Franz Mehring 18930500 Sudermanns „Ehre“

Franz Mehring: Sudermanns „Ehre“

Mai 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 7, S. 3-8. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 237-240]

Hermann Sudermann ist der erfolgreichste Theaterdichter der deutschen Gegenwart. Damit ist an und für sich zwar nicht viel gesagt, denn auf dem Gebiete des Theaters sind Erfolg und Verdienst längst nicht ein und dasselbe. Aber Sudermanns Erfolge sind nicht unverdient. Er besitzt ein schönes Talent, und er bemüht sich, ernsthaft mit den Problemen der Gegenwart zu ringen, wenn er auch im Allgemeinen über die Grenzen der kleinbürgerlichen Romantik nicht hinauskommt. In dem Spielplane der Freien Volksbühne vertreten zu sein hat er um so größeres Recht, als andere jüngere Dramatiker, wie Hauptmann, Halbe, Fulda, darin längst vertreten sind.

Von den drei Stücken Sudermanns, „Ehre", „Sodoms Ende" und „Heimat", fiel die Wahl des Ausschusses auf die „Ehre". Dieses Schauspiel greift in manchem sozialen Betracht nicht so weit aus wie „Sodoms Ende", aber es ist dramatisch wirksamer und vor allem: es schildert in seinem ersten und dritten Akt eine bestimmte Schicht der modernen Gesellschaft mit so brennender Naturwahrheit, wie sie Sudermann bisher noch nicht wieder erreicht hat.1

Der dramatische und sozialpsychologische Schwerpunkt des Schauspiels liegt, wie gesagt, in dem ersten und dritten Aufzuge, die im Hinterhause des Kommerzienrats Mühlingk spielen. Die Familie Heinecke ist eine in ihrer Art klassische Darstellung des Lumpenproletariats, das sich schmarotzerhaft von der Bourgeoisie nährt. Es ist eine Nachtseite der bürgerlichen Gesellschaft, die der Dichter mit feiner und wahrer Abtönung aller Schlagschatten uns vorzuführen weiß. Mit großem Glück trifft Sudermann die „naive Verdorbenheit" dieser sozialen Schicht. Er karikiert nicht, sondern weiß immer mit psychologischer Schärfe die Gesichtspunkte hervorzukehren, die es erklären, weshalb diese Klasse der Gesellschaft unter den heutigen Verhältnissen so werden musste, wie sie geworden ist. Er lässt die Familie Heinecke, um ein heutzutage häufig gebrauchtes und noch häufiger missbrauchtes Wort anzuwenden, aus ihrem Milieu herauswachsen. Ein dumpfer Rest achtbaren sozialen Grolls, ein gewisses beschämendes Gefühl der Selbstentwürdigung ist in den Eltern Heinecke noch wach; völlig erloschen ist der ehrlich proletarische Zug erst in der zweiten Generation, in dem Früchtchen Alma, in dem Ehepaar Michalski. Menschen dieser Art laufen zu Tausenden in dem parasitischen Lumpenproletariat der heutigen Gesellschaft herum. Sie in photographischer Naturtreue zu zeigen, war vielleicht nicht so schwer, aber sie plastisch zu verkörpern als Produkte der Bourgeoiswirtschaft, das ist eine in ihrer Art bedeutende Leistung, die dem Dichter in hohem Grade gelungen ist.

Ein Zweifel könnte insofern etwa auftauchen, als der Dichter den Taugenichts Michalski gelegentlich Redewendungen gebrauchen lässt, die in verzerrender Übertreibung an die Gedankenwelt des arbeitenden und kämpfenden Proletariats anklingen. Es mag sein, dass dadurch nicht zuletzt der lebhafte Beifall erklärt wird, den Sudermanns Schauspiel in bürgerlichen Kreisen gefunden hat; nach jedem Strohhalme haschend, wie es ihre Gewohnheit ist, mag die satte Bourgeoisie zwei Arten von Proletariat, die sich unterscheiden wie Tag und Nacht, durcheinander geworfen und sich des holden Glaubens getröstet haben, dass es mit der „Ehre dieser Leute" überhaupt nichts sei. Und wenn der Dichter auf diese Wirkung spekuliert hätte, so würde er den schärfsten Tadel verdienen. Aber eine unbefangene Prüfung seines Schauspiels ergibt, dass er darauf nicht spekuliert, dass er den Abgrund, der zwischen dem Arbeiter- und dem Lumpenproletariat gähnt, nicht zu vertuschen gesucht hat. So wie er den Strolch Michalski sprechen lässt, sprechen derartige Lumpen wirklich; im Munde eines Kupplers können Redensarten wie beispielsweise: „denn wer so schwer arbeeten muss wie unsereins, wem der Hunger und die Peitsche ejal im Nacken sitzen", doch ernsthafterweise nicht missverstanden werden.

Weniger bedeutend als die Schilderung des Hinterhauses im ersten und dritten, ist die Schilderung des Vorderhauses im zweiten und vierten Akt. Hier bewegt sich der Dichter mehr in konventionellen Schranken, doch ragt er immer noch beträchtlich über das Mittelmaß der bürgerlichen Dramatik hervor. Mit einem ganz respektablen Mute zeichnet er die vollendete Nichtigkeit der „goldenen Jugend" von heute, geißelt er die Dumme-Jungen-Manier, die den bürgerlichen Beruf missachtet, um sich als Reserveleutnant aufzuspielen. Auch das Ehepaar Mühlingk ergänzt sich in seiner bürgerlichen sogenannten Ehrbarkeit trefflich mit dem Ehepaar Heinecke in seiner bürgerlichen, greifbaren Verlumptheit. Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, sind die Villen der Tiergartenstraße undenkbar ohne die Verbrecherkeller der Veteranenstraße, wie die Verbrecherkeller der Veteranenstraße undenkbar sind ohne die Villen der Tiergartenstraße. Und auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft ist das Ehepaar Mühlingk unmöglich ohne das Ehepaar Heinecke und umgekehrt.

So enthält das Vorderhaus Mühlingk, wie es vom Dichter gezeichnet ist, auch noch viel treffliche Beobachtung. Aber gerade die drei Gestalten, durch die er uns mit. seiner Welt versöhnen will, sind ihm nicht geraten. Robert Heinecke, Leonore Mühlingk und Graf Trast-Saarberg wandeln nicht auf dieser Erde, sondern im Wolkenlande der kleinbürgerlichen Romantik. Am ehesten hängt noch Robert Heinecke mit der irdischen Welt zusammen. Durch eine „wohltätige" Laune des Hauses Mühlingk aus dem lumpenproletarischen Milieu seines Elternhauses gerissen, ist er im Auslande in das soziale Milieu des reichen Kaufmannskapitals geraten; bei seiner Heimkehr sieht er die – bürgerliche Ehrbarkeit der Mühlingk und die bürgerliche Verlumptheit der Heinecke, wie sie sind. Aber er weiß nicht abzustreifen, weder was ihm angeboren, noch was ihm anerzogen ist. Je mehr er sich in die kapitalistische Gefühlswelt hineingelebt hat, um so mehr ekelt ihn das Lumpenproletariat an, das ihm in seinem eigenen Fleisch und Blut entgegentritt, aber er selbst repräsentiert sehr gut die innere Verwandtschaft der bürgerlichen Extreme, indem er als „Höriger" des Hauses Mühlingk immer nur zu schwächlichen Anläufen in dem berechtigten Streben kommt, dem Sohne dieses Hauses als dem heimtückischen Verführer seiner Schwester den Schädel zu zerbrechen. Soweit ist Robert Heinecke ganz glaubhaft und sogar fein gezeichnet, aber wenn wir nun zu wissen verlangen, ob er in diesem Konflikt untergeht oder aber sich zum revolutionären Proletariat rettet, schiebt uns der Dichter statt einer dramatischen Lösung einen äußerlichen Theatereffekt unter, indem er seinen Helden durch eine Göttin und einen Gott aus der Maschine in das Wolkenland der kleinbürgerlichen Romantik entführen lässt, indem die Tochter des Hauses Mühlingk sich ihm an den Hals wirft und der „Kaffeekönig" Trast ihn zum Sozius und zum Erben seiner ungezählten Millionen einsetzt.

Lenore Mühlingk ist die richtige Theaterprinzess ohne einen Tropfen wirklichen Bluts in den Adern; es ist die dem Dichter am meisten misslungene Figur des Schauspiels. Graf Trast ist wenigstens ein ganz angenehmer Plauderer, bürgerlich beschränkt, aber in seiner Art witzig, wie Schopenhauer, der Philosoph des deutschen Spießbürgertums, aus dem Graf Trast seine Begriffe von „Ehre" geholt hat. Wie Schopenhauer wettert er gegen „jene Sorte von Ehre, die schon der lässig geworfene Handschuh irgendeines fashionabeln Rowdys zu zerschmettern vermag, die gerade gut ist als Spiegel für die Laffen, als Spielzeug für die Müßiggänger und als Parfüm für die Anrüchigen", und wie Schopenhauer getröstet er sich, dass dem Plebs vom Schlage der Familie Heinecke die Sorte von Ehre, welcher er huldigt, „von Anbeginn glatt und schlank auf dem Leibe gesessen hat". Es ist das besondere Kennzeichen der kleinbürgerlichen Philosophie, dass sie sich einbildet, alle Menschen seien immer so gewesen und würden immer so sein, wie sie heute sind. In gewissem Sinne ist es ganz richtig, wenn Graf Trast sagt, dass wir so viele verschiedene Sorten von Ehre besitzen wie soziale Kreise und Schichten, aber daraus sollte er logischerweise folgern, dass diese verschiedenen Sorten von Ehre mit diesen sozialen Kreisen und Schichten entstanden sind und mit ihnen auch vergehen werden, dass die Schnappsack-Ehre des fashionablen Rowdytums historisch gerade so berechtigt oder unberechtigt ist wie seine eigene Kaffeesack-Ehre, die Geldsack-Ehre des Vorderhauses historisch ebenso berechtigt oder unberechtigt wie die Bettelsack-Ehre des Hinterhauses, und dass alle diese verschiedenen Sorten von Ehre längst überholt und überlebt sind durch die Ehre des arbeitenden und kämpfenden Proletariats, das die gemeinsamen Interessen der gesamten Menschheit über die Sonderinteressen der „gesellschaftlichen Kreise und Schichten" stellt.

Hiervon weiß Graf Trast nichts, weil – sein Dichter nichts davon weiß. Und Sudermann weiß nichts davon, weil – die bürgerliche Gesellschaft nichts davon weiß. Es liegt in der Natur der Dinge, dass bürgerliche Dichter sich in das Wolkenland der bürgerlichen Romantik flüchten müssen, um soziale Konflikte dramatisch zu lösen, die sich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft in Wirklichkeit nicht lösen lassen. Vorder- und Hinterhaus sind Pol und Gegenpol der bürgerlichen Welt; will man über das eine oder das andere hinauskommen, so muss man die bürgerliche Welt selbst aufheben.

Aber wenn Sudermann seine dramatische Lösung nur in einem romantischen Wolkengebilde findet, so hat er den dramatischen Konflikt selbst mit herber Kraft und Wahrhaftigkeit gezeichnet, und das ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst. Er kann aus seiner bürgerlichen Haut nicht heraus, aber in dieser Haut bewegt er sich mit einem Maße von Ehrlichkeit, Kraft und Talent, das ihm einen hervorragenden Platz in der dramatischen Produktion der Gegenwart und damit auch einen Platz in dem Spielplane der Freien Volksbühne sichert.

1 In keinem seiner insgesamt 35 Dramen erreichte Sudermann diese verhältnismäßige Höhe wieder; erst 1917 gelangen ihm in den „Litauischen Geschichten" bedeutende realistische Prosaerzählungen.

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