Franz Mehring 19001010 Berliner Theater (Sudermann, „Johannisfeuer")

Franz Mehring: Berliner Theater

Sudermann, „Johannisfeuer"

10. Oktober 1900

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Erster Band, S. 55-57. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 259-262]

Mit seinem „Johannisfeuer", einem Schauspiel in vier Aufzügen, das am 5. dieses Monats zum ersten Male im Lessing-Theater aufgeführt wurde, hat Sudermann nicht viel mehr Glück gehabt als mit dem unglücklichen Märchendrama, womit er vor bald zwei Jahren eine so heftige Niederlage erlitt. Manche Kritiker stellen das „Johannisfeuer" sogar noch unter die „Drei Reiherfedern", und das pessimistische Urteil lässt sich nicht uneben begründen: es ist kompromittierender für diesen Dramatiker, wenn er auf seinem eigentlichsten Gebiet, dem modernen Gesellschaftsstück, eine völlige Niete zieht, als wenn er im Märchendrama stolpert, wo er nach seinen Gaben nichts zu suchen hat. Immerhin aber ist auf der anderen Seite zu erwägen, dass Sudermanns neuestes Stück doch nicht in jeder Beziehung eine so erbarmungswürdige Trostlosigkeit ist wie sein Märchendrama ; es sieht in den ersten Akten nach etwas aus und hat wenigstens eine lebendige und ursprüngliche Gestalt, der es denn auch wohl zu danken ist, dass es sich einstweilen auf der Bühne erhält.

Die dramatische Psychologie ist niemals Sudermanns Stärke gewesen; seine Gestalten gehen gewöhnlich nicht ihren eigenen Gang, sondern tanzen nach dem Kommando ihres Erzeugers; Sudermann ist ein Thesendramatiker, etwa in der Art des jüngeren Dumas, was unseres Erachtens eine durchaus nicht verächtliche Sache ist und es am wenigsten vor zehn Jahren bei Sudermanns erstem Auftreten war. Seine „Ehre" und selbst noch seine „Heimat" werden in der Geschichte des deutschen Theaters ihre bestimmte Stelle behaupten. Aber soviel man sonst dem Thesendramatiker nachsehen mag, so braucht er allerdings eines notwendig: nämlich eine These, die einige Stunden hindurch zu fesseln vermag. Hat er sie nicht und piepst es nur unausgesetzt aus allen Löchern des Stückes: Hier ist die These, während sie niemals zum Vorschein kommt, so ist er freilich schlimm daran, und seine Hörer sind es noch viel mehr. Eben dies aber ist das Pech des „Johannisfeuers", dass kein Mensch zu begreifen vermag, wohinaus Sudermann will: ohne Schwerpunkt in sich selbst, schwankt das Schauspiel hin und her, bis es an seiner inneren Hohlheit zusammenbricht.

Schon der Titel winkt nach einer tieferen Bedeutung, und in der Tat wird einiges Gerede verbrochen über den christlichen und den heidnischen Sinn der Johannisnacht. Praktisch betrachtet die Heldin sie als Liebesfreinacht und ergibt sich in ihr einem geliebten Manne, der einen Tag darauf ihre Pflegeschwester heiraten soll. Die beiden Sünder sind nun aber auch „Notstandskinder", worüber sie einige Redensarten machen, an deren tieferem Sinne man sich wieder hoffnungslos den Kopf zerbricht. Der Vater des Jünglings war in den ostpreußischen Notstandsjahren, nach 1866, bankrott gegangen, moralisch wie finanziell, aber sein Schwager hatte dem Toten die Ehre gerettet und den Sohn erzogen. Derselbe Schwager, ein „Übermensch" nach Sudermanns Geschmack, das will sagen, ein recht fader Polterer von ostpreußischem Gutsbesitzer, der sich abwechselnd an Schimpfworten und Schnäpsen berauscht, hatte gleichzeitig ein kleines Mädchen ins Haus genommen, das Kind einer diebischen und trunksüchtigen Landstreicherin, das sonst auf der Landstraße umgekommen wäre. Die beiden „Notstandskinder" essen das Gnadenbrot, das ihnen der ungeschlachte Pflegevater in seiner besonderen Weise würzt. Das Mädchen wird zwar „Heimchen" genannt und ist der Liebling der Familie, tut aber tatsächlich Aschenbrödeldienste für die leibliche Tochter des Hauses, ein ganz abgeschmacktes Gänschen, während der Knabe, durch die rohen Anspielungen des Pflegevaters auf den moralischen Bankerott seines wirklichen Vaters gereizt, sich selbständig macht, sobald er auf eigenen Füßen stehen kann; als angesehener Baumeister in Königsberg braucht er sich den Pfifferling um den Rüpel von Pflegevater zu scheren, der durch seine Brutalität jeden Anspruch auf Dank verwirkt hat. Da nun die „Notstandskinder" sich lieben, so steht nichts im Wege, dass sie sich heiraten und aller „Notstand" sich in vollkommenes Wohlgefallen auflöst.

