Franz Mehring 18930404 Berliner Theater (Rosmer - Hartleben - Anzengruber - Halbe)

Franz Mehring: Berliner Theater

Dämmerung", von E. Rosmer; Hanna Jagert", von Otto Erich Hartleben; Brave Leut' vom Grund", von Anzengruber; Jugend", vom Max Halbe

4. und 25. April 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Zweiter Band, S. 54-56, 153-157. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 388-390, S. 369-371, S. 513-515 und 347-351]

I.

Nach der sehr dürftigen Ausbeute dieses Winters an neuen und nun gar erfolgreichen Theaterstücken brachte das Osterfest noch zwei dramatische Werke auf die hiesige Bühne, denen ein lärmender Ruf vorangegangen war. Im Blasen der Reklametrompete sind die Neuesten ja so gewandt und unbedenklich wie die ergrautesten Postillone des Thespiskarrens. Für eines der beiden Stücke hatte sogar die Polizei die Liebenswürdigkeit gehabt, kräftig ins Horn zu stoßen; es war von ihr anfangs verboten und erst durch ein erfolgreiches Verwaltungsstreitverfahren ihrer sorgenden Obhut entrissen worden. Leider rechtfertigte sich das günstige Vorurteil nicht, das ein polizeiliches Verbot immer erweckt; gerade dies Stück erwies sich als eine vollkommene Nichtigkeit, obschon es einen erlauchten Namen der jüngsten Dichterschule an der Stirne trug, während das andere in seiner Pseudonym erscheinenden Verfasserin wenigstens einen gebildeten, wenngleich der dramatischen Begabung entbehrenden Geist erkennen ließ.

Dies andere Stück hieß „Dämmerung", war ein Schauspiel in fünf Aufzügen und wurde von dem Verein Freie Bühne am 30. März auf dem Neuen Theater zur Darstellung gebracht. Nach einem von Ibsen gewählten Namen nannte sich der Dichter Ernst Rosmer; die hiesigen Tagesblätter haben inzwischen mit rührender Übereinstimmung verraten, dass hinter dem männlichen Pseudonym eine Dame aus München steckt, die Gattin des Rechtsanwalts Bernstein, Wenn es doch einmal beschlossene Sache war, nach der ersten Vorstellung, die wohl die einzige bleiben wird, den Schleier zu lüften, so scheint uns die Wahl eines Pseudonyms ein etwas veralteter Kniff einer so revolutionären Erscheinung zu sein, wie die Freie Bühne der Herren Brahm und Jonas vorstellen will. Gerade gegenüber der hiesigen Bourgeoiskritik kann die Wahl eines Pseudonyms ein sehr gerechtfertigter Akt der Vorsicht sein, und übrigens steht es ganz in dem Belieben eines Bühnendichters, ob er sich nennen will oder nicht. Aber in diesem falle hatte der Dichter oder die Dichterin von Cliquenkritik nichts zu befürchten, und da sie sich doch in dem Glänze ihres jungen Ruhms zu sonnen gedachte, so stand das geheimnisvolle Krebsen mit ihrem Pseudonym in rechtem Missklange mit der vielberufenen „Naturwahrheit" der naturalistischen Schule.

Nach ihrem Schauspiele zu urteilen, ist Frau Bernstein eine Anhängerin und Verehrerin von Ibsen, und man kann ihr gern bescheinigen, dass sie den norwegischen Dichter mit emsigem Fleiße studiert hat. Sogar mit zu emsigem Fleiße, denn wenn der moderne Dramatiker aus Ibsen viel lernen kann, so soll er ihn nur beileibe nicht nachahmen wollen. Ibsen lässt sich nicht oder doch nur so nachahmen, wie ein knorriger und kräftiger Baum, dessen Wurzeln eine mächtige Erdscholle umklammern und dessen Wipfel im Winde raunen und rauschen, mit größerer oder geringerer Kunst auf die Leinwand übertragen werden kann. Ibsens dramatische Kraft liegt in seinen Gestalten, die immer lebendige Menschen sind, auch wo sie aufhören, vernünftige Menschen zu sein; nachschaffen lassen sie sich nicht und nachzeichnen höchstens in dünnen, einseitigen, schattenhaften Umrissen. Und solche Bilder, nicht aber Gestalten, gibt uns Frau Bernstein in ihrem Schauspiele. Wo keine Gestalten sind, kann nun aber auch keine Handlung sein, und es ist in der Tat erstaunlich, wie wenig Ballast die Dichterin ihrem auf dem weiten Meere der Rede schwankenden Schifflein mit auf die Fahrt gegeben hat.

