Franz Mehring 19061011 Berliner Theater (Herm. Sudermann, „Stein unter Steinen")

Franz Mehring: Berliner Theater

Herm. Sudermann, „Stein unter Steinen"

11. Oktober 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 103/104. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 267-269]

Ein bürgerliches Blatt schrieb dieser Tage, von der „Revolution in der Literatur", die vor fünfzehn und selbst noch vor zehn Jahren so viel von sich reden machte, sei nichts übriggeblieben als eine allgemeine Jagd nach Tantiemen. Das mag etwas krass ausgedrückt sein, in der bitteren Empfindung einer getäuschten Hoffnung, der sich gerade auch die Zeitung, die nun eine so niedergeschlagene Sprache führt, ehedem in überschwänglicher Weise hingegeben hatte. Aber unwahr ist es im Grunde nicht, und es kostet einige Überwindung, die dramatische Produktion der deutschen Gegenwart im Einzelnen zu verfolgen; der Stempel des künstlerischen Verfalls ist ihr gar zu deutlich aufgeprägt.

So hat denn auch das erste neue Drama, womit sich die Wintersaison des Berliner Theaters eröffnete, von der gesamten Kritik in seltener Einmütigkeit – nur eine oder zwei Ausnahmen bestätigen die Regel – das Zeugnis künstlerischer Unfähigkeit ausgestellt erhalten. Hermann Sudermann ist der Verfasser dieses Schauspiels in vier Akten, das sich „Stein unter Steinen" nennt und am 7. Oktober zum ersten mal im Lessing-Theater aufgeführt wurde. Wir wollen nicht lange darüber streiten, ob die kritische Ablehnung dieses Stückes nicht an manchen Stellen allzu hart ausgefallen ist; da wir nie oder doch nur in sehr beschränktem Maße an die „Revolution in der Literatur" geglaubt haben, so zählen wir nicht zu den Enttäuschten, und verglichen mit Sudermanns sonstigem Schaffen in den letzten Jahren scheint uns sein neuestes Schauspiel eher einer lichteren Periode anzugehören, wie sie in einem allmählichen Hinsiechungsprozess von Zeit zu Zeit einzutreten pflegt. Jedoch auf mehr als mildernde Umstände könnten wir auch nicht plädieren; im Wesen der Sache ist es arg genug um dies Schauspiel bestellt.

Sein Held ist ein Sträfling, der wegen Totschlags fünf Jahre im Zuchthaus gesessen hat und nun bei seiner Rückkehr in die bürgerliche Gesellschaft ihre geschlossenen Pforten sprengen muss. Dieser Vorwurf ist schon unzählige Male in dramatischer und namentlich, wozu er sich ungleich besser eignet, in novellistischer Form behandelt worden; ein genialer Dichter könnte und würde ihm gleichwohl noch neue Seiten abgewinnen, aber Herr Sudermann kann es freilich nicht. Er bleibt weit hinter den bescheidensten Erwartungen zurück, die vom dichterischen Standpunkt an diesen Stoff gestellt werden müssen. Sein Held, ein gelernter Steinmetz, findet gleich beim Beginn des Dramas – und was er etwa vorher gelitten haben sollte, geht den Zuschauer nichts an – bei einem wohlwollenden Steinmetzmeister eine ihm genügende Unterkunft, nicht in seinem Fache, was er selbst nicht wünscht, aber doch als Nachtwächter des Werkplatzes. Dieser Meister ist eine Perle von Mensch: er führt mit einer ältlichen und verwachsenen Tochter ein patriarchalisches Leben, dem er dadurch einige romantische Würze gibt, dass er mit Vorliebe entlassene Strafgefangene in seinem Betrieb einstellt. Dabei bleibt er aber der in Eigentumsfragen empfindliche Bourgeois, der sofort zur Polizei schickt, als er an seinem Magazin Spuren eines Einbruchsversuchs zu entdecken glaubt. Er hat sogar einen seiner eigenen Schützlinge deshalb im Verdacht, einen alten Zuchthäusler und Einbrecher. Aber an diesem geriebenen Halunken blitzt der herbeigerufene Polizeikommissar mit seinen inquisitorischen Fragen gründlich ab und verlässt nun den Werkplatz zornig, indem er dem Meister, wozu gar kein Anlass vorliegt, mit überlauter Stimme vorhält, dass dieser nicht nur Diebe, sondern auch Mörder einstelle.

Hätte der biedere Polizist etwas logischer gedacht oder auch nur etwas weniger laut gesprochen, so wäre das Drama am Ende des zweiten Aktes auch an seinem Ende gewesen. Nun aber empören sich die Arbeiter, die beiläufig mit einem alten zynischen Einbrecher auf vertraulichstem Du und Du stehen sollen, gegen die Gemeinschaft mit einem „Mörder" und boykottieren den neu angestellten Nachtwächter. Der brauchte nun wieder bloß den Mund aufzumachen und ihnen auseinanderzusetzen, dass er niemanden „gemordet", sondern nur wider seinen Willen in der Abwehr eines gegen sein Leben gerichteten Angriffs den Angreifer erschlagen hatte, wegen einer Weibergeschichte, die ihn auch nicht allzu schwer belastete. Allein zum Glücke für Herrn Sudermanns Drama ist der Held ein gebrochener, schweigsamer Geselle, der lieber von neuem ins Elend wandern, als sich rechtfertigen will. So kommen noch zwei Akte heraus, die ebenso „spannend" sind im Sinne der Kolportageliteratur, wie die beiden ersten Akte voll abspannender Langeweile waren. Ein Totschlagversuch im dritten, ein Mordversuch im vierten Akte, ein brutaler, aber feiger Don Juan der Steinmetzwerkstatt, eine edelmütige Kantinenwirtin, die von diesem Don Juan mit einem fünfjährigen Kinde sitzen gelassen worden ist und ihr Herz nun dem verfolgten Helden zuwendet – genug, ein abenteuerliches Durcheinander, das schließlich mit der elenden Flucht des Don Juan und dem Glücke der Kantinenwirtin und ihres neuen Schatzes endet, der nun auch von seinen Arbeitskameraden willig aufgenommen wird. So ist er der Gefahr glücklich entronnen, „Stein unter Steinen" zu werden, und seine neue Liebe ebenso; nur der Zuschauer muss sich bescheiden, mit einem Steine abgefunden zu werden.

Erträglich wurde die Vorstellung allein dadurch, dass fast alle Rollen mit ersten Kräften besetzt waren. Sie brachten glänzend heraus, was Herr Sudermann in einzelnen Szenen, nicht sowohl an dramatischer Kraft als an theatralischem Effekt aufzuspeichern gewusst hatte; den niederziehenden Gesamteindruck vermochten sie freilich auch nicht zu bannen. Dem Schauspiel fehlt vollständig die psychologische Vertiefung, die der Stoff gebieterisch verlangt; wir erfahren nichts von den inneren Kämpfen des Helden, der von Missverständnissen und Zufällen hin und her gestoßen wird; die wohlwollende Hand eines Bourgeois streckt sich dem Zuchthäusler entgegen, um ihn in die bürgerliche Gesellschaft zurückzuführen, und an dem blinden Vorurteil von Arbeitern gegen den „Mörder" findet er das einzige ernsthafte Hindernis seiner moralischen Wiederherstellung. Man könnte beinahe annehmen, dass Herr Sudermann eine Satire habe schreiben wollen. Allein das ist sicherlich nicht seine Absicht gewesen; man hat vielmehr bei alledem den Eindruck, als ob er sich seiner besseren Anfänge erinnert und einem sozialen Problem habe auf den Leib rücken wollen. Allein der Macher hat in ihm den Dichter völlig erschlagen, und so ist ihm nur eine künstlerische Missgeburt gelungen.

Was man dem Schauspiel als mildernden Umstand anrechnen könnte, ist schließlich sein peinlichster Zug: das gänzliche Versagen der Kraft, wo guter Wille immerhin vorhanden sein mochte.

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