Franz Mehring 19020205 Berliner Theater (Herm. Sudermann, „Es lebe das Leben")

Franz Mehring: Berliner Theater

Herm. Sudermann, „Es lebe das Leben"

5. Februar 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 599-601. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 23-26]

Das neue Theaterstück Hermann Sudermanns, „Es lebe das Leben", ein angebliches Drama in fünf Aufzügen, das am 1. Februar zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde, brachte zwar keine Erfüllung, aber doch eine Hoffnung. Die Hoffnung nämlich, dass damit der tiefste Punkt des Niederganges erreicht sei, den die dramatische Produktion in Deutschland, soweit sie überhaupt literarische Ansprüche erhebt, seit Jahren genommen hat. Damit ist noch nicht gesagt, dass es von nun an besser werden wird, aber es kann wenigstens nicht noch schlimmer werden, und das ist in seiner Art auch ein Trost.

Gewiss waren auch Sudermanns „Drei Reiherfedern" oder Hauptmanns „Schluck und Jau" harte Bissen, aber sie hatten vor dem Toast auf das Leben, den Sudermann neuestens dramatisiert hat, den einen, wenn nicht Vorzug, so doch mildernden Umstand voraus, dass ihre märchenhafte Romantik die Unnatur der Handlung und der Personen nicht so krass hervortreten ließ, wie sie in Sudermanns neuester Leistung hervortritt, die aus der unmittelbaren Gegenwart schöpft und sogar mitten in die Tagespolitik hineinführt. Es ist eine peinliche und fast unerträgliche Folter, angebliche Menschen unserer Zeit mehrere Stunden lang in der Sprache oder wenigstens in den Worten unserer Zeit Empfindungen und Gedanken produzieren zu hören, die eine abstoßende Karikatur auf das wirkliche Leben unserer Zeit sind.

Vorweg sei Verwahrung gegen den Verdacht eingelegt, als ob unser Urteil irgendwie dadurch beeinflusst werde, dass ein sozialdemokratischer Agitator eine so alberne wie schäbige Rolle in dem Stücke spielt. Er richtet durch seine schofle Gesinnung großes Unheil an, tobt recht wie ein wilder Eber unter der feinsten Blüte edler Menschheit, ruiniert einen Baron und einen Grafen und jagt sogar eine leibhaftige Gräfin in den Tod. Ein ehemaliger Sekretär des Barons, ist er zur Sozialdemokratie übergegangen, und in einem Wahlkampf spielt er gegen den Baron ein heimliches Liebesverhältnis aus, worin dieser viele Jahre früher mit der Gräfin gestanden hat. Sudermann will nun keineswegs sagen, dass eine so unanständige Handlungsweise die Art sozialdemokratischer Agitatoren sei, aber indem er sie in eine höhere Sphäre erheben will, macht er mit seiner wunderbaren Gestaltungsgabe aus dem Lumpen einen Trottel.

Nämlich der sozialdemokratische Agitator begeht seinen Schelmenstreich nur, um dem nunmehrigen Sekretär des Barons, einem ehrsamen Predigtamtskandidaten, an einem drastischen Falle zu beweisen, wie wurmstichig die Stützen von Thron und Altar seien. Herr Sudermann macht der bürgerlichen Gesellschaft das denkbar feinste Kompliment, indem er unterstellt, dass ein sozialdemokratischer Agitator ihre Gebrechlichkeit nicht anders zu erhärten wisse, als indem er unter einem schmählichen Vertrauensbruch ein unerlaubtes Verhältnis zwischen einem Baron und einer Gräfin aus dem Schutt einer fünfzehnjährigen Vergangenheit ausgrabe. Im Übrigen erweist sich sein finsterer Fanatiker als reiner Gemütsmensch, indem er, nach vollbrachter Untat, dem Baron die alten Liebesbriefe der Gräfin, die irgendwie in seine Hände geraten waren, freiwillig ausliefert und dabei eine kleine politisch-moralische Vorlesung hält. Er sagt, Prinzipien seien eiskalte Dinge, die man nicht berühren könne, ohne ein Stück Haut daran hängenzulassen; wer das Leben ernsthaft nehme, werde immer zum Märtyrer und ähnliche Tiraden mehr, wie sie wirklich nur der Vorsitzende des Goethe-Bundes einem Sozialdemokraten in den Mund legen kann. Vielleicht will Sudermann damit auch für seinen geliebten Bund plädieren, der sich in seiner Lebenswärme vor eiskalten Dingen scheut und, wenn anders die Theorie seines Vorsitzenden richtig ist, noch keine Anlage zum Märtyrer bekundet hat.

Indessen, wie gesagt, eine besondere Animosität gegen die Sozialdemokratie bekundet der Dichter nicht. Wenn er einen sozialdemokratischen Agitator als lächerliche Fratze schildert, so gilt ihm diese Fratze doch als eine tragische Gestalt, und nach demselben tragischen Rezept verarbeitet er seinen Grafen und seinen Baron, insbesondere auch seine Gräfin, die Heldin des Stückes. Nach dem kleinen Techtelmechtel mit dem Baron hat sie sich resigniert, weil sie in dem Liebsten die genialen Anlagen eines feudalen Parteiführers erkannt hatte. Um diese Anlagen zu fördern, wird sie selbst zur feudalen Egeria, an deren Herde die Prudelwitze und Strudelwitze ihren Brotwucher und ihre Branntweinliebesgaben zurecht brauen. Sie veranlasst sogar ihren gräflichen Dummkopf von Gatten, sein Reichstagsmandat an den Baron abzutreten, und eben bei dieser Nachwahl unternimmt der sozialdemokratische Agitator seinen Überfall. Es kostet einige Mühe, dem gräflichen Hahnrei die Sache beizubringen, aber am Ende des dritten Aktes hat er sie glücklich kapiert und will den Schänder seiner Hausehre auf dem kavaliersmäßigen Wege des Duellmords beseitigen. Allein das darf nicht sein, denn der Hauptspaß soll noch kommen.

Um die feudale Partei nicht durch einen Skandal zu schädigen im Moment, wo sie so großartige Fischzüge plant – und Herr Sudermann bringt selbst die agrarische Unersättlichkeit ins Spiel –, dürfen sich der Baron und der Graf nicht schießen. Ein amerikanisches Duell wird zwar ventiliert, aber der Baron lehnt diese „Banalität" ab. Dagegen verspricht er selbst, innerhalb zweier Tage sich zu töten. Im Interesse der Partei will er vorher noch eine Reichstagsrede für die Heiligkeit der Ehe schwingen, was ihm auch so gut gerät, dass die Welt sich vor Bewunderung nicht zu lassen weiß. Ein leibhaftiger Staatssekretär erscheint bei dem Baron, um zu melden, dass Majestät erklärt habe, solchen Mann könne er brauchen. Auf dem Gipfel eines Erfolges, wie ihn kein feudaler Baron sich schöner wünschen kann, ist es natürlich bitter, von der süßen Gewohnheit des Daseins zu scheiden, aber unser Baron hält auf Kavaliersparole und ist entschlossen, sich zu erschießen. Da rettet seine ehemalige Geliebte dem Throne seinen Mann.

Ihre inneren Kämpfe haben ihr ein Herzleiden zugezogen, das sich nur noch durch die schärfsten Mittel bändigen lässt. Sie braucht die giftigen Arzneien, die ihr von den Ärzten verschrieben sind, nur um eine winzige Dosis zu überschreiten und ist sofort ein Kind des Todes. Um die glorreiche Jungfernrede des Barons zu feiern, veranstaltet sie nun ein Frühstück, dem der Graf und der Baron beiwohnen müssen, trotz ihrer Todfeindschaft, aus dem edlen Beweggrund, dass die heilige Sache der feudalen Beutepläne nicht einmal durch den Schein eines Skandals gefährdet werden dürfe. Die beiden Biedermänner trinken sogar gegenseitig auf ihr Wohl; dann aber ergreift die Gräfin das Wort zu dem Toaste: Es lebe das Leben! verschwindet gleich darauf im Nebenzimmer und stirbt. In einem hinterlassenen Briefe enthüllt sie dem Baron und dem Grafen, sie habe sich selbst getötet, aber die Welt müsse und werde ihren Tod auf ihr Herzleiden schieben. So habe sie jeden Skandal vermieden, jedoch nun dürfe sich der Baron nicht erschießen, denn dann würde sein Selbstmord mit ihrem Tode in Verbindung gebracht werden, und der Skandal wäre dann doch da. Im Interesse der Partei müsse der Baron leben, weil sie gestorben sei. An der noch nicht erkalteten Leiche lesen die Jammerkerle den Brief und entschließen sich wirklich, fernerhin nebeneinander Thron und Altar zu stützen. Der Baron sagt, er werde leben, weil er gestorben sei. Mit dieser abgeschmackten Pointe schließt würdig das abgeschmackte Stück.

Von seinen Anfängen an war Sudermann ein Stück Poet und ein Stück Macher. Aber sehr bald bekam der Macher die Gewalt über den Poeten und verschlang ihn allmählich gänzlich. Jetzt ist nun auch der Macher fertig. Eine gewisse Mache lässt sich ja auch noch in diesem sogenannten Drama erkennen. Gleich der sozialdemokratische Agitator ist so angelegt, als wäre er eine dichterisch geschaute Gestalt, während das Bourgeoispublikum sich doch sagen soll und muss: Trotz allen Prinzipgeschwätzes ist der Kerl ein Schuft. In anderer, aber ähnlicher Weise sucht Sudermann die etwaige Antipathie des Bourgeoispublikums gegen seine feudale Egeria dadurch im Keime zu ersticken, dass er einige feudale Parteihäuptlinge im Stile des Simplizissimus als Karikaturen zeichnet. Aber diese Art Mache ist selbst für das Publikum des Berliner Luxustheaters zu trostlos. Bei der ersten Aufführung hat eine eifrige Claque äußerlich noch über die Opposition gesiegt, aber schon bei der nächsten Aufführung, der wir beiwohnten, herrschte jene Eiseskälte, die nach Sudermann eine Eigenschaft der Prinzipien ist und in diesem Falle einer prinzipiellen Ablehnung seiner Theatermache allerdings verzweifelt ähnlich sah.

Die Handlung des Stückes ist sinnlos, und seine Gestalten sind Marionetten, ohne einen Funken wirklichen Lebens. Es ist nicht einmal zu erkennen, an welchem Tendenzdraht Herr Sudermann sie tanzen lässt. Wollte er eine dramatisch psychologische Studie über feudale Ehrbegriffe schreiben? Dann hätte er nur die eine Wirkung erzielt, dass der triviale Duellmord im Lichte einer sehr geistreichen, menschlichen und natürlichen Sache erscheint, gegenüber den Schuld- und Sühnebegriffen, die in diesem Stücke entwickelt werden. Aber vielleicht hat Herr Sudermann etwas anderes gewollt; wer mag es wissen bei der Ohnmacht, die er bekundet, zu gestalten, was sein Herz bewegt? Wir müssen uns getrösten, dass es noch schlimmer nun eigentlich doch wohl nicht kommen kann.

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