Ein Vater, eine Tochter, ein weiblicher Arzt: das sind die drei Hauptpersonen des Schauspiels, denn ein paar Dienstboten und ein nach der landesüblichen Schablone gezeichneter Naturbursche laufen nur nebenher. Der Vater, ein genialer Musiker, hat seine Berufstätigkeit aufgegeben, um ganz seiner augenkranken Tochter zu leben, einem hysterischen Bourgeoisbackfische, den wir äußerlich mit gut beobachteter, wenn auch auf die Dauer abstoßender Naturwahrheit hantieren, aber keineswegs aus den sozialen Bedingungen seines Milieus erwachsen sehen. Ein weiblicher Arzt lindert die Augenkrankheit und rückt dem Vater mit allerlei verfänglichen Fragen über ihre etwaige Entstehung auf den Leib, aber nachdem die Dichterin uns ein paar Akte hindurch auf ein Lazarettmelodrama nach dem tristen, aber nicht tragischen Vererbungsmotive vorbereitet hat, lässt sie diesen Faden plötzlich fallen, und der verdächtige Vater entpuppt sich in Goethes Mann von fünfzig Jahren, der in holder Leidenschaft zu dem weiblichen Arzt entbrennt und inbrünstige Gegenliebe findet. Der Bourgeoisbackfisch will aber nach der Art solcher Frauenzimmer seinen Alten ganz für sich allein haben; aus wütender Aufregung über die drohende Stiefmutter erblindet er wirklich, und nun entwickelt der Vater, den wir ein paar Akte hindurch in so schnödem Verdachte gehabt haben, eine übermenschliche Entsagung, indem er seiner viel verständigeren Geliebten den Laufpass gibt und zu Ehren seines hysterischen Backfisches in der „Dämmerung", will sagen, allein mit seiner blinden Tochter weiterleben will.

Mag nun aber auch die Wahl eines so dünnen und ungenießbaren Stoffs für die dramatische Begabung der Dichterin kein günstiges Zeugnis ablegen, so wäre es ungerecht, zu verkennen, dass es immerhin eine gescheite Frau war, die trotz alledem drei lange Theaterstunden hindurch das Publikum leidlich zusammenhielt, unterstützt freilich auch durch eine ganz vortreffliche Darstellung, namentlich der drei Hauptrollen. Wir hoffen, wenn auch wohl auf der Bühne, so doch in der Literatur nicht zum letzten Male von Frau Bernstein gehört zu haben. Sie hat wirklich manches zu sagen und hat es in dem Dialog ihres Schauspiels auch in hübscher, resoluter, tapferer Weise gesagt, und wenn sie sich nun dankbareren Stoffen als der heutzutage wirklich schon etwas fossil gewordenen Menschenspezies der hysterischen Bourgeoisbackfische zuwenden wollte, so dürfen wir ihren ferneren literarischen Arbeiten mit Interesse entgegensehen.

Sehr unerfreulich von dieser jedenfalls denkenden und ernst strebenden Frau stach ein jüngstes Genie des deutschen Naturalismus ab, nämlich Herr Otto Erich Hartleben, der am Mittage des Ostersonntags, eines wundervollen Frühlingstages, im Lessing-Theater mit seiner „Hanna Jagert", einer sogenannten „Komödie" in drei Aufzügen, zum Worte kam. Herr Hartleben gehört zu jenen Bourgeoisknaben, die sich in ihres Sinnes fürwitziger Torheit an die sozialdemokratische Partei heran zu werfen versuchen und, wenn ihnen hier keine Extrawurst gebraten wird, sich durch die straffe Disziplin der Arbeiterklasse in ihrer „genialen Individualität" bedroht fühlen und sich schleunigst zu „höheren Gesichtspunkten entwickeln", das heißt, um das Ding beim rechten Namen zu nennen, reumütig zu dem alten Troge der kapitalistischen Schlagworte zurückkehren, von den sonstigen Wiederkäuern im manchesterlichen Stalle nur dadurch unterschieden, dass ihre Hörner mit ein paar bunten Bändern aus des armen, irrsinnigen Nietzsche Raritätenkasten geschmückt sind. Hierzuland läuft jetzt eine ganze Herde solcher Genies umher; sie machen alles unsicher, Drama und Lyrik, Kunst und Kritik, neuerdings sogar auch die Politik, wo sie die Bismärckischen Pindtereien, die in den glücklicheren Tagen der deutschen Bourgeoisie noch als das Gegenteil von Genie galten, mit wahrhaft genialem Selbstbewusstsein wiederkäuen.

Einer aus dieser Schar ist Herr Hartleben, und was er den Räsoneur seiner „Komödie" beispielsweise im dritten Akt über das Ausleben der Individualität sagen lässt, das könnte Wort für Wort in das erste beste manchesterliche Abc-Buch übergehen, ohne im entferntesten aufzufallen. Mit Recht aber hat der Dichter jetzt sich nicht für wichtig genug gehalten, um seine Geistes- und Seelenkämpfe, sein heldenhaftes Losringen aus der dumpfen Nichtigkeit der proletarischen Masse in die heiteren Höhen der genialen Individualität zu dramatisieren; er überträgt diesen geistreichen Prozess auf ein Frauenzimmer, das er in grober Spekulation auf die Skandalsucht mit einem aus der Arbeiterinnenbewegung bekannten Namen tauft. „Hanna Jagert" sagt sich von ihrem aus langjähriger Haft zurückkehrenden Geliebten los, weil sie inzwischen durch einen reichen Fabrikbesitzer darüber belehrt ist, dass nur auf einem „schmutzigen Wege" zum sozialdemokratischen Ziele zu gelangen sei, für welche geistreiche Enthüllung sie sich dem Biedermanne mit „Leib und Seele ergeben hat". Nach diesem Bekenntnis wirft sie ihr sozialdemokratisch gesinnter Vater, der vom Dichter natürlich als ein Possenreißer niedersten Kalibers gezeichnet wird, aus dem Hause, worauf jener Fabrikbesitzer ihr ein Kinderkonfektionsgeschäft einrichtet. Aus der energischen Ausbeutung von Proletarierinnen schlägt die hoffnungsvolle Person so viel Mehrwert, dass sie ihrem Leib- und Seelen-Mann seine Vorschüsse zurückzahlen kann; sie kündigt ihm zugleich oder hat ihm schon vorher zwar nicht die Freundschaft, aber doch die Liebe gekündigt. Danach macht sie, ihr Fabrikbesitzer und selbst ihre Dienerin sich einen ganzen – glücklicherweise den letzten – Akt lang über einen albernen Anbeter von reichen Baron lustig, bis sie diesem schließlich zu seiner höchsten Beseligung erklärt, dass sie sich nun doch, trotz äußersten Widerstrebens, entschließen müsse, „gnädige Frau" zu werden, da sie sich von ihm, nämlich dem albernen Baron, Mutter fühle.

Herr Hartleben und seine Muse mögen uns verzeihen, wenn wir in diesem kurzen Abriss nicht alle ihre „genialen" Motive erschöpft oder wenn wir sie gar missverstanden haben sollten. Wir müssten dann um mildernde Umstände auf Kosten unseres allzu massenhaften und herdenvertierten Verstandes bitten, der in dieser famosen „Komödie" wirklich keine Spur von psychologischer Entwicklung, sondern neben dem aufrichtigen Bemühen, die politisch organisierte Arbeiterklasse nach der Methode des urkomischen Benedix zu verhöhnen, nur das wirrste Durcheinandergerede zu entdecken wusste. Störend genug summten uns auch während der Vorstellung Platens Verse in den Ohren:


Schneemännern gleichen solcherlei Komödienverfasser,

Karikaturen sind sie heut, und morgen sind sie Wasser.


Leider misslang auch der letzte Versuch, uns an der „historischen" Grundlage dieser großartigen Dichtung über ihren eigentlichen Sinn aufzuklären. Da Herr Hartleben einmal den feinen Geschmack gehabt hat, durch den Namen seiner Heldin dies „Historische" an den Haaren vor die Öffentlichkeit zu zerren, so kann und muss man ja davon sprechen. Das Kurze und Lange an der Geschichte ist nun dies, dass eine Proletarierin, die sich in der Arbeiterinnenbewegung durch Beredsamkeit und Eifer hervorgetan hatte, ihrem wegen sogenannter „politischer" Vergehen zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilten Geliebten während seiner Haft um eines andern Proletariers willen untreu wurde und darüber allen Kredit bei ihren Genossinnen so gründlich verlor, dass sie sich ins Ausland rettete. Dieses in Schuld und Sühne menschliche und menschlich ergreifende Schicksal hat Herr Hartleben in die geniale Individualität seiner Hanna Jagert verpopanzt, die als Genie und Individuum sich mit der herben Keuschheit einer Jungfrau von Orleans vor der Berührung jedes Proletariers sichert, aber gegenüber adligen und bürgerlichen Geldprotzen stets in horizontaler Bereitwilligkeit schwebt. Und da entrüstet sich diese Gesellschaft noch, wenn man mal von ihren „geilen Halluzinationen" über die Arbeiterklasse spricht.

Weshalb die Polizei den ach! so wohlgesinnten Schmarrn des Herrn Hartleben mit ihrem Interdikt belegt hat, gehört zu den Rätseln der Theaterzensur. Und nicht viel begreiflicher ist es, weshalb das Lessing-Theater ihm seine Pforten geöffnet hat. Eher ist es schon verständlich, dass diese Bühne sich nur in der schamhaften Stille, die ein leuchtender Lenzmittag in Theaterräumen erzeugt, mit der Scharteke hervorwagte und ihre besten Kräfte vorsandte, um sie einigermaßen herauszuhauen. Der Kopf bei Kopf erschienene Musenhof am Müggelsee ließ es denn auch an dröhnenden Beifallssalven nicht fehlen. Was uns anbetrifft, so flüchten wir vor dieser gründeutschen Genialität gern zur bürgerlichen Romantik der Sudermann und Fulda, die sich doch offen zur Bourgeoisie bekennen und daneben in ihrer Art dramatische Talente sind, was für unsern banausischen Herdentiergeschmack am Ende auch nicht zu verachten ist, so gründlich immer die genialen Individualitäten diesen peinlichen Erdenrest zu entbehren und demgemäß zu verachten gewohnt sind.

II.

Die hiesige Bühnenwelt pflegt im Allgemeinen mit Ostern ihre Jahresernte abzuschließen, was darnach kommt, ist gewöhnlich nicht mehr als eine dürftige Ährenlese. In diesem Jahre sind ihr aber ein paar starke Erfolge noch nach dem Frühlingsfest zugefallen: im Lessing-Theater wurde am 22. d. M. Anzengrubers hinterlassenes Volksstück „Brave Leut' vom Grund" und den Tag darauf im Residenz-Theater Max Halbes Liebesdrama „Jugend" unter lebhaftem Beifall gespielt.

Das Stück von Anzengruber ist, um es in trockener Kürze zu sagen, ein Brosamen, der vom Tisch eines Reichen gefallen ist. Legt man einen strengen kritischen Maßstab an, so muss man vielleicht selbst sagen, dass es Anzengrubers nicht ganz würdig ist. Er hat es der Geistinger auf den Leib geschrieben, die es übrigens nie gespielt hat; in seinen drei Abteilungen schildert das Stück ohne dramatische Entwicklung und selbst ohne inneren psychologischen Zusammenhang, wie ein braves Bürgerkind aus dem Aisergrund sich als Mädchen, als Frau und nach einem halben Menschenalter auch noch als Mutter gar gescheit zu benehmen weiß. Aber ganz verleugnet sich Anzengruber auch in dieser Spielerei nicht, und ein Dichter von seiner Bedeutung kann ein bisschen übertriebene Pietät schon vertragen. Mit dem Lessing-Theater möchten wir um die Aufführung der „Braven Leut' vom Grund" um so weniger rechten, als dieser Bühne das Verdienst gebührt, Anzengruber für Berlin gerettet zu haben; waren wir hierzulande doch noch in den siebziger Jahren so weit zurück in der Barbarei, dass ein Berliner Theater Anzengrubers „Ledigen Hof" und sein geniales Meisterstück „Die Kreuzelschreiber", beide grausam verstümmelt, in einen Theaterabend zusammenpferchte.

Der Erfolg der „Braven Leut' vom Grund" steht und fällt mit der Darstellung der Hauptrolle, und die war in den Händen von Jenny Groß, einer geborenen Wienerin, allerbestens aufgehoben. Einen kaum minder trefflichen Partner hatte sie an Franz Schönfeld, der auch von der Donau an die Spree gewandert ist, und überhaupt kam es der Vorstellung sehr zugute, dass unter den Schauspielern des Lessing-Theaters das österreichische Element stark vertreten ist. Doch der Hauptgrund des überraschend starken Erfolges, den das Stück fand, war wohl seine – Harmlosigkeit, an die das Premierenpublikum bei Anzengruber nicht gerade gewöhnt ist. Das war alles so bequem, einfach und gemütlich; weshalb hat dieser querköpfige Poet denn nicht immer so niedliche Sächelchen geschrieben? Dann hätte er als tantiemenfroher Mann durchs Leben wandeln können, dann hätte er sich nicht mit halben Erfolgen oder gar ganzen Misserfolgen all sein Lebtag zu plagen brauchen, um verhältnismäßig früh in verbitterter Stimmung zu sterben.

Ja, weshalb nicht? Vor einer Reihe von Jahren veröffentliche Julius Duboc einen trefflichen Aufsatz über Anzengruber, worin er den Bann zu brechen suchte, der über Anzengrubers dichterischem Schaffen lag. Er kommt in diesem Aufsatze auch auf Reuter zu sprechen, dem neben Anzengruber bedeutendsten Dichter, den das deutsche Kleinbürgertum im letzten Menschenalter erzeugt hat, und führt etwa aus, dass Reuters Dichtung durch die eigentümlich schwerfällige Beschaffenheit des Bodens, worauf sie erwachsen sei, etwas gleichsam von Moor- und Torfgeruch anhafte, der zwar nicht den Norddeutschen, aber den Süddeutschen widerstehe, während in dem Preise von würzigem Alpenrosenduft und reiner Gebirgsluft alle Herzen und Sinne übereinstimmten. Der österreichische Bauer Anzengruber sei ja auch ein Bauer mit allem Bauernzubehör, aber es stecke doch gleichzeitig ein spirituelleres Element in ihm, das dem prosaischen Naturell der Bewohner unseres norddeutschen Flachlandes abgehe. Damit war Herr Duboc auf einer ganz richtigen Spur, aber er hörte die Glocken mehr läuten, als dass er sah, wo sie hingen, und so machte er das Rätsel, das er gerne lösen wollte, nämlich Anzengrubers Verkennung, erst recht unlösbar. Denn wenn dem so war, wie er sagte, so war es doch vollends unverständlich, weshalb der Dichter Reuter einen so viel unbestritteneren Erfolg hatte als der Dichter Anzengruber.

In Wirklichkeit lag der Unterschied nicht in der Natur, sondern in der Kultur. Der deutsche Süden hat eine ältere und reichere Kultur als der deutsche Norden. Anzengrubers Steinklopferhannes und Wurzelsepp – von den weiblichen Gestalten beider Dichter nun gar zu schweigen – waren Geschöpfe höherer Kultur als Jung-Jochen und Entspekter Bräsig, und so haben jene allerlei vertrackte Grillen im Kopfe, von denen diese nichts ahnen. Mit anderen Worten: von den beiden Elementen, die im Kleinbürgertum stecken, vertrat Anzengruber mehr das Rebellische, dem Proletariat sich Zuneigende, Reuter aber mehr das Duckmäuserische, mit den herrschenden Klassen sich Abfindende, und deshalb schloss die zahlungsfähige Bourgeoisie Reuter in ihr Herz, während sie über das Misstrauen gegen Anzengruber nie völlig hinauskam. Es versteht sich, dass wir hier von den Dichtern, nicht von den Personen sprechen. Im Grunde seines Herzens blieb Reuter ja sehr lange der alte Demagoge, und in seinen dichterischen Anfängen unternahm er ja auch einmal mit „Kein Hüsung" einen tapferen Anlauf gegen die feudale Barbarei. Aber als Dichter stand er in einem niedrigeren Kulturkreise als Anzengruber, und dieser wäre nie eines so geschmacklos patriotischen Angriffs auf Heines Dichterruhm fähig gewesen, wie ihn sich Reuter in dem Übermute seiner größten Erfolge erlaubte.

Auf dem Wege über Reuter kommen wir von Anzengruber am schnellsten zu Halbe, einem jungen Poeten, der seine sozialen Stoffe aus der westpreußischen Weichselniederung holt und nicht zuletzt auch das ostelbische Landproletariat schildert. Es ist wesentlich dasselbe Proletariat, das Reuter vor sich hatte – wesentlich, nicht ganz, denn in Mecklenburg und Vorpommern fehlt die katholische und polnische Nuance, die in Westpreußen mitspielt –, aber bei Halbe schaut dies Proletariat doch schon aus ganz anderen Augen wie bei Reuter. Reuters Landproletarier tröstet sich des Glaubens, dass alles so sei, „as dat ledder is", während Halbes Landproletarier doch schon überlegt, „wat hei dorbi dhaun kann". Man vergleiche einmal die Landarbeiterszenen in Reuters „Stromtid" mit den Landarbeiterszenen in Halbes „Eisgang", und man hat ein viel anschaulicheres Bild von der sozialen Entwicklung des ostelbischen Landproletariats vor sich, als die weitläufige Enquete des Vereins für Sozialpolitik irgend geben kann. Wir wurden zuerst auf Herrn Halbe aufmerksam, als die Freie Volksbühne vor Jahr und Tag seinen „Eisgang" aufführte – unter lebhaftem Beifall des Arbeiterpublikums, unter einem bösartigen Hagelwetter der Bourgeoiskritik. Ein grobes Tendenzstück, eine Ausgeburt des blutigsten Dilettantismus, ein Gemengsel, eine Schmieralie und Selbstpersiflage, eine Zusammenstoppelung – so tönt es in den „vornehmsten" Organen wild durcheinander. Dieser außergewöhnliche Paroxysmus veranlasst uns zu der logischen Schlussfolgerung, dass hier ein außergewöhnliches Talent totgeschlagen werden sollte, und als Herr Halbe seinen „Eisgang" im Drucke erscheinen ließ, fanden wir unsere Voraussicht durchaus bestätigt. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wollen wir übrigens beiläufig bemerken, dass Herr Halbe seit dem vorigen Herbste zu den Gegnern der Freien Volksbühne gehört; er hat sich auf die Seite der bourgeoisen „Volkspädagogik" geschlagen und ist, wenn wir nicht irren, Schriftführer der Neuen Freien Volksbühne.1

Hilflos treibend in dem Eisgang, den sein „Eisgang" in der Bourgeoisiekritik entfesselt hatte, ließ Herr Halbe in dem damaligen Vereinsblättchen der Freien Volksbühne ein gar rührendes Klagelied erschallen. Wir geben einige Sätze daraus wieder, da sich in ihnen die arge Betroffenheit des harmlosen Poeten, der so, plötzlich unter die Räuber gefallen war, sehr hübsch widerspiegelt, nicht minder aber auch seine liebenswürdige Bescheidenheit und sein ernstes Streben. Herr Halbe also schrieb: „Ich bin sehr traurig geworden, als ich das alles las. Ach, wir hatten uns unsern Weg auf dieser Erde anders vorgestellt, mein ,Eisgang' und ich! Ein Stück Leben hatten wir beim Schopf nehmen und hinstellen wollen, wie wir es gefunden hatten in unseren Erinnerungen und Beobachtungen. Das Schicksal eines Mannes, welcher hergekommen war von einer alten, morschen Klasse und den Weg gesucht zu neuer Hoffnung und Jugend, aber inmitten des Pfades stehengeblieben, weil seine Kraft versagt, aufgebraucht von seinen Vorfahren und nun zerdrückt zwischen den beiden Mächten Vergangenheit und Zukunft. Als notwendige Ergänzung zu dieser Mittelpunktsgestalt aber musste das Geschlecht von gestern gezeigt werden, von welchem der junge Mann herkam, und auf der andern Seite das Geschlecht von morgen, welches er suchte und welches noch nicht vorhanden war, dort wo er es suchte! Denn die Lohnarbeiter waren zurückgeblieben in einer Knechtschaft von Jahrhunderten, und nicht an einem Tage war die Versäumnis ganzer Geschlechter gutzumachen. Darum riefen sie noch dem Kaiser Hurra, und der Lehrer Spirk konnte kein besseres Agitationsmittel für ihre unaufgeklärten Köpfe finden als die Berufung auf den Kaiser. Aber wenn wir den eifrigen Landagitator einmal wieder zu sprechen kriegen, so wird er uns, hoff ich, bessere Kunde vermelden können. Hugo Tetzlaff aber verstand die Erkenntnis von der augenblicklichen Unreife seiner Mitmenschen nicht. So suchte und fand er den Tod beim ,Eisgang'. Dieser verheerende Eisgang ist natürlich nicht als ein zufälliges, äußerliches, bedeutungsloses Ereignis aufzufassen. Er hängt vielmehr mit der Handlung organisch zusammen, ja er drückt sinnbildlich den Grundgedanken des Dramas aus. Die Verwüstungen, welche der Strom anrichtet, sind die Ergebnisse derselben Verwahrlosung, die sich im Volke bereits so grausig und schier unheilbar bekundet hat. Vergebens versucht die Obrigkeit, den gefährlichen Strom zu regulieren. Als der Frühling die winterlichen Ketten sprengt, schwellen die Wasser unheimlich an, zerreißen mit elementarer Gewalt die Dämme, und – ,der Strom hat ein neues Bett'. Hugo Tetzlaff aber, der Sohn eines Übergangszeitalters, ist in den Wogen versunken." Soweit Herr Halbe über seinen „Eisgang".

Nun lässt sich nicht behaupten, dass der Dichter das Problem, das er sich gesteckt hatte, bis auf den letzten Rest gelöst hat. Namentlich sein Held Tetzlaff ist ein ganz interessanter psychologischer Versuch, aber keine soziale Wirklichkeit. Er ist kein Faktum, sondern eine Hypothese. Mindestens in den ostelbischen Landschaften, wo wir heimisch sind – und sie sind Herrn Halbes Heimat benachbart –, haben wir noch keinen Junker oder Junkergenossen getroffen, der den Glauben an sein soziales Recht verloren und vor dem endlich erwachten, in seinem Kerne so unendlich berechtigten und in seiner äußeren Form oft so verschrobenen Klassenkampfe des ländlichen Proletariats die Flinte ins Korn geworfen hätte. Diese Sorte ist aus gröberem und härterem Stoffe gebacken, aus dem Stoffe, aus dem Halbe eine Nebenfigur seines „Eisgangs", den Onkel Leidigkeit, plastisch genug zu gestalten gewusst hat. Aber was diesem Stücke Halbes eine sehr hervorragende Bedeutung gibt, das ist die ganz wundervolle Schärfe und Sicherheit, womit er das ländliche Proletariat in dem heutigen Zustande seiner sozialen Gärung zu treffen gewusst hat. So wie er diese Knechte und Mägde, diese Hirten und Tagelöhner schildert, so sind sie wirklich; unreif und unverständig, bald kindisch trotzend, bald mutlos verzagend, aber in all ihrer Unreife und all ihrem Unverstände doch die Träger des für eine wahrhaft menschliche Kultur entscheidendsten Emanzipationskampfs. Und mit echt dichterischen Mitteln löst Halbe die Aufgabe, ohne jede aufdringliche Tendenz unter der krausen Oberfläche dieses Kampfes seinen tiefen und wahren Sinn durchscheinen zu lassen. Diese Szenen stehen ganz auf der Höhe von Hauptmanns „Webern", ja insofern ist mit ihnen noch mehr geleistet, als Halbe sozusagen aus wilder Wurzel geschaffen hat, während für Hauptmann doch viel literarische Vorarbeit getan war.

In Halbes „Jugend", dem „Liebesdrama" in drei Akten, das vorgestern im Residenz-Theater aufgeführt wurde, bekamen wir nun den eifrigen Landagitator nicht wieder zu sprechen. Doch soll mit der Feststellung dieser Tatsache nicht der geringste Tadel ausgesprochen sein. Die Behauptung des Herrn Brahm, dass die Ästhetiker des Sozialismus immer Karl Marx in fünf Akten dramatisiert sehen wollten, ist ja nichts als eine abgeschmackte Finte, die durch die kühle Abweisung heißen Liebeswerbens erklärt und am Ende auch entschuldigt werden mag. Wir wollen uns allerdings nicht den scheußlichen Abfall der Bourgeoiswirtschaft als ein neu entdecktes Golkonda dramatischer Schätze aufreden lassen. Aber wir sind gern zufrieden, wenn die bürgerlichen Dramatiker uns echtes, ursprüngliches Menschenleben vorführen, und falls sie solch Leben noch in bürgerlichen Kreisen finden, um so besser für sie und um nichts schlechter für uns. Halbes „Jugend" wandelt in den Geleisen von Shakespeares „Romeo und Julia", um an einen größten, und von Grillparzers „Hero", um an einen noch großen Vorgänger zu erinnern. Aber sie ist eine vollkommen selbständige Dichtung, dem Dichter wiederum erwachsen aus seinem heimatlichen Boden; in einem katholischen Pfarrhause der polnisch-westpreußischen Grenze spielt sich das heiße und glückliche Liebeswerben zwischen zwei blutjungen Geschöpfen ab, einer Nichte des Pfarrers und einem angehenden Studentlein, das sich, den Kopf voll hochfliegender Pläne, eben zum ersten Ausfluge in die weite Welt, zum Besuche der Universität Heidelberg rüstet. Mit glücklichem Griffe hat Halbe die Liebesleidenschaft einmal aus all den konventionellen Schranken gelöst, die ihr in der bürgerlichen Gesellschaft gezogen sind, und auch darin bewährt er sich als der geborene Dramatiker, dass erst auf der Bühne seine Gestalten volles Leben gewinnen und seine Handlung jene lebenswarme Stimmung, die uns über manche Mängel der Komposition und wohl auch einmal über eine gewagte Voraussetzung hinweg trägt. Die Achillesferse des Dramas ist sein Schluss: der Tod der kleinen Heldin am Morgen nach der Liebesnacht,, der Tod nicht durch eine tragische Verkettung von Handlungen, sondern durch einen plumpen und törichten Zufall. Und die bürgerliche Presse hat ja so recht, wenn sie darauf herumreitet. Aber gibt es nicht noch mildernde Umstände für den Dichter? Sollte er vielleicht sein Drama mit der Perspektive schließen, dass seine in all ihrer naiven Sinnlichkeit so wunderliebliche Annuschka hinfort ihre Tage als verschollenes Individuum mit einem unehelichen Kinde weiterschleppt? Oder etwa mit der andern Perspektive, dass der in all seiner unfertigen Ungebärdigkeit so liebenswürdige Schlingel Hans nach fünfzehn Jahren – denn eher ließen es die preußischen Examina, Wartestationen und Anfangsgehälter nicht zu – als verphilistierter Amtsrichter oder Oberlehrer wiederkehrte, um sich mit seiner angejahrten Jugendliebe und dem inzwischen schon recht abgewachsenen Söhnlein oder Töchterlein einen sogenannten „häuslichen Herd", will sagen die Hölle auf Erden zu gründen? Eine wirkliche Tragik liegt in dem Tode der Heldin schon deshalb nicht, weil nach allen menschlichen und natürlichen Begriffen nicht abzusehen ist, weshalb ihr „Fehltritt" denn überhaupt einen tragischen Ausgang verlangt. Aber was soll so ein armes Poetlein unter den heutigen Verhältnissen machen? Eine bessere Lösung dramatischer Liebeskonflikte, als die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem sich immer mehr zu einem sinnlosen Zerrbilde gestaltenden Liebesleben der Geschlechter zulässt, kann er ihr schließlich doch nicht liefern.

