Franz Mehring 18950306 Zu wenig und zu viel

Franz Mehring: Zu wenig und zu viel

(Auszug – Zum Verbot der „Weber")

6. März 1895

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 738/739. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 286 f.]

[…] Herr Persius, der Präsident des Oberverwaltungsgerichts, ist um seinen Abschied eingekommen, weil der Minister des Innern das Urteil dieses Gerichts, das Gerhart Hauptmanns „Weber" für die Aufführung im Deutschen Theater freigab1, im Abgeordnetenhause mit einigen unartigen Reden kritisiert hatte. Herr v. Koller erklärte in dieser würdigen Geldsackkammer, deren grotesker Bildungsgrad genügend dadurch gekennzeichnet wird, dass Herr Stoecker in ihr als einsamer Kämpe für die Freiheit der Wissenschaft mit der konservativ-nationalliberal-ultramontanen Mehrheit ringt – also Herr v. Koller erklärte in dieser Kammer eins der wenigen Dramen, die rühmliches Zeugnis dafür ablegen, dass es wirklich noch eine deutsche Literatur gibt, für ein sittenloses Stück, und ohne Zweifel stimmt diese Kritik vortrefflich zu der Tatsache, dass die nicht mehr zwei-, sondern schon ganz eindeutigen Harlekinaden des Adolf-Ernst-Theaters in Fürstenpalästen gespielt und mit goldenen Ehrenmedaillen ausgezeichnet werden. Herr v. Koller ermunterte ferner die Polizeibehörden, sich an das Urteil des Oberverwaltungsgerichts keineswegs zu kehren, sondern die Aufführung der „Weber" wo immer möglich zu hindern. Dieser liebenswürdige Wink soll Herrn Persius veranlasst haben, um seine Entlassung einzukommen, und wenn er sich selbst als tönernen Topf einschätzt, so muss er Herrn v. Koller wohl für einen eisernen Topf halten, womit dann allerdings gesagt wäre, dass der Bund der Landwirte2, der einen so guten Freund in Koller besitzt, noch lange nicht zu verzagen braucht.

Wir schreiben: soll, weil von gewissen interessierten Seiten die sonst gut beglaubigte Nachricht von dem Abschiedsgesuche des Herrn Persius bestritten wird; auch hat sie noch nicht im „Reichsanzeiger" gestanden. Möglich, dass noch Versuche gemacht werden, den Vorsitzenden des Oberverwaltungsgerichts zum Bleiben zu bewegen und dass diese Versuche gelingen. Herr v. Koller hat seinen Beruf zum genialen Staatsmann in erschütternder Weise dadurch bewiesen, dass er einen hochgestellten Richter wegen eines richterlichen Urteils öffentlich anrempelte, just in dem Augenblicke, wo der Regierung alles daran liegt, die erhabene Unnahbarkeit der preußischen Richter in ein glänzendes Licht zu setzen, um die Kautschukparagraphen der Umsturzvorlage durchzudrücken. Geht Herr Persius wirklich,, wie er unzweifelhaft gehen will, so ist dem ganzen Gerede von dem „Vertrauen auf unsere Richter" der Boden unter den Füßen weggezogen. Man darf sich nicht etwa einbilden, dass der Entscheid des Oberverwaltungsgerichts in Sachen der „Weber" irgendwelchen revolutionären Trotz atmete oder auch nur das gute Recht der Literatur und Kunst gegen den Polizeiknüppel wahrte. Im Gegenteil, er bewegte sich ganz in dem ängstlichen und engbrüstigen Tempo patriotischer Gesinnung, indem er die „Weber" für das Deutsche Theater freigab, weil von dem Publikum dieser Luxusbühne unter keinen Umständen Störungen der öffentlichen Ruhe zu erwarten seien. Er ging einer grundsätzlichen Entscheidung vorsichtig aus dem Wege und trotz alledem! Darnach begreift sich, dass von den noch halbwegs zurechnungsfähigen Kämpfern gegen den Umsturz das Entlassungsgesuch des Herrn Persius krampfhaft abgeleugnet wird, dass vermutlich nicht weniger krampfhafte Anstrengungen gemacht werden, ihn in seinem Amte zu erhalten. […]

1 Durch den Spruch des Oberverwaltungsgerichts wurden am 25. September 1894 „Die Weber" zur öffentlichen Aufführung am Deutschen Theater freigegeben.

2 Bund der Landwirte – 1893 in Berlin gegründete politische Organisation der deutschen Großagrarier. Forderte auf wirtschaftlichem Gebiet hohe Schutzzölle usw., trat auf politischem Gebiet mit rechtsgerichtetem, konservativem Programm auf. Ging 1921 im Reichslandbund auf.

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