Franz Mehring 18940204 Ein Scherzspiel

Franz Mehring: Ein Scherzspiel

4. Februar 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 629-631. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 352-355]

Im vorigen Jahre war das hiesige Theater arm an Erfolgen, in diesem ist es noch viel ärmer daran. Die Novitäten zwar jagen sich mit atembeklemmender Hast; manche große Bühne übt deren eine oder gar zwei in jeder Woche. Aber es ist alles wertlose Fabrikware, hier und da mit ein bisschen literarischem, nirgends mit irgendwelchem dramatischem Talent aufgeputzt. Bezeichnend genug nehmen die Journalistenstücke überhand. Ein Schiller oder Shakespeare könnte vor den Pforten unserer heutigen Musentempel verhungern, aber wenn irgendein Schmock der Bourgeoispresse sich herablässt, ein Stück zu schmieren, wie er sonst die Stiefel seines „Brotherrn" schmiert, so passiert es alle Klippen und Sandbänke der „feinsten" und „vornehmsten" Theater. So bringt es das Geschäft mit sich. Denn die Theaterdirektoren brauchen gar zu notwendig die Schaumschlägereien der Schmocks.

In fünf Monaten haben die hiesigen Bühnen nicht einmal ebenso viele dramatische Werke vorgeführt, die einer Besprechung an dieser Stelle wert gewesen wären. Es sind im Grund nicht mehr als zwei junge Dramatiker, an deren fernerer Entwicklung man mit einigem Interesse teilnehmen kann. In Nummer 32 des vorigen Jahrgangs der „Neuen Zeit“ nannten wir Gerhart Hauptmann und Max Halbe junge Prinzen aus Genieland – nicht „Priester“, wie damals ein unliebsamer Druckfehler sagte – und sprachen die Hoffnung aus, dass beide sich aus den Banden der Naturalistenclique Brahm-Schlenther befreien und bald die hohe See der sozialen Dramatik gewinnen würden, in der sie allein bisher, Hauptmann durch die „Weber“, Halbe durch den „Eisgang“, Erfolge erreicht haben, die ihnen eine große Zukunft zu verheißen scheinen. Über unsere Hoffnung selbst gaben wir uns freilich keine großen Hoffnungen hin, und dies Theaterjahr hat sie einstweilen denn auch als eine verwegene Illusion offenbart. Hauptmann tat im „Biberpelz“ einen Schritt vorwärts, um im „Hannele“ ein Dutzend Schritte rückwärts zu tun. Inzwischen ist dieser mystische Spuk glücklich von Hauptmanns Gönner, dem Herrn Paul Schlenther, in den „Preußischen Jahrbüchrn“ zu einem grotesken Ausfall gegen die Sozialdemokratie ausgebeutet worden, wofür dann der große Naturalisten-Häuptling vom „Vorwärts“ als literarischer Karl Buttervogel in einer ebenso unbarmherzigen wie verdienten Züchtigung enthüllt worden ist.

Größere Haltung als Hauptmann weiß Halbe zu bewahren, wie er denn überhaupt frei ist von der leeren Selbstbespiegelung, die sich in mehr als einer Arbeit Hauptmanns unangenehm genug bemerkbar macht. „Der Amerikafahrer" nennt sich das Scherzspiel in drei Akten, das Halbe gestern zur Feier der Fastnacht im Neuen Theater aufführen ließ. Es ist eine Fastnachtsposse, die der Dichter geschrieben hat, offenbar angeregt durch die Fastnachtsspiele des fünfzehnten Jahrhunderts. Literarhistorisch hat Gervinus diese dramatische Gattung vortrefflich gekennzeichnet, wenn er sagt: „Oft nicht ohne eine gute und ernstere innere Bedeutung, sind sie doch durchschnittlich aus der tollsten Laune geflossen und auf die derbste Lachlust berechnet durch das Verkehren alles Schicklichen; die Unanständigkeit ist die Seele dieser Stücke, wie sie die Ehre der Fastnacht ist, die der Quell und Ursprung dieses neueren Lustspiels war, wie die Bacchusfeste und phallischen Gesänge für das Lustspiel des Altertums … Freiwillig wie die ersten Komödienspieler des Altertums sammelten sich wenige Leute, zogen in das Haus eines Bekannten und spielten ihm etwas vor, das seine freigebige Laune so zu steigern geeignet sein musste, dass den Spielern eine gastliche Bewirtung zuteil wurde … Die Zoten und Unflätigkeiten, die man sich erlaubte, reichen wohl an alles, was der Art in unserer Literatur sich vorfindet, und vergleichen sich mit den ältesten italienischen Farcen, worin das über alle Begriffe geht." Hätte Gervinus, was freilich ganz außerhalb seines Gedankenkreises lag, die literarische Erscheinung auf ihren ökonomischen Zusammenhang zurückgeführt, so würde er gefunden haben, dass diese Festspiele das erste lebenslustige Aufschäumen der bürgerlichen Klasse bedeuteten und dass sich in ihrer geschlechtlichen Ausgelassenheit die größere Freiheit widerspiegelt, welche die Frauen namentlich der reichen Handelsstädte durch die neue Produktionsweise gewannen. Augsburg und besonders Nürnberg waren die klassischen Stätten der Fastnachtsspiele, die, immer getreu der ökonomischen Entwicklung, im sechzehnten Jahrhundert einen leidenschaftlichen, halb an Luthers konfessionelle Streitschriften, halb an Huttens luzianische Gespräche anklingenden Ton gewannen und darnach in die Spießbürgerei des Meistergesanges verliefen.

Halbe hat sich nun in seinem „Amerikafahrer" an die erste Gestalt des Fastnachtsspiels gehalten, und das beweist einen recht guten Instinkt. Die erste Gestalt dieser Possen war ihre originellste und in gewissem Sinne revolutionärste. Halbes Amerikafahrer ist ein alter, hässlicher, lahmer Nachtwächter, um dessen junges, hübsches Weibchen sich zwei dörfliche Don Juans streiten. Der eifersüchtige Alte wird von seiner besseren Hälfte und ihren Bewerbern auf den Weg nach Amerika spediert, kehrt aber unvermutet und just noch zur rechten Zeit zurück, um die inzwischen arg bedrängte Tugend der Schönen zu retten, die sich von nun an mit ihrem ehelichen Glücke begnügen will. In dem Nichts von Handlung ist Halbes Stück eine richtige Fastnachtsposse, aber keineswegs in der Ausspinnung dieses Nichts zu drei langen Akten. Ebenso ist es eine richtige Fastnachtsposse in dem kecken Antasten der bürgerlichen Ehe, aber keineswegs in dem lahmen und zahmen Ausgange dieses Anlaufs. Wollte der Dichter damit der guten Sitte der heutigen Bourgeoisie ein Zugeständnis machen, so hat er einen sehr schlechten Instinkt bewiesen. Nicht zwar, als ob wir behaupten möchten, dass es dem hiesigen Premierenpublikum besser gefallen hätte, wenn der wackere Nachtwächter wirklich ein paar Hörner davongetragen hätte; möglich, dass es dann noch entrüsteter gewesen wäre! Aber der Dichter hat ganz verkannt, dass die „Unanständigkeit", von der Gervinus spricht, eben auch ein sehr verschiedener Begriff ist, je nachdem er sich im Kopfe eines aufstrebenden oder verkommenden Bürgertums widerspiegelt. Mit einem unbewussten, aber ganz unbezahlbaren Witze ließ die Direktion des Neuen Theaters dem Scherzspiele Halbes ein französisches Lustspiel von Alexandre Dumas vorangehen, den bekannten „Besuch nach der Hochzeit", dessen Moral darin besteht, dass ein moderner Bourgeois Frau und Kind verlässt, um eine Frau zu entführen, von der er glaubt, dass sie als gemeine Dirne sich jedem Zahlungsfähigen preisgibt, aber enttäuscht an seinen häuslichen Herd zurückkehrt, als er entdeckt, dass die angebliche Dirne eine ihn leidenschaftlich liebende, ehrbare Frau ist. Dieses Vomitiv, das im Nürnberg des sechzehnten Jahrhunderts einfachen Ekel erregt hätte, schluckte das hiesige Premierenpublikum mit frenetischem Jauchzen, vielmaligem Hervorrufen der Darsteller usw. hinunter. Dagegen wurde Halbes Scherzspiel, das bei alledem anmutig genug die Nürnberger Fastnachtsschwänke erneuert, in pöbelhafter Weise niedergehöhnt, niedergetrampelt, niedergezischt, und die Kritiker der Bourgeoispresse weisen mit ernst gerunzelter Stirn auf die paar sanften Zötlein hin, die Halbe dennoch gewagt hat.

Die Lynchjustiz, die das hiesige Premierenpublikum je länger je mehr über ihm missfällige Stücke verhängt, offenbart so recht die Bestialität der modernen Bourgeoisie. Ihren ersten Anstoß hat sie allerdings wohl erhalten durch die dreiste Claque, die von den Theaterdirektoren für neue Stücke organisiert zu werden pflegt und auch für Halbes Scherzspiel organisiert worden war. Wenn sie sich darauf beschränkte, derb und kurz das Urteil zurückzuweisen, das ihr durch die Claque aufgedrängt werden soll, so wäre nichts dagegen einzuwenden. Aber so wie diese Lynchjustiz jetzt gehandhabt wird, ist sie nichts weniger als der Ausbruch einer ehrlichen, ästhetischen oder moralischen Entrüstung. Sie ist ein Jux, den sich der Pöbel in Seidenhüten machen will. In der Pause nach dem zweiten Akte wird unter der oberen Leitung der Schmocks das Urteil in den Wandelgängen gemacht, und vom dritten Akt ab wird es exekutiert. Die Schauspieler werden genarrt und geneckt, als ob sie wilde Tiere wären, eine Rohheit unter allen Umständen, eine doppelte Rohheit, wenn die Schauspieler wie in Halbes Stück ihr Bestes an die Sache setzen. In den minutenlangen Pausen, die durch das Gejohle des Publikums verursacht wurden, sah man die kleine Heldin des Stückes mit zornig zusammengezogenen Brauen auf ihre Partner einsprechen, anscheinend um sie zu irgendeiner rