und selbst nicht mehr Kartoffeln kaufen könnten, geäußert haben: sie würden noch für eine Quarkschnitte arbeiten müssen, oder, wie andere sagen: die Weber möchten nur, wenn sie nichts anderes hätten, Gras fressen, das sei heuer reichlich gewachsen. Ich lasse diese Äußerungen dahingestellt sein, ich teile sie nur mit, weil sie in aller Munde sind." So Wolff über die Vorgeschichte der Unruhen.

Die Unruhen selbst schildert er dann nach den Berichten von Augenzeugen, „und zwar glaubhaften Männern". „Ein Gedicht, abgefasst nach der Volksmelodie: Es liegt ein Schloss in Österreich, und von den Webern gesungen, ward gleichsam die Marseillaise der Notleidenden. Sie sangen es zumal vor Zwanzigers Hause wiederholt ab." Wolff teilt die beiläufig 25 Strophen des Weberliedes wörtlich mit. „Nun dauerte es nicht lange, so stürmte die Masse ins Haus, erbrach alle Kammern, Gewölbe, Böden und Keller und zertrümmerte alles von den prächtigen Spiegelfenstern, Trumcaus, Lusters, Öfen, Porzellan, Möbeln bis auf die Treppengeländer hinab, zerriss die Bücher, Wechsel und Papiere, drang in das zweite Wohngebäude, in die Remisen, ins Trockenhaus, zur Mange, ins Packhaus und stürzte die Waren und Vorräte zu den Fenstern hinaus, wo sie zerrissen, zerstückt und mit Füßen getreten oder, in Nachahmung des Leipziger Messgeschäfts, an die Umstehenden verteilt wurden. Zwanziger flüchtete sich mit seiner Familie in Todesangst nach Reichenbach. Der Polizeiverweser Christ und ein Gendarm nahmen in Peterswaldau eine Arretierung vor, indes befreiten die Weber bald den Gefangenen … Ich darf den Vorschlag einiger Weber: die Häuser anzuzünden und die Verwerfung desselben aus dem Grunde: weil die so Beschädigten dann Brandgelder erhielten und es doch darauf ankomme, sie auch einmal arm zu machen, damit sie erführen, wie der Hunger tue, als zu charakteristisch nicht unerwähnt zu lassen." Wolff schildert dann noch eingehender die Zerstörungen in Peterswaldau, worauf es für unseren Zweck nicht weiter ankommt.