Allein da Sudermann einen dramatischen Konflikt braucht, so geht die Sache nicht so einfach. Das „Heimchen" stößt den liebenden Baumeister finster zurück, weil es glaubt, dass der adelige Herr nimmermehr einen Findling von der Landstraße heiraten werde, und der Baumeister hält nun um die leibliche Tochter des Hauses an, die er übrigens nicht ausstehen kann. Auch um ihre reiche Mitgift ist es ihm nicht zu tun; er weist den schnöden Mammon vielmehr stolz ab und muss sich dafür von dem würdigen Schwiegervater einen „Schlaps" schelten und nochmals an die verfallenen Ehrenscheine seines toten Vaters erinnern lassen. So wird ihm sein „Notstand" abermals klar, während das Heimchen, das als Aschenbrödel die Wohnung des jungen Paares in Königsberg einrichten muss, ihren „Notstand" erkennt, als sie unter den Büchern des Bräutigams ein Heft an sie gerichteter Gedichte findet und daraus ersieht, dass er ehedem in legitimster Absicht mit ihr anzubändeln versucht hat. Daraufhin ergibt sie sich ihm nun in der illegitimsten Weise, in der Johannisnacht, vor dem Tage, an dem die Hochzeit des Brautpaares stattfinden soll.

Soweit die ersten drei Akte, die im Einzelnen nicht ohne theatralisches Geschick gemacht sind und namentlich durch einen jungen Hilfsgeistlichen gehalten wurden, eine Art Naturburschen von christlichem Prediger, der einen frischen Luftzug in die aus Rohheit und Sentimentalität gemischte Atmosphäre dieses ostpreußischen Gutsbesitzerheims bringt. Es kam nun alles auf den vierten Akt an, der die Lösung eines dramatischen Konflikts bringen sollte, von dem man ohne unbillige Übertreibung sagen durfte, dass er an allen Gebrechen eines Thesenstücks litt. Tatsächlich jedoch bringt der letzte Akt nichts als einiges wirre Gerede der „Notstandskinder", die schließlich aus „Dankbarkeit" resignieren; der Bräutigam schiebt mit der legitimen Braut und den lieben Schwiegereltern aufs Standesamt ab, während das „Heimchen" einsam zurückbleibt und von Schmerz zerrissen ins Taschentuch beißt. Darüber fällt der Vorhang, und das genarrte Publikum kann sich nach Hause trollen.

Wie die Freunde Sudermanns die „Drei Reiherfedern" damit zu entschuldigen suchten, dass in dies Märchendrama persönliche Erlebnisse hineingeheimnist sein sollten, die der profanen Welt unbekannt seien, so suchen sie das „Johannisfeuer" damit herauszureden, dass es eine Jugendarbeit des Dichters sei und als solche milder beurteilt werden müsse als die Werke des gereiften Meisters. Die eine Ausrede ist der anderen wert. Sudermann ist zwar Vorsitzender des Goethe-Bundes, dieser ärgsten Travestie auf Goethes großen Namen, aber deshalb hat er doch noch nicht das Recht, Allotria zu treiben, die etwa an diese oder jene Schwäche des gealterten Goethe erinnern könnten. Ist sein Talent bereits greisenhafter Schwäche verfallen, so mag er ruhig einpacken. Jedoch treffen jene Ausreden kaum das Richtige; gerade das „Johannisfeuer" zeigt in seinen erträglicheren Partien, dass Sudermann sein Talent, wie hoch oder wie niedrig man es einschätzen mag, immerhin noch besitzt, und dass ihm nur der Atem ausgegangen ist, Thesen durchzufechten, die sich mit den sozialen Konflikten der Gegenwart berühren. Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen dem Dichter des „Johannisfeuers" und dem Vorsitzenden des Goethe-Bundes; sucht man zu entdecken, was hinter dem großen Aufwand von Worten steckt, so findet man in beiden Fällen ein lächerliches Nichts.

Bleibe man also mit allen Ausreden hübsch zu Hause und lasse man sich an der betrübenden, aber unabweisbaren Tatsache genügen, dass der Dichter des „Johannisfeuers" und der Vorsitzende des Goethe-Bundes gleichermaßen ausgepfiffen zu werden verdienen.

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