Franz Mehring 18960406 Sudermanns „Glück im Winkel“

Franz Mehring: Sudermanns „Glück im Winkel“

6. April 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 89/90. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 253-255]

Nach den Niederlagen, die Hauptmann und Halbe vor einiger Zeit im Deutschen Theater erlitten haben, hat nunmehr Sudermann im Lessing-Theater einen vollen Erfolg davongetragen. Nämlich was die Bourgeoispresse einen „vollen Erfolg" nennt. Sudermanns „Glück im Winkel", ein Schauspiel in drei Aufzügen, tut Buße in Sack und Asche. Es hält sich allem fern, was auch nur entfernt an den sozialen Problemen der Zeit abfärben könnte. Das Schaukeln zwischen Nietzsche und Benedix hat aufgehört. Nietzsche ist abgedankt, und Benedix beherrscht allein den „Winkel", wo Sudermann das „Glück" findet. Dieser Sieg ist fataler, als die Niederlagen Hauptmanns und Halbes zusammengenommen nur immer sein können.

Sudermann hat nie in der Weise Hauptmanns und Halbes eine neue Kunst anbahnen wollen. Bis zu einem gewissen Grade war er immer ein Macher. Aber er strebte bisher doch auch danach, nicht bloß ein Macher zu sein. Und so ist es ein ganz niederschmetternder Eindruck, womit man den Vorhang über dem „Glück im Winkel" fallen sieht. Man sieht das Waffenstrecken eines Talents, über dessen Umfang man verschiedener Meinung sein kann, aber immerhin eines Talents vor dem verrotteten Geschmack der Bourgeoisie. Mit der „Schmetterlingsschlacht" war es schon nicht weit her, aber sie brachte doch noch einen tüchtigen Theaterskandal zuwege. Das „Glück im Winkel" ist so zahm, dass es allen Argwohn des Premierenpublikums entwaffnete. Sudermann erzielte keinen „vollen Erfolg" in dem wirklichen Sinne des Wortes, keinen Erfolg, der irgendein Publikum, und sei es auch nur das Premierenpublikum, fortgerissen hätte. Was ihm wurde, war eine kahle Freisprechung vom Verdacht des Verdachts, etwa in dem Sinne: der Mann ist nicht mehr gefährlich.

Die Figuren des Stücks sind aus den früheren Dramen Sudermanns bekannt, namentlich aus „Sodoms Ende" und aus der „Heimat". Die Fabel ist außerordentlich simpel: die Übermenschin flieht den Übermenschen, der sie verführen will, und findet ihr „Glück im Winkel", in den Armen eines alten, langweiligen, verhutzelten Schulmeisters. Man hat manchmal den Eindruck – und es wäre noch das Beste an dem Stücke –, als ob Sudermann sich über die bürgerlichen Vorurteile lustig machen wolle, indem er ihr kaudinisches Joch passiert. Sein Schulmeister ist so karikiert gezeichnet, als käme er aus der ersten besten Posse, und die trivialen Weisheitssprüche, womit er die Übermenschin von ihren stürmischen Leidenschaften kuriert, stammen unmittelbar aus dem „Kinderfreunde" des alten Vista. Wie tief und wie wahr, wenn der alte Pedant dem frischen jungen Weibe verheißt, sie werde mit jedem Tage älter und ruhiger werden; wie bescheiden und wie demütig, wenn er ihr offenbart, er habe sie geheiratet, obgleich er sie für die abgelegte Dirne eines Junkers gehalten habe! Und wie geistreich, wie gewinnend, wenn sie ihm nach solcher Offenbarung und Verheißung durch Tränen zulächelt, es sei ihr, als sähe sie ihn zum ersten Male! Darüber fällt der Vorhang zum letzten Male, und das Puppenspiel ist zu Ende. Wären es keine Puppen, die Sudermann tanzen lässt, sondern hätte er wirkliche Menschen geschaffen, so würde man mit der beruhigenden Gewissheit nach Hause gehen, dass, wenn der Übermensch, der während dieser nächtlichen Unterhaltung der Ehegatten über ihnen den Schlaf des Gerechten schläft, am nächsten Morgen erscheint, die Übermenschin doch mit ihm davonlaufen würde.

Es sind aber keine wirklichen Menschen, und ganz besonders ist auch der Übermensch kein wirklicher Mensch. Sudermann hat diesen ostelbischen Junker eben auch karikiert. Der Übermensch stampft mit seinen Stulpenstiefeln, er fuchtelt mit seiner Reitgerte, er bemogelt vier Pferdejuden mit einem Schlage, er behandelt seine Frau wie eine hergelaufene Dirne, und dabei stellt er sich an, als könne er den Erdball in seiner Faust zerdrücken. Wir geben zu, dass die Poeten der Bourgeoisie solche Schwerenöter gebrauchen, um die entsetzliche Langeweile der kleinbürgerlichen Welt zu beleben, aber wie ganz anders wusste sich vor fünfzig Jahren noch Gustav Freytag mit dieser Notwendigkeit abzufinden! Seine Bolz, Fink, Saalfeld waren zwar auch unausstehliche Patrone, aber in ihrer Art doch geistreiche und ritterliche Kerle. An Sudermanns Übermenschen ist der Spiritus verflogen und nur die Flegelei geblieben. Das Übergemenschel ist nachgerade wirklich zur reinen Narretei geworden.

Will man die Dinge einmal ernsthafter nehmen, als Sudermann sie genommen hat, stellt man die Frage, die ihm etwa vorgeschwebt haben mag, in ihrem menschlichen Sinne so: dürfen zwei Menschen, die durch eine tiefe Leidenschaft aneinandergeknüpft sind, die äußerlichen Bande brechen, die den einen an eine gutmütig-schläfrige Weltdame und die andere an einen öden Schulmeister fesseln? so beantwortet Sudermann die Frage mit einem runden Nein. In seiner nach geistreichen Pointen haschenden Weise sagt er: die Madonna, die in dem Weibe steckt, muss über die Bacchantin siegen, die auch in dem Weibe steckt. Das ist außerordentlich beruhigend für den bürgerlichen Philister, und von dem Standpunkt der bürgerlichen Moral, so wie sie im Buche geschrieben steht, ist nichts daran auszusetzen.

So wie sie im Buche geschrieben steht! Denn in Wirklichkeit liegen die Dinge natürlich anders. Der berühmte „Idealismus" der Bourgeoisie besteht in diesem Falle darin, dass sie sich auf der Bühne gern in der banalen Moral des „Glücks im Winkel" spiegelt, weil ihr tatsächlich durch ihre banale Unmoral die ehrbare Langweiligkeit der bürgerlichen Ehe längst abhanden gekommen ist.

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