Von Peterswaldau zogen die Aufständischen nach Langenbielau. „Zunächst kam das obere Etablissement der Gebrüder Dierig an die Reihe. Der Pastor Seiffert, Schwiegersohn des Dierig, dem seine Frau eine Mitgift von 20.000 Talern zugebracht und der nun wohl bequem von der ruhigen Ergebung des wahren Christen in sein Schicksal, von den Freuden, die dem Dulder hienieden dort oben winken sollen, und zur Ruhe und zum Frieden mahnen mochte, soll ins Wasser geworfen worden sein." Unterdes vertrieben die Fabrikknechte des Dierig unter Führung eines Bauern die Weber. „Indessen fanden sich die Entwichenen mit neu Angekommenen bald vor dem zweiten Hause Dierigs ein." Dieser Fabrikant versprach den Webern ein Geschenk von 5 Sgr., wobei sie sich beruhigten. Sie stellten sich in zwei Reihen auf, um nach und nach in das Haus zu treten und das Geld entgegenzunehmen. Aber derweil rückte Militär an und besetzte die Umgebung des Hauses. „Die Zahlung verzögerte sich so sehr, dass die Masse ungeduldig wurde und, außerdem beim Anblick der Soldaten ohnehin aufgeregt und von einigen Unteroffizieren barsch zur Ordnung gerufen und bald fest überzeugt, dass sie kein Geld erhalten würde, gegen die Truppen immer mehr andrängte." Da gab das Militär drei Salven, die 11 Tote und 24 tödlich Verwundete, Männer und Frauen, niederstreckten. „Nach den ersten Salven herrschte einige Sekunden Totenstille. Aber der Anblick des Blutes um und neben ihnen, das Stöhnen und Röcheln der im Verscheiden Begriffenen, der Jammer der Blessierten trieb die mutigsten unter den Webern zum Widerstande. Sie antworteten mit Steinen, die sie von den Steinhaufen der Straße aufrafften. Als nun zwar noch mehrere Schüsse getan und dadurch abermals einige Weber verwundet wurden, gleichwohl aber die Weber auf der einen Seite entfliehend, von der andern her zurückkehrten, und unter den fürchterlichsten Flüchen und Verwünschungen mit Steinen zu werfen fortfuhren, mit Knitteln, Äxten usw. vordrangen, bewerkstelligte der Major von Rosenberger seinen Rückzug. Hätte er länger gezögert, so war es vielleicht für ihn zu spät." Nun wurde auch das Haus von Dierig von den Webern geplündert und zerstört. Aber am nächsten Tage rückte eine gewaltige Truppenmacht, Fußvolk und Geschütze, später auch Reiterei nach Bielau ein: jeder weitere Widerstand wurde im Keime erstickt. Es folgte, wie üblich, der weiße Schrecken mit so brutalem Wüten, dass sich selbst der Philister zu empören begann. „Auf der Station Königszelt wurde, wie man mir erzählte, ein Kommis, der sich heftig gegen die Weber und für die Fabrikanten aussprach, unsanft zur Türe hinausgewiesen. Ich führe dies bloß als Zeichen der herrschenden Stimmung an." Hunderte von Webern wurden ins Gefängnis geworfen. „Die Eingezogenen sind der Beschädigung fremden Eigentums aus Rache angeklagt und dürfen sonach einer schweren Strafe gewiss sein. Doch haben sie den Trost, dass sie im Zuchthause sich immer besser befinden als in der sogenannten Freiheit. Sie werden wenigstens nicht verhungern, nachdem sie der Staat in seine Obhut genommen." Soweit Wilhelm Wolff.

Werfen wir nun einen Blick auf Hauptmanns „Weber"! Im ersten Akt ein Geschäftsraum des Barchent-Fabrikanten Dreißiger, wo die abliefernden Weber ihre Hungerlöhne unter schamlosen Prellereien des Expedienten ausgezahlt erhalten. Der Konflikt spinnt sich dadurch an, dass der noch junge, kräftige Weber Bäcker die 12 Silbergroschen für „achtz'n Tage" Arbeit – Wolff spricht von acht Tagen – für „a schäbiges Almosen, aber kee Lohn" erklärt. Der herbeigerufene Dreißiger wirft ihn hinaus; er predigt den Webern die Entsagungen und Leiden des Kapitalisten mit Worten, die beiläufig mehr nach den achtziger als nach den vierziger Jahren riechen, will ihnen aber seinen guten Willen zeigen und noch 200 Weber so beschäftigen, dass sie wenigstens eine Kleinigkeit verdienen: „Ich denke mir halt, wenn sich ein Mensch täglich 'ne Quarkschnitte erarbeiten kann, so ist das immer besser, als wenn er überhaupt hungern muss." Sein Expedient soll das Nähere den Webern auseinandersetzen, und der erklärt, nachdem Dreißiger den Raum verlassen hat: „Für's Webe zehn Silbergroschen", worauf der Vorhang unter „Flüstern und Murren" der Weber fällt.

