Franz Mehring 18990123 Berliner Theater („Die drei Reiherfedern" von Herm. Sudermann)

Franz Mehring: Berliner Theater

Die drei Reiherfedern" von Herm. Sudermann

23. Januar 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 601/602. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 256-258]

Hermann Sudermann hat die Briefe Gerhart Hauptmanns gefunden: er versucht sich jetzt auch im Märchendichten. „Die drei Reiherfedern", die am 21. Januar im Deutschen Theater zum ersten Male aufgeführt wurden, sind ein dramatisiertes Märchen in fünf Akten. Wären sie das Erstlingswerk eines unbekannten Dichters gewesen, so hätten sie zu einem jener Theaterskandale geführt, womit hierzulande gänzlich misslungene Stücke begrüßt zu werden pflegen, gewiss nicht zum Ruhme der Reichshauptstadt; da Sudermann der Verfasser war, so haben seine zahlreichen Freunde die gänzliche Niederlage noch mühsam verschleiert, aber damit nicht aus der Welt geschafft; man kann dies Drama nicht treffender kennzeichnen, als wenn man sagt, dass mit ihm verglichen Hauptmanns „Versunkene Glocke" noch ein großes Meisterwerk sei.

Mit allem Aufgebot schöner Redensarten kommt man nicht über die Tatsache hinweg, dass märchenhafte Stoffe sich nicht für die Tragödie eignen, die nur auf den psychologischen Fundamenten alles menschlichen Handelns beruhen kann. Spiegeln die dramatischen Vorgänge nicht unser eigenes Triebleben wider, muss man sich sagen, dass kein Mensch mit fünf gesunden Sinnen im gegebenen Falle auf den Gedanken kommen könne, so zu handeln wie der dramatische Held, so wird die dramatische Wirkung auf unheilbare Weise zerstört. Gerade dadurch unterscheidet sich das Märchen aber von Sage, Mythus und Fabel, dass darin die Handlungen von Personen durch Beweggründe bestimmt werden, die sonst nur im Traumleben oder in der Kinderwelt gelten. Der märchenhafte Stoff lässt sich daher zwar episch und lyrisch behandeln, oder auch im phantastischen Lust- oder Singspiel, wie Shakespeare in glänzender Weise getan hat. Aber dem tragischen Drama widerstrebt er seiner innersten Natur nach.

Das sind sicherlich ganz alte und hausbackene Sätze; man kann in jeder landläufigen Literaturgeschichte den Nachweis finden, dass sich das dramatisierte Märchen in den Zeiten des literarischen Verfalls einzustellen pflegt; wer kennt heute noch die Leistungen Tiecks auf diesem Gebiete, eines Dichters, der in seiner Art doch sehr respektabel war und zeitweise selbst neben Goethe gestellt wurde. Wenn man dagegen einwendet, mit den modernen Märchendramen sei es ganz etwas anderes, denen sei mit so abgedroschenen, längst trivial gewordenen Sätzen nicht mehr beizukommen, vielmehr werde sich an ihnen eine neue Ästhetik herausbilden, so hat diese Auffassung zwar den Reiz der Neuheit für sich, aber sonst nichts hinter sich, am wenigsten die modernen Märchendramen selbst, die allzu handgreiflich mit alten Scheren aus alten Stoffen zurechtgeschnitten worden sind, als dass sich von ihnen die Geburt einer neuen Kunstperiode erwarten ließe. Wenigstens dies eine Verdienst kann man den „Drei Reiherfedern" zubilligen, dass sie mit ihrer groben hölzernen Mache, mit ihrem klapperigen und unfreiwillig komischen Zaubermechanismus, mit ihrem unverständlichen Tiefsinn, mit ihren mühsam zusammengeflickten Reimen jenen billigen Trostgründen den Todesstoß versetzen, die aus der Not so gern eine Tugend machen möchten.

Die wirkliche Not der modernen Dramatiker ist ihre Unlust oder ihr Unvermögen, Stoffe zu wählen, worin das moderne Leben wirklich mit heißen und starken Pulsschlägen vibriert. Was sie in dieser Weise etwa noch geleistet haben, das haben ja Hauptmann und Sudermann, so verschieden sie unter sich sind, noch am ehesten geleistet, und es wäre eine ganz unverständliche Schrulle, wenn sich gerade diese Dichter um nichts und wieder nichts der Märchendramatik zugewandt hätten. Insofern mag man wohl sagen, dass ein tieferer Sinn im märchenhaften Spiele liegt, aber es ist kein Sinn, der erfreuliche Ausblicke auf die künstlerische Entwicklung der Gegenwart eröffnete. Wie schon bei der „Versunkenen Glocke", so wird auch bei den „Drei Reiherfedern" von den Freunden des Dichters gesagt: ja, da steckt viel persönliches Erlebnis drin, das sich heute noch nicht enträtseln lässt, das seiner biographischen Aufklärung harrt; womöglich wird auch noch der alte Goethe zitiert, der in alle seine dichterischen Werke seine Persönlichkeit hineingelegt habe. Diese sonderbare Argumentation zeugt zunächst gegen sich selbst; sie konnte nur in einem alexandrinisch-greisenhaften Zeitalter entstehen, das Goethes Werke nicht mehr zu genießen, sondern nur noch mit philosophischen Staubbesen abzukehren vermag. Will man aber einen Augenblick ernsthaft auf sie eingehen, so wäre erstens zu sagen, dass Goethes Persönlichkeit auch danach war, und zweitens, dass Goethe das Individuelle ins Typische und deshalb Allgemein-Verständliche zu erheben wusste, wenigstens solange als er ein frischer Jüngling und ein kräftiger Mann war; die Neigung, den gleichgültigsten persönlichen Kram in seine Dichterwerke hineinzugeheimnissen, gehört erst seinem späteren Alter an. Auf die Nachwelt kommt nur, was in der Mitwelt gelebt hat; wenn irgendwo, so gilt auf dem Gebiete der Kunst: Nur der Lebende hat recht.

Hat Sudermann so interessante und lehrreiche Dinge erlebt, dass er sie der Öffentlichkeit nicht vorenthalten zu dürfen glaubt, so bieten sich ihm Möglichkeiten genug dazu, die teilnehmende Welt in die Kämpfe seines Herzens blicken zu lassen, ohne dass er die dramatische Kunstform zu misshandeln braucht, um in frostiger Märchensymbolik seelische Konflikte zu verrätseln. Die verwegensten Klopffechter der hiesigen Clique, die sonst nicht so leicht die Waffen strecken, gestehen doch, dass sie mit den „Drei Reiherfedern" nichts anzufangen wüssten, und ich verzichte um so lieber auf die Analyse des Dramas, als es mir nicht angemessen erscheint, dem Affen dieser knochenlosen Eitelkeit noch Zucker zu geben. Uhland, der zwar ein Romantiker war, aber dabei ein tapferer Freiheitskämpfer, sprach bitter genug davon, dass der alte Goethe in bewegter Zeit nur „sein groß, zerrissen Herz" betrachten konnte; den jungen Greisen nun gar der modernen Dramatik sollte man einfach den Rücken kehren, wenn sie mit Märchenfratzen kommen, wohinein sie, der Himmel weiß was, symbolisiert haben wollen. Vielleicht, dass sie auf diesem Wege noch zu kurieren sind!

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