Für die hiesigen Theaterzustände war es bezeichnend, dass die Direktion des Residenz-Theaters mit der „Jugend", die bei anderen Bühnen erfolglos angeklopft hatte, nur in einer Mittagsvorstellung vorzukommen wagte. Aber sie hatte wenigstens alles Mögliche für eine gute Besetzung und Inszenierung getan; namentlich das Liebespaar fand durch Rudolf Rittner und Vilma v. Mayburg eine ausgezeichnete Darstellung. Der Erfolg beim Premierenpublikum wurde auch hier nicht zuletzt durch die – im Sinne der Bourgeoisie – Harmlosigkeit des Dramas verursacht. Ganz geheuerlich ist freilich der bürgerlichen Kritik angesichts einer so konventionswidrigen Liebesgeschichte noch immer nicht, aber ihre „vornehmen" Organe sind doch gnädig genug, dem Dichter zu versichern, dass er schon poussiert werden würde, wenn er nur nicht wieder auf solche Dummheiten wie den „Eisgang" zurückkäme.

Herr Halbe tritt somit in die dritte und schwerste Station der dornenvollen Laufbahn, die ein echter Dramatiker in der heutigen Gesellschaft zu wandeln hat. Mit seinen Erstlingswerken „Emporkömmling" und „Freie Liebe" hat er die erste Station des Totgeschwiegen-, mit dem „Eisgang" die zweite Station des Totgeschlagenwerden überwunden. Mit der „Jugend" segelt sein Schifflein nun auch in die Meerenge, worin noch Gerhart Hauptmanns Schifflein schwankt: in jenen Strudel, wo hüben die Reklamen der Naturalistenclique Brahm-Schlenther, drüben das freisinnige Plädoyer des Herrn Greiling auf bourgeoise Gesinnungstüchtigkeit droht. Hoffen wir, dass Halbe und Hauptmann bald die hohe See gewinnen! Denn sie sind wirklich junge Prinzen aus Genieland, und Halbe steht mindestens ebenbürtig neben Hauptmann.

1 Bis Oktober 1892 stand die Freie Volksbühne wesentlich unter der Leitung der halbanarchistischen Gruppe der „Jungen" in der Partei und der Naturalisten in der Literatur. Das Programm und die Praktiken der damaligen Leiter der Freien Volksbühne waren derart, dass sie die Arbeitermitglieder nicht in die künstlerischen Geschäfte des Vereins hineinreden lassen wollten. Auch der Organisationsaufbau der Volksbühne war undemokratisch und unterstellte die Arbeitermitglieder der geistigen Leitung der bürgerlichen Literaten. Mehring führte einen erbitterten Kampf gegen dieses „volkspädagogische" Verfahren. Nach zwei stürmischen Generalversammlungen splitterten die „geistigen Leiter" mit einer kleinen Anhängerschar in die Neue Freie Volksbühne ab.

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