Der zweite Akt beginnt mit breitem, genrehaftem Ausmalen des Elends in einem Weberhäuschen. Ein aus seinem Militärdienste heimkehrender Weber bringt das Weberlied mit; Hauptmann teilt nur 7 von den 25 Strophen mit, was sich leicht erklären lässt, dagegen ist schwer abzusehen, weshalb er an dem Wortlaut seiner 7 Strophen kleine Änderungen vornimmt, die jedenfalls keine Verbesserungen sind. Andere Strophen löst Hauptmann in Reden des Reservisten auf. Der ganze Akt steht unter der erschütternden Gewalt des Weberliedes und gewinnt durch sie eine mächtige Wirkung. Der dritte Akt spielt im Kretscham von Peterswaldau. Heulende Not treibt eine Masse Weber zusammen, die auch auf den Zehngroschenlohn Dreißigers eingehen wollen. Bäcker und der Reservist schüren. Im Kretscham wächst die Leidenschaft mächtig an; ein naseweiser Handlungsdiener wird, wie Wolffs Kommis, unsanft hinausgeleitet; ein Bauer poltert in gehässig-roher Weise gegen die Weber; das Erscheinen eines Försters bietet den Anlass, auf die Schutzgelder, Spinngelder, Hoftage der Weber zu kommen; „'s is halt a so, was uns d'r Fabrikant ibrich lässt, das holt uns d'r Edelmann Völlens aus d'r Tasche", ein von Wolff in der Einleitung seines Aufsatzes ausgiebig erörtertes Thema. Schließlich lässt der Polizeiverweser – bei Wolff heißt er Christ, bei Hauptmann Heide – durch den Gendarmen den Webern das Singen ihres Liedes verbieten, und da fließt der Becher über. Die Weber stürmen aus dem Kretscham zum Hause Dreißigers. In ihm eröffnet sich der vierte Akt. Dreißiger und sein Pastor variieren das anmutige Thema, dass die Humanitätsdusler aus Lämmern über Nacht buchstäblich Wölfe gemacht haben. Der Reservist wird von Fabrikknechten eingebracht; der Polizeiverweser verhört ihn und will ihn mit dem Gendarmen ins Gefängnis schleppen, aber kaum sind sie draußen, als die Weber den Gefangenen befreien. Der Pfaff, der die Menge beruhigen will, wird von ihr misshandelt. Dreißiger flieht, und die Weber stürmen das Haus. „Wo is der Menschenschinder?" „Könn' mir Gras fressen, frisst du Sägespäne." „Wenn mersch o ni kriegen, das Dreißigerviehch, … arm soll a wer'n." Aber indem sie das Haus zu plündern beginnen, beschließen die Weber, dem Fabrikanten Dittrich in Langenbielau – Dierig bei Wolff – dasselbe Schicksal zu bereiten.

Das Häuschen des alten Webers Hilse in Bielau ist der Schauplatz des fünften Akts. Im Kommen und Gehen, im Hören und Schauen, im Berichten und Streiten der einzelnen Personen spiegelt sich die Revolte in Bielau genau so, wie Wolff sie geschildert hat. Noch einmal zündet Dreißigers Wort, die Weber könnten ja Gras fressen, wenn sie hungerten; der Vorschlag, die Gebäude der Fabrikanten anzuzünden, wird durch den Hinweis auf die Feuerversicherungsgelder abgelehnt, und die Mahnung des alten Hilse an das Zuchthaus beantwortet der rote Bäcker wild lachend: „Das war mir schonn lange recht. Da kriegt ma wenigstens satt Brot, Vater Hilse!" Der alte Hilse hält in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit an seinem Gott und seinem König fest. Aber alle seine Kameraden verlassen ihn zum Kampfe mit dem Militär, zuletzt auch sein eigener Sohn; er bleibt mit seinem tauben Weibe und einem unmündigen Enkelkinde allein zurück. Da endet eine verirrte Kugel sein Leben und damit das Schauspiel.

Man sieht aus dieser kurzen Gegenüberstellung wohl zur Genüge, in wie umfangreichem Maße die Darstellung Wolffs zum Knochenbau von Hauptmanns Drama geworden ist: Wir sagen das nicht zu Hauptmanns Unehre, im Gegenteil – wir kommen gleich darauf zurück –, aber jener einfache Sachverhalt sollte das schwatzschweifige Gerede von der „Abklärung alles Politischen und Sozialistischen" usw. wirklich unmöglich machen. Die ungeschminkte Bourgeoisie hat in ihrer Weise und von ihrem Standpunkt aus ganz recht, wenn sie sagt: die „Weber" sind ein sozialistisches Tendenzstück und damit basta! Darin liegt eine gewisse Berserkerlogik, mit der sich leben lässt. Nur von den „genialen" Kritikern der „Moderne", die gern mit sozialen Redensarten um sich werfen, aber vor allem mit dem Kapitalismus gut Freund bleiben möchten, wollen wir uns eine bedeutende Dichtung doch lieber nicht in „reinere Regionen" entrücken lassen.

