Franz Mehring 18990223 Berliner Theater (Max Halbe, „Die Heimatlosen")

Franz Mehring: Berliner Theater

Max Halbe, „Die Heimatlosen"

23. Februar 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 730-732. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 360-362]

Im Lessing-Theater wurde vorgestern Max Halbes neues Drama „Die Heimatlosen" zum ersten Male aufgeführt. Es errang einen äußerlich ziemlich starken Erfolg, der sich teilweise aus äußerlichen, obschon nicht tadelnswerten Beweggründen erklärte: dem Dichter war vor einigen Monaten in demselben Theater sehr übel mitgespielt worden, viel übler, als es sein damals aufgeführtes, literarisch allerdings unbedeutendes Drama verdient hatte: als sich nun vorgestern wiederum die Anzeichen einer tendenziösen Opposition bemerkbar machten, mischte sich in den Beifall ein demonstrativer Protest gegen eine neue Abschlachtung des Dichters, was dem Premierenpublikum auch einmal zum Guten gerechnet werden mag.

Am kürzesten und treffendsten urteilt man über die „Heimatlosen" vielleicht, wenn man sagt, dass sie eine anspruchsvollere, aber leider nicht gelungenere Auflage der „Jugend" seien, desjenigen Dramas, das dem Dichter Halbe den ersten großen und bisher noch einzigen ganz unbestreitbaren Theatererfolg eingetragen hat. Der Titel täuscht insofern, als er eine Milieuschilderung anzukündigen scheint: tatsächlich sind die „Heimatlosen" ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen in einer Berliner Pension, eine künstlerische und literarische Boheme, die mit allerlei kleinstädtischen Philistervorurteilen gebrochen hat oder gebrochen zu haben sich einbildet. Man kann nicht sagen, dass Halbe dies Milieu in besonders fesselnder und packender Weise herauszuarbeiten verstanden habe, vielleicht weniger aus Mangel an dichterischer Kraft, als weil sich diesem Milieu überhaupt nicht fesselnde und packende Seiten abgewinnen lassen: die verstiegenen Redensarten eines verkommenen „Genies" und sonst allerlei Bummel- und Studentenwitze sind recht altbackene Ware; sie stimmen schlecht zu dem furchtbaren Sinn, den unter den heutigen sozialen Zuständen der Begriff der „Heimatlosigkeit" gewonnen hat.

Und zu diesem etwas verschlissenen Milieu stimmt nun wieder sehr schlecht das ernste und tragische Lebensschicksal, das Halbe tatsächlich schildern will. Ein frisches, junges, übermütiges Mädchen rettet sich aus der drückenden Enge ihres philiströsen Elternhauses in die Berliner Pension, wo unter den „Heimatlosen" eine Verwandte von ihr haust; sie vermag sich aber aus eigener Kraft kein eigenes Schicksal zu zimmern, sondern wird die Beute einer „blonden Bestie", eines „Übermenschen", der, nichts weniger als ein „Heimatloser", sondern ein ostelbischer Rittergutsbesitzer, den Winter über unter den „Heimatlosen" lebt, um törichte Mädchen zu verführen. Das Mädchen tötet sich dann, als es von seinem Verführer verlassen wird und seine Mutter erscheint, um es wieder in das philiströse Elternhaus zurückzuführen.

Es ist ein ähnlicher Konflikt wie in der „Jugend", doch fällt der Vergleich zwischen beiden Stücken durchaus zuungunsten der „Heimatlosen" aus. Nicht nur zerren sie fünf Akte auseinander, was in dem älteren Drama durch drei Akte völlig erschöpft war, nicht nur ist die Milieuschilderung in den „Heimatlosen" so dünn und zerfahren, wie sie in der „Jugend" von echtestem Leben gesättigt war: vor allem war der Herzenskonflikt in der „Jugend" viel natürlicher und rührender, als er in den „Heimatlosen" ist. Dort verfielen zwei blutjunge Menschenkinder in der menschlichsten Weise von der Welt in süße Sünde, und das tragische Ende des Mädchens, so unbegründet es an und für sich sein mochte, hatte doch einen versöhnenden Zug: der Tod war das bessere Teil für das arme Ding, dessen sonst in der bürgerlichen Welt ein Leben voll halb lächerlicher, halb schrecklicher Entsagung geharrt hätte. Hier aber ist die Heldin schon ein kleines Gänschen, das sich aus der Philisterei nur zu retten weiß, um dem ersten besten Verführer in die Hände zu fallen und dann sich selbst zu töten, als ihm nur die Wahl bleibt zwischen der Philisterheimat oder wirklicher Heimatlosigkeit. Und nun gar der Held!

Ja, dieser Held kann einem das ganze Drama verleiden, trotz mancher hübscher Szenen! Die allerlumpigste Don Juanerie aufgepufft zum „blonden Bestien-", zum „Übermenschentum"! Sudermann hat damit angefangen, den ostpreußischen Junker in dieser Weise als „Übermenschen" zu verherrlichen, Halbe folgt ihm mit dem westpreußischen Junker nach, nächstens wird nun wohl noch der märkische und der pommersche und der mecklenburgische Junker darankommen, und dann lebt in der modernen Dramatik eine Landplage unsterblich fort, die im Leben zum Heile für die gesittete Menschheit endlich untergeht. Wenn dies des Pudels Kern sein soll, dann kann einen der Kasus wirklich lachen machen. Man wird an Halbes Helden vergebens nach irgendeinem Zuge suchen, der menschlich anziehen könnte: der Kerl benimmt sich von Anfang bis zum Ende als ein brutaler Flegel, es sei denn, dass man in seinem Triumph: er habe seinem Opfer niemals die Ehe versprochen, eine höhere Rechtfertigung seines edlen Gebarens erkennen soll. Es gibt gewiss solch Pack, und solange es lebendig herumläuft, soll auch dem Dichter nicht das Recht benommen sein, es zu schildern, aber selbst in der bürgerlichen Welt ist es noch nicht als „Übermenschentum", sondern als Lumpenbagage abgestempelt, und der „Fall", der nach der Angabe der bürgerlichen Kritik Halbes Drama angeregt haben soll, endete auch keineswegs damit, dass sich das Opfer tötete, sondern vielmehr damit, dass es den Lumpen über den Haufen schoss oder stach. Halbes Heldin kommt freilich auch einmal auf diesen gescheiten Gedanken, aber überwältigt von Liebe und Rührung lässt sie den Dolch wieder fallen, eine echt larmoyante Szene, die man in einem naturalistischen Drama nicht suchen sollte. Ein Glück noch, dass es in der wirklichen Welt etwas realistischer zugeht als im modernen Naturalismus.

Die tiefe Unwahrheit des tragischen Konflikts ist der schwerste und auch wohl ein unheilbarer Fehler der „Heimatlosen". Trotzdem ist dem Dichter der Beifall zu gönnen, den er fand, denn es ist ihm wiederholt allzu arg mitgespielt worden, und man hat bei ihm immer den Eindruck, dass er ernsthaft um seine künstlerischen Ziele ringt. Sein Missgeschick ist nicht sowohl seine Schuld, als die Schuld seiner Zeit, deren tragische Stoffe erst beginnen, wo das Lampenlicht der bürgerlichen Bühne längst erloschen ist.

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