Franz Mehring 18941009 Berliner Theater (Sudermann, „Die Schmetterlingsschlacht")

Franz Mehring: Berliner Theater

Sudermann, „Die Schmetterlingsschlacht"

9. Oktober 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 87-89. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 249-252]

Nach einer Reihe mehr oder minder großer Erfolge hat Hermann Sudermann vorgestern als Theaterdichter die erste Schlappe erlitten; seine „Schmetterlingsschlacht", eine Komödie in vier Akten, fiel bei ihrer ersten Aufführung im Lessing-Theater trotz einer im ganzen und großen sehr guten Darstellung durch. Das Schicksal war nicht unverdient. Doch ist dabei zweierlei zu unterscheiden. Gegen eine schweigende Ablehnung des Lustspiels wäre nichts einzuwenden gewesen, dagegen lieferte die Art und Weise, wie es niedergezischt und niedergetrampelt wurde, einen neuen Beweis für die Pöbelhaftigkeit und Verkommenheit des Bourgeoispublikums.

Es mag lockend genug für Sudermann gewesen sein, sich auch einmal auf dem Gebiete des Lustspiels zu versuchen und um den Kranz zu ringen, der für den Dramatiker am schwersten zu erreichen ist. In der „Ehre", in „Sodoms Ende", in der „Heimat" hatte er moderne soziale Konflikte mit einem gewissen Maße von Rücksichtslosigkeit und Wahrhaftigkeit behandelt, sie aber dann doch wieder mit so viel bürgerlicher Romantik versponnen, dass sich der satte Mastbürger davon mehr gekitzelt als geärgert fühlte. In der „Ehre" spielte ein märchenhafter Kaffeekönig, in „Sodoms Ende" ein Blutsturz, in der „Heimat" ein Schlagfluss den Gott aus der Maschine. Sudermann hat nun verkannt, dass im Lustspiel die Lösung des dramatischen Knotens eine sehr viel ernsthaftere ist. Hier heißt es entweder mit überlegenem Humor eingestehen, dass der bürgerlichen Welt eine Versöhnung ihrer klaffenden sozialen Gegensätze nicht mehr möglich ist, und die Hörer ohne irgendein Trostsprüchlein nach Hause schicken. Oder es heißt allerlei verbrauchte Mittel anwenden, von denen Sudermann in der „Schmetterlingsschlacht" sogar das allerverbrauchteste gewählt hat: die Heirat des reichen Erben mit der blutarmen Proletarierin unter dem Segen des hartherzigen, aber von den Tugenden der künftigen Schwiegertochter endlich bezwungenen Vaters. Was auf dem ersten Wege bei dem Bourgeoispublikum zu erreichen ist, hat Hauptmann mit seinem „Biberpelz" erfahren. War Sudermann dadurch gewitzigt, so hat er jedenfalls auf dem zweiten Wege nicht mehr erreicht. Seine Versuche, neuen Wein in den alten Schlauch zu gießen, verstimmten das Premierenpublikum, und dies ist sogar die einzige Entschuldigung der rohen Misshandlung, die es an Sudermann verübte: soll es mit einem albernen Schluss abgespeist werden, so will es auch die alberne Voraussetzung; es will die Albernheit „voll und ganz", so wie sie die Lindau und Wiehert in ihren sogenannten Lustspielen liefern.

In der Tat machte es einen abspannenden Eindruck, allerlei verblasste Possenfiguren, den geldprotzigen Fabrikbesitzer, den angenehmen Schwerenöter von Reisenden, den naiven Backfisch, die kuppelsüchtige Mutter heiratsfähiger Töchter, die kokette junge Witwe usw., vier lange Akte hindurch in nicht minder verblassten Situationen herumwimmeln zu sehen und die Anstrengungen zu beobachten, womit sie sich auf ein höheres „soziales" Niveau zu schwingen versuchten durch manchmal ganz witzige, meist aber sentimentale und langweilige Reden. Am ärgsten verfehlte es Sudermann an einem Punkte, in dem er sonst glücklicher zu sein pflegte: er traf durchaus nicht das Milieu, weder im Hause des kapitalistischen Fabrikanten noch im Hause der proletarischen Steuerinspektorswitwe. Der moderne Bourgeois ist, wir sagen nicht ein schöneres, aber ein ganz anderes Geschöpf als der belfernde und keifende und sich schließlich als gutmütiger Onkel entpuppende Pfennigfuchser, den Sudermann zeichnet, und ebenso wenig ist die „höhere" Beamtenwitwe, wie sehr sie am Hungertuche nagen mag, eine dreiste Kuppelmutter, die sich schließlich in weinerlicher Weise als Opfer der sozialen Zustände zu entschuldigen sucht. Sudermann schildert das Haus dieser Dame als ein kaum noch verhülltes Bordell mit nicht viel weniger trüben Farben wie in „Sodoms Ende" das Haus eines reichen Börsenjobbers; er übersieht dabei, dass die verhungernde Bürokratie und die verlumpende Bourgeoisie zwei sehr verschiedene soziale Typen sind. Die Witwe eines Steuerinspektors, die das Haus voll heiratsfähiger Töchter und nichts einzubrocken hat als eine jämmerliche Pension, mag in ihrer Weise auch kuppeln, aber sie kuppelt ganz anders als die Sündenmutter der Börse: nicht die Preisgabe, sondern die ängstliche Wahrung der äußeren Formen, nicht die Jagd nach reichen, sondern nach standesgemäßen Opfern gibt ihr den tragikomischen Anstrich.

Trotz mancher hübschen Einzelheiten ist Sudermanns „Schmetterlingsschlacht" ein verfehltes Stück. Gleichwohl hat es das Schicksal nicht verdient, das es bei seiner ersten Aufführung fand. Es lag etwas Bestialisches in der Art, wie es von einem wütenden Pöbel, der sonst das fadeste Zeug heißhungrig zu verschlingen pflegt, grausam zerfetzt wurde. Man mag über Sudermann denken, wie man will: jedenfalls ist er als Theaterdichter mit einer gewissen Ehrlichkeit an moderne Probleme herangetreten, und es war ihm bisher noch stets gelungen, wenn auch nicht ohne eine gewisse Unehrlichkeit, das Bourgeoispublikum übet die von ihm geführte Kontrebande hinwegzutäuschen. Nun, da er sich zum ersten Male in einer unhaltbaren Situation betreffen ließ, kühlte das Protzentum in der düsteren Empfindung, von ihm bisher ein wenig gefoppt zu sein, gründlich sein Mütchen. Wie ein genecktes Raubtier, das endlich einmal mit der Tatze gegen seinen Quälgeist ausholen kann, zerriss es den unglücklichen Dichter. Es war ein Toben so dumm wie widerwärtig und erträglich nur als ausgezeichnete Illustration zu der Behauptung, dass die Kunst ohne den Kapitalismus nicht denkbar sei.

Sehr harmonisch passt dazu in aller Disharmonie der Höllenlärm, den die inzwischen im Deutschen Theater erfolgte Aufführung von Hauptmanns „Webern" in der bürgerlichen Presse entfesselt hat. Über das Drama selbst ist an dieser Stelle so oft gesprochen worden, dass darauf nicht mehr näher eingegangen zu werden braucht; auch wollen wir uns bei den verlogenen Praktiken des gemeinen Börsenpacks, das Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um das Stück totzuschlagen, nicht weiter aufhalten. Ernster, aber in gewissem Sinne auch betrübender ist die Art, wie die Aufführung der „Weber" von den bürgerlichen Freunden des Dramas verteidigt wird. Herr Schienther weist in der „Vossischen Zeitung" nach, dass sogar ein veritabler deutscher Konsul – man denke! – den Weberaufruhr von 1844 einer historischen Darstellung gewürdigt habe, und Herr Brahm versendet als ein im christlichen Fache besonders kompetenter Mann an die bürgerlichen Blätter eine Notiz, wonach Hauptmann die „Weber" aus christlichem Mitleid geschrieben haben soll. Wen will man dadurch eigentlich täuschen? Die „Weber" sind gewiss kein sozialdemokratisches Tendenzstück, aber ebenso wenig eine historische Darstellung oder ein Tränenerguss christlichen Mitleids; sie sind aus revolutionärem Geiste geboren und mit revolutionärem Feuer getauft. Dies gerade ist das Kompromittierende an dem modernen Naturalismus, dass er in der Grundfrage, bei der es sich für ihn um Sein oder Nichtsein handelt, zu kompromittieren sucht. Er führt damit nicht einen einzigen Gegner irre, wohl aber bringt er sich selbst dadurch um allen Kredit.

Man hört oft die recht gut gemeinte, aber völlig sinnlose Redensart, dass die deutsche Bühne einen Lessing brauche. Kämen hundert Lessinge und könnte jeder hundertmal mehr, als Gotthold Ephraim konnte, so wäre damit noch kein Jota geändert. Das Theater verkommt am Kapitalismus, und diese Tatsache kann durch die geistreichste Dramaturgie nicht aus der Welt geschafft werden. Die Theaterskandale, die sich an Hauptmanns „Weber" und Sudermanns „Schmetterlingsschlacht" geknüpft haben, sind neue Beweise dafür, wie unaufhaltsam der Zersetzungsprozess vor sich geht. Hier ist kein halber, sondern ein ganzer Widerstand geboten; solange der Naturalismus das nicht begreift, bleibt er ein Schattenspiel an der Wand.

Kommentare