Und eine bedeutende Dichtung sind die „Weber". Es ist das gute Recht des Dramatikers, seinen Stoff zu nehmen, wo er ihn findet, und Hauptmann hat gewiss nicht seine Beziehungen zu Wolff zu verwischen beabsichtigt, wenn er in der Widmung an seinen Vater Familienerzählungen – er ist der Enkel eines schlesischen Webers — als den „Keim" seiner Dichtung nennt. Was an Hauptmann noch mehr erfreut als sein schönes Talent, das ist die ehrliche Selbstkritik. Vor kaum vier Jahren priesen „geniale" Kritiker seinen dramatisch so ziemlich und sozial gänzlich missglückten Erstling „Vor Sonnenaufgang" über den Schellendaus, und diese fade Reklame hatte einen noch sehr jungen Dichter wohl berauschen können. Aber Hauptmann ist ruhig seinen Weg weitergegangen, und dass er kaum drei Jahre später schon aus dem Born eines echten Sozialismus zu schöpfen verstanden hat, das stellt ihm nur ein ehrendes Zeugnis aus.

Mit wie sicherer und tapferer Hand der Dichter den Stoff im Einzelnen gestaltet hat, lässt sich aus unserer flüchtigen, nur für einen beschränkten Zweck entworfenen Skizzierung des Schauspiels natürlich nicht entnehmen. Gerade das Fernhalten aller bürgerlichen Romantik und das Festhalten an dem historischen Verlauf der Dinge machte die Aufgabe des Dichters um so schwieriger und macht ihre gelungene Lösung um so erfreulicher. So wie Hauptmann den gegebenen Stoff nahm, musste er die Massen selbst in dramatische Bewegung setzen und noch dazu in einer mit episodenhafter Breite sich langsam fortschiebenden Handlung, ohne die auf- und absteigende Bewegung um einen beherrschenden Mittelpunkt. Es war bis zu einem gewissen Grade ein Bruch mit aller bisherigen Bühnentechnik, den Hauptmann unternahm, und das kecke Wagnis ist ihm in hohem Grade gelungen. In hohem Grade, denn an manchen Einzelheiten mag man mit Recht oder Unrecht mäkeln. Aber jeder neue Wurf hat das gute Recht, aufs Ganze und Große hin geprüft zu werden, und da gebührt dem Dichter der „Weber" ein kräftiges Glückauf!

Keine dichterische Leistung des deutschen Naturalismus kann sich nur entfernt mit den „Webern" messen; ebendeshalb machen sie aber auch der großmäuligen Spielart des Naturalismus den Garaus. Sie stehen in schärfstem Gegensatze zu jener „genialen" Kleckserei, die irgendein beliebiges Stück banaler und brutaler Wirklichkeit mit photographischer Treue abkonterfeit und damit wunder was erreicht zu haben glaubt. Die „Weber" quellen über von echtestem Leben, aber nur, weil sie mit dem angestrengten Fleiße eines feinen Kunstverstandes gearbeitet sind. Eine wie sorgfältige Abtönung und Abwägung war notwendig, um einem bunten Mosaik genrehafter Szenen dramatische Spannung zu geben! Welch ernstes Nachdenken gehört dazu, jene Fülle lebendiger, meist trefflich und mitunter ganz meisterhaft geratener Gestalten zu schaffen, aus denen die handelnden Massen bestehen mussten, wenn sie wirklich in dramatische Bewegung gesetzt werden sollten. Hauptmann weiß sehr wohl, dass der Fleiß heutzutage mehr denn je die bessere Hälfte des Talents ist.

Nach alledem musste man der ersten Aufführung der „Weber" mit besonderer Spannung entgegensehen. Sie war in der Tat sehr interessant, wenn auch die beifällige Aufnahme des Schauspiels durch das Publikum der Freien Bühne nichts entscheiden konnte. Dies Publikum gehört durchweg der Bourgeoisie, aber nicht durchweg den erlesensten Schichten der Bourgeoisie an. Börse und Presse – das sagt genug. Aber die Vorstellung ließ gar keinen Zweifel an der mächtigen revolutionären Wirkung, die das Schauspiel auf ein empfängliches und genussfähiges Publikum haben müsste, und wenn Hauptmann noch Hoffnungen auf die Freigabe seines Stückes für die öffentliche Aufführung gehabt haben sollte, so mag er sie nunmehr nur begraben. Noblesse oblige – und den „Webern" steht es besser an, sich mit Würde in – die preußische Polizei zu fügen, als im Verwaltungs-Streitverfahren darum zu hadern, dass sie „historische" Zustände schildern und nicht politische. Seien wir doch ehrlich: sie sind revolutionär und höchst „aktuell". Doch, um nochmals auf die Vorstellung der Freien Bühne zu kommen, so zeigte sie in lehrreicher Weise, wie eine gesunde Neuerung gleich andere gesunde Neuerungen nach sich zieht. Mit dem dramatischen Einzelhelden schwindet auch der schauspielerische Virtuose. Es waren meist ganz unbekannte, von einem halben Dutzend Theater vorwiegend zweiten oder dritten Ranges zusammengeholte Mimen, welche die „Weber" im Neuen Theater spielten, aber – wiederum von manchen Einzelheiten abgesehen – die Darstellung war wie aus einem Guss, und keine der fünfzig sprechenden Personen ließ es ganz an sich fehlen. Freilich hatte Hauptmann auch das Glück gehabt, in Cord Hachmann einen kongenialen Regisseur zu finden.

Fragen wir schließlich: wird die eine Schwalbe einen Sommer machen? Wird auch nur Hauptmann sich auf der Höhe halten, die er mit den „Webern" erreicht hat, so ist die Antwort ein Achselzucken. Die Tatsachen warnen etwaige Illusionäre zu eindringlich. Die Polizei verbietet die öffentliche Aufführung der „Weber"; die Bourgeoisie, die durch dies Verbot gegen unliebsame Erfahrungen geschützt werden soll, lässt sich das Stück eines schönen Sonntags zwischen Lunch und Dinner als heimlichen Leckerbissen servieren; die Massen aber, denen dies Massenschauspiel gehört, können aus ökonomischen Gründen gar nicht daran denken, es anders als höchstens einmal in sehr unvollkommener Aufführung zu sehen. Unter solchen Umständen – wie soll sich eine dramatische Kunst entwickeln? Woher soll ein junger Dramatiker die Nerven von Stahl nehmen, um den ach! so sanft sich einschmeichelnden Lockungen der Bourgeoisie zu widerstehen? Aber freuen wir uns über die Schwalbe deshalb nicht weniger, weil sie wohl keinen Sommer machen wird.

1 Über den langwierigen Streit mit der polizeistaatlichen Zensur, der der ersten öffentlichen Aufführung der „Weber" vorausging und ihr späterhin auch noch folgte, siehe Mehrings Aufsätze „Entweder-Oder" (8. März 1893) und „Zum Verbot der ,Weber'" (6. März 1895). – Siehe auch „Um die Aufführung der , Weber' in der Freien Volksbühne" (März 1893) und „Hauptmanns ,Weber'" (Dezember 1893).

2 Wilhelm Wolffs Schrift „Das Elend und der Aufruhr in Schlesien" wurde erstmals nach 1845 von Mehring in der Monatsschrift „Die Volksbühne", 2. Jg. 1893/94, Heft 4, im Dezember 1893 wieder veröffentlicht.

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