Franz Mehring 18930109 Sudermanns „Heimat“

Franz Mehring: Sudermanns „Heimat“

9. Januar 1893

[Die Neue Zeit, 11, Jg. 1892/93, Erster Band, S. 544-546. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 245-248]

Nach der Meinung der bürgerlichen Blätter hatte die hiesige Bühnenwelt gestern ihr erstes „Ereignis" in diesem Winter zu verzeichnen. Und in der Tat steht Sudermanns Schauspiel „Heimat", das im Lessing-Theater mit großem Erfolg gespielt wurde, beträchtlich über dem Alltagskram der bürgerlichen Theaterproduktion. Nach den unsagbaren Fadheiten der Lindau, Lubliner, Wiehert mutet Sudermanns Dramatik überhaupt wie etwas dünnflüssiges, aber immer doch frisches und munteres Leben an. Sudermann ist ein Stück Poet und daneben auch ein Stück klugen Rechners; er weiß sich mit ziemlicher Sicherheit auf der mitunter etwas schmalen Grenzscheide dessen zu bewegen, was sich die Bourgeoisie eben noch, und dessen, was sie sich nicht mehr bieten lässt.

In erster Reihe deshalb ist Sudermann der erfolgreichste Theaterdichter der deutschen Gegenwart geworden. Unheimlich ist ihnen schließlich allen ein wenig unter ihrer kapitalistischen Fettschicht, und soziale Konflikte wollen sie schon gern auf der Bühne sehen, vorausgesetzt, dass sie dabei nicht mehr als nur angenehm gekitzelt werden. Und Sudermann mutet ihnen gemeiniglich nicht mehr zu als ihren schwachen Leibern frommt. Sein erstes Schauspiel „Die Ehre" schilderte in der Familie Heinecke das Lumpenproletariat, das sich parasitisch vom Kapitalismus nährt; es war ein zum Leben getroffenes Bild, eine in ihrer Art ganz bedeutende Leistung; nur dass der Räsoneur des Stückes in seinen Betrachtungen über den Begriff der Ehre schamhaft verschwieg, wie weltweit die Ehre des Proletariats, das die Reichtümer schafft, sich von der „Ehre" der Lumpenproletarier unterscheidet, die nach dem Abfalle der geschaffenen Reichtümer schnappen. So blieb für jede sorgende Stütze der Gesellschaft der süße Trost, dass es mit der „Ehre dieser Leute" ein für allemal nichts sei.

In seinem zweiten Schauspiele „Sodoms Ende" tastete Sudermann die bourgeoise Empfindlichkeit mit etwas zu rauer Hand an. So viel verträgt Berlin W nicht, als ihm hier mit der drastischen Schilderung seines Salonlebens zugemutet wurde. Aber so sehr ist der Tanz auf jener Grenzscheide Sudermanns Element, dass sein sozial ausgreifendstes Schauspiel zugleich sein dramatisch schwächstes wurde. Weder war sein entmenschtes Bourgeoisweib eine so geschlossene und klare Gestalt wie etwa Augiers Arme Löwin, noch reichte sein am Kapitalismus verkommender Künstler an den genialen Trotz, den düstern Wahn Karl Stauffers heran, der eben leibhaftig an Berlin W verkommen war: Die banale Liederlichkeit und ihre banalen Folgen beherrschten das Schauspiel allzu stark. Sudermanns Dichterauge reicht nicht bis in die Tiefen der kapitalistischen Gesellschaft. Er fühlt ihre Stacheln wohl, und er möchte ihr gern entfliehen, aber er weiß nicht, dass der Weg der Rettung nur nach vorwärts führt und nimmermehr nach rückwärts, wo er ihn sucht. Er blickt nicht in das flammende Morgenrot der entstehenden, sondern in das dämmernde Abendrot einer vergehenden Welt. Aus dem Berliner Westend flüchtet er nicht in das Berliner Ostend, wo er allein genesen könnte; er sucht sich in irgendeinen Krähwinkel weit hinten in Litauen zu retten, von wo ihn der entsetzliche Druck eines verkümmerten Philistertums dann doch wieder zurückschleudern muss, zurückschleudern wird in die brandenden Wogen der Weltstadt.

Um diesen Konflikt, dessen erste Spuren schon in „Sodoms Ende" hineinspielten, bewegt sich als um seine Angel Sudermanns drittes und bisher letztes Schauspiel: eben die „Heimat". Zwei Schichten der bürgerlichen Klassen prallen aufeinander: hier Benedix1, dort Nietzsche; hier das spießbürgerliche „Herdentier", dort der großbürgerliche „Alleinflieger". Oder in diesem besonderen Falle die großbürgerliche „Alleinfliegerin". Eine verlorene Tochter, die, verzweifelnd an der philiströsen Enge ihres elterlichen Hauses, in die weite Welt gegangen oder getrieben worden war, kehrt nach zwölf Jahren, von Heimweh gequält, in ihre provinziale Vaterstadt zurück: nunmehr eine berühmte und gefeierte Sängerin, von deren unermesslichen Reichtümern, von deren Villen am Comersee und Landgütern bei Neapel wir freilich viel mehr hören als von ihrer Kunst. Sie sendet heimlich Blumen in ihr heimatliches Haus; sie schleicht bei Nacht und Nebel wie ein scheues Kätzlein um seine Mauern; sie wird endlich wieder in Gnaden angenommen. Aber die einzige Bedingung, die sie stellt, dass nämlich niemand der Ihrigen nach ihrer Vergangenheit forschen dürfe, berührt das einzige Interesse, das ihr pedantischer und pietistischer Vater, ein königlich preußischer Oberstleutnant a. D., zunächst an der wiedergefundenen Tochter nimmt: er will wissen, ob sie „rein" zurückgekehrt sei. Indessen damit erschöpft sich die spießbürgerliche Naivität des alten Herrn noch nicht: als es ihm gelingt, einen Zipfel von dem Schleier zu lüften, der die Vergangenheit seiner Tochter verhüllt, als er hört, dass sie bald nach ihrer Flucht aus seinem Hause verführt und verlassen und Mutter geworden sei, da setzt er der widerstrebenden „Alleinfliegerin" einen alten Kuchenreuter auf die Brust und verlangt, dass sie ihren nunmehr willigen Verführer, einen eitlen und verächtlichen Streber, heiraten solle, um ihre und seines Hauses Ehre zu retten. Die Tochter erwehrt sich seiner Zudringlichkeit mit der allerdings naheliegenden Frage, woher er denn wisse, dass der erste der einzige gewesen sei, und nun will der Alte die „Dirne" niederschießen, bricht aber, vom Schlage gerührt, tot zusammen. Worauf ein herbeieilender Geistlicher, der Vertraute des Hauses, der bestürzten Übermenschin gestattet, am Sarge ihres Vaters zu beten.

Die bürgerliche Kritik ist mit diesem Schlusse des Schauspiels sehr unzufrieden. Sie fragte unwirsch, wo denn nun die „Heimat" sein solle, wer denn nun recht habe, Benedix oder Nietzsche, das Herdentier oder die Alleinfliegerin? Als oh der kluge Dichter dieser heiklen Frage mit dem Knalleffekt seines Schlaganfalles nicht gerade absichtlich aus dem Wege gegangen wäre! Der kluge Dichter oder richtiger vielleicht der arme Dichter. Denn am Ende ist Sudermann doch kein kluger Rechner, sondern etwas Besseres und zugleich etwas Hilfloseres. Er meint es ehrlich, und er weiß wirklich nicht die Antwort auf die Frage, die er im Titel seines Dramas stellt. Die pedantische Kritik hat ihm gut vorwerfen, dass er die spießbürgerliche Welt doch gar zu sehr ins Possenhafte verzerre, dass er seiner Alleinfliegerin doch gar zu viel von der sentimentalen Unsicherheit der Dirne gegeben habe. Als ob Sudermann anders könnte! Er schildert die eine wie die andere Seite des Problems mit Liebe und zugleich mit Spott; von keiner kann er lassen, aber keine tut ihm genug. Seine Heldin sagt einmal in ihrem Nietzsche-Dusel: Man muss größer werden als seine Schuld. Nun, Sudermann müsste größer sein als seine Klasse, wenn er das Rätsel, das ihn narrt, wirklich lösen wollte. Aber er ist es nicht, und so windet er sich hilflos in dem kleinbürgerlichen einerseits – andererseits.

Indessen, wenn er kein kluger Rechner sein mag, so ist er um so mehr ein Stück Poet. Trotz aller Unmöglichkeit oder doch Unwahrscheinlichkeit der tatsächlichen Voraussetzungen, trotz aller Mängel der psychologischen Entwicklung, trotz aller possenhaften Zutaten, trotz aller theatralischen Knalleffekte: ein fesselndes und spannendes Schauspiel bleibt die „Heimat" immer. Soweit er kann, bohrt Sudermann in die Tiefe; manche lebendige Gestalt ist ihm gelungen, so namentlich der korrekte preußische Regierungsrat, wie er sich aus dem Liederjan von Assessor entpuppt; manch keckes und auch manch treffendes Wort blitzt in dem bewegten Dialog auf, und nimmt man einmal die Voraussetzungen der Fabel hin, die dem Dichter doch auch aus ernsthaftem Grübeln über seine Zeit erwachsen sind, so rundet sich die Handlung, am meisten im ersten, am wenigsten im vierten und letzten Akt, zu gefälligem Schein.

Einen namhaften Teil des Erfolgs verdankt Sudermann freilich auch der ausgezeichneten Darstellung, die sein neues Schauspiel im Lessing-Theater fand. Alle Rollen waren gut besetzt, am besten vielleicht wurde der korrekte preußische Regierungsrat gespielt; nur die Darstellerin der weiblichen Hauptrolle wusste mit ihrer Alleinfliegerin und Übermenschin nichts Rechtes anzufangen. Eine kritische Zergliederung der schauspielerischen Leistungen verbietet sich an dieser Stelle, aber ein kurzes Wort darüber ist um so mehr am Platze, als die trefflichen Künstler des Lessing-Theaters bei den bürgerlichen Kritikastern sehr in Ungnade gefallen sind, seitdem sie nun schon manchen Sonntag den Arbeitern der Freien Volksbühne mit hingebendem Eifer ihr Bestes bieten. Erst dieser Tage schrieb die „Vossische Zeitung" von ihnen, sie seien wohl gut genug, „kleinen Leuten" Lessings „Nathan" so mit der Holzaxt hinzuhauen, aber der „feinen" Bourgeoisie die „geheimsten Schönheiten und Wahrheiten" des „Nathan" zu offenbaren, das verständen sie nicht Und mein Gott ja! was der Geheime Justizrat C. R. Lessing von der „Vossischen Zeitung" als die „geheimste Schönheit und Wahrheit" des „Nathan" entdeckt hat: nämlich dass man den Juden misshandeln dürfe, wo man ihn finde, das haben bisher weder die Künstler des Lessing-Theaters noch wir armseligen Dummköpfe der Freien Volksbühne im G. E. Lessing gefunden.

1 Gemeint ist der kleinbürgerlich-liberale mittelmäßige Schriftsteller Roderich Benedix (1811-1873), der auch von Marx und Engels wegen seiner Schrift gegen die „Die Shakespearemanie" beißend verspottet wurde.

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