Franz Mehring 19000228 Berliner Theater (Max Halbe, „Das tausendjährige Reich")

Franz Mehring: Berliner Theater

Max Halbe, „Das tausendjährige Reich"

28. Februar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 720-722. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 363-366]

Im Deutschen Theater wurde am 24. ds. Mts. das erste neue Drama dieses Winters aufgeführt, das literarische Bedeutung beanspruchen durfte, und zugleich das erste Theaterstück desselben Zeitraums, das nicht einmal die drei Respektvorstellungen erlebte, sondern schon nach der zweiten abgesetzt wurde. Dabei jagen sich in demselben Theater, dem ersten der Reichshauptstadt, die Vorstellungen von Max Dreyers „Probekandidaten", den Erich Schlaikjer heute im „Vorwärts" eine „harmlose Albernheit" nennt und dem auch der nachsichtigste Beurteiler nicht mehr nachrühmen kann, als dass er ein derber Schwank ist. Ein Schwank etwa vom Schlage der besseren Possen, die in den sechziger Jahren das Wallner-Theater zum Entzücken des Weißbierphilisters brachte, der damals immerhin noch ungleich höhere Ansprüche an politischen Witz machte, als Herr Dreyer mit seiner wirklich recht harmlosen Schlusspointe auf preußische Geistesfreiheit zu befriedigen vermag. Um die Abwandlung des öffentlichen Geistes innerhalb des letzten Menschenalters drastisch zu erkennen, würde es sich vielleicht einmal lohnen, den „Probekandidaten" mit einer Posse von Kalisch oder Belly zu vergleichen, allein das hätte nur einen kultur-, nicht einen literarhistorischen Zweck; in der literarischen Entwicklung zählt der „Probekandidat" nicht weiter mit.

Dagegen erhebt Max Halbes vieraktiges Drama „Das tausendjährige Reich", das eben im Deutschen Theater so schnell wieder vom Spielplan verschwunden ist, literarische Ansprüche und darf sie mit Recht erheben. Es wäre verkehrt, dem Dichter übertriebene Lobsprüche zu spenden, um ihn über das harte und bei alledem zu harte Schicksal seines neuesten Werkes zu trösten. Das Drama hat gewiss große Schwächen, die sich sogar schneller erkennen lassen als seine Vorzüge, und es somit ganz erklärlich machen, dass bei der ersten Vorstellung eine ästhetisch empfindende und genießende Minderheit nur mühsam einen Skandal abwehrte, wie ihn Halbe in seiner Dichterlaufbahn schon ein paarmal erlitten hat. Eine andere Frage ist es, ob die Leitung eines Theaters von künstlerischen Ansprüchen so ohne weiteres ein Drama verschwinden lassen darf, von dem nach dem Ausfall einer oder zweier Vorstellungen doch immer noch nicht mit Bestimmtheit gesagt werden kann, ob seine dichterischen Vorzüge sich schließlich nicht durchkämpfen. Der Direktor des Deutschen Theaters gehörte ehedem zu den Gründern der Freien Volksbühne, denen es um die „pädagogischen" Zwecke dieses Arbeitertheaters zu tun war, indessen könnte die Bourgeoisie dieser „Pädagogik" in viel höherem Maße bedürftig sein als das Proletariat. Immerhin ist nicht der einzelne dafür verantwortlich zu machen, dass nicht die Ästhetik oder Pädagogik, sondern der Kassenrapport die entscheidende Instanz des kapitalistischen Theaters ist, und der mag denn freilich wohl schon bei der zweiten Aufführung von Halbes „Tausendjährigem Reich" trübselig genug ausgeschaut haben.

Das Drama spielt im Mai 1848, und die Revolution gibt ihm den Hintergrund, von dem sich das tragische Schicksal eines ostpreußischen Dorfsektierers abhebt. Der Schmiedemeister Drews ist durch persönliche Erlebnisse zum Propheten geworden. In seinen jungen Tagen will er sein Weib in einem zärtlichen Stelldichein mit dem Dorfjunker überrascht haben; er hält seinen Sohn für den Sohn dieses Junkers. Im Kriege von 1813 hat er dann den vermeintlichen Schänder seiner Ehre, der Gemeine den Leutnant, hinterrücks erschießen wollen, aber im Augenblick, wo er sein Opfer aufs Korn nimmt, wird er selbst durch eine feindliche Kugel niedergestreckt; von der schweren Verwundung genesend, findet er auf seinem Krankenbett eine Bibel, worin er sich vertieft und woran er sich zum Propheten liest. Als er den Sohn, um dessen Vaterschaft ihm bange war, durch einen Unglücksfall verliert, meint er, ein neues Zeichen zu haben, wodurch Gott ihn zu seinem Werkzeug erkoren hat. Er vernachlässigt seine Arbeit, sein Weib und seine Tochter, doch im Sturmjahr 1848 gelingt es ihm, eine Gemeinde zu sammeln, um das tausendjährige Reich zu gründen. Dabei stößt er auf den Widerstand des jungen Schlossherrn und des jungen Pfarrers, mit denen sein verhungerndes Weib und seine lebenslustige Tochter gemeinsame Sache machen; in seinem Trotze jagt er sein Weib ins Wasser, seine Tochter in die Schande. Nun treffen seine Prophezeiungen nicht ein, und seine Anhänger werden an ihm irre; ein Gotteszeichen, das er herabfleht, wendet sich gegen ihn, der Blitz äschert seine Schmiede ein. In seiner letzten Verzweiflung stellt er sich schon an die Spitze einiger weltlicher Aufrührer, die das Schloss erstürmen wollen, jedoch die Mahnung des letzten ihm treu gebliebenen Anhängers hält ihn davon zurück, und er wählt den freiwilligen Tod an der Stelle, wo ihn auch sein Weib gesucht und gefunden hat.

Die Frage nach der tragischen Wirkung dieses Stoffes hängt davon ab, ob dem Manne wirklich einmal das schwere Unglück zugefügt worden ist, von dem er sein Lebtag glaubt, dass es ihm in seiner Jugend von dem Dorfjunker zugefügt worden sei. Wenn ja, so wäre eine mehr quälende als erschütternde, aber immerhin dramatische Spannung gegeben: in der Ohnmacht des hörigen Bauern, der eine ihm zugefügte Unbill nicht sühnen kann, der darüber in religiösen Irrsinn gerät eben aus seinen religiösen Vorstellungen von Recht und Unrecht heraus, die mit den tatsächlichen Verhältnissen so schroff kollidieren, und der endlich, als in der allgemeinen Sache auch seine persönliche Sache zum entscheidenden Austrag kommen soll, nur verkehrt zu handeln, nur sich selbst zu vernichten weiß. Allein obgleich von dieser Frage nicht mehr und nicht weniger als alles abhängt, lässt der Dichter sie unentschieden, wenn er sie nicht gar zuungunsten seines Helden beantwortet: hierauf deuten wenigstens die nachdrückliche Art, in der das Weib des Schmiedes ihre und des Junkers Schuld bestreitet, und der feierliche Ton, womit sie, im Begriff sich zu töten, ihren Mann als den Vernichter ihres Lebens vor Gottes Richterthron lädt. Bleibt es aber im Dunkeln, ob dem Helden einmal ein Unrecht zugefügt worden ist, das dann, fortzeugend mit dem Fluche der Unterdrückung, den Unterdrückten selbst in Not und Tod treibt, so verfliegt alles tragische Interesse: ein Sektierer, der aus irgendwelcher krankhaften Anlage heraus vier lange Akte hindurch mit Bibelsprüchen um sich wirft und durch seine Unfähigkeit, sich praktisch ins Leben zu schicken, viel Unheil anrichtet, gehört ins Krankenhaus und nicht auf die Bühne. Es kann denn auch nicht bestritten werden, dass Halbes Drama ermüdend und schleppend wirkt; die psychologische Entwicklung im Charakter des Helden fehlt, und billige Kulisseneffekte, wie die Einäscherung des eigenen Hauses, die der Held als Gotteszeichen auf sich herabfleht, können sie nicht ersetzen, so begreiflich es immer sein mag, dass der Dichter aus Mangel an psychologischen Hebeln der Handlung zu solchen Effekten greift.

Sieht man aber von diesem Grundfehler ab, so hat das Drama Halbes eine Menge Vorzüge. Es gibt ein fein und reich schattiertes Bild von dem Leben, das sich während des revolutionären Sommers von 1848 in einem ostelbischen Dorfe abgespielt haben mag. Halbe kennt den ost- und westpreußischen Bauern, wie Hauptmann den schlesischen Weber kennt. Als Milieuschilderung erinnert „Das tausendjährige Reich" an die „Weber", an die es sonst freilich nicht heranreicht. Es ist schwer zu sagen, woran Halbe immer wieder scheitert, was diesen Poeten, der an dichterischer Begabung und redlichem Willen sicherlich mit in erster Reihe unter den Modernen steht, immer nur zu halben Erfolgen oder zu ganzen Misserfolgen kommen lässt. Fehlt dem zarten Stimmungsmaler wirklich die robuste Kraft, deren der dramatische Dichter bedarf? Oder scheut Halbe sich, ins volle Menschenleben zu greifen, wobei sich heute der Dichter gar sehr die Finger verbrennen und selbst ganz von der Bühne verbannen kann? Sein neuestes Drama lässt diese Frage offen; vielleicht hat er über dem glänzend herausgebrachten Milieu vergessen, dass zum Drama auch ein Rückgrat gehört, eine psychologische Ver- und Entwicklung, oder vielleicht sah er, dass die Vertiefung, deren sein Held bedarf, nicht zu erreichen war, ohne in Regionen zu geraten, die für das Bourgeoispublikum und selbst für den Rotstift des polizeilichen Zensors unerträglich sind. Oder vielleicht kam beides zusammen.

In jedem Falle zeigt „Das tausendjährige Reich" wieder einen aufsteigenden Zug nach den „Heimatlosen", die Halbe im vorigen Jahre aufführen ließ. Hoffentlich blüht ihm doch noch ein Erfolg, wie ihn Hauptmann mit den „Webern" davontrug; es wäre ihm um so mehr zu wünschen, als er sich allem Reklametreiben fernhält und nur durch ehrliche Kunst um den Kranz ringt, der ihm bisher leider versagt geblieben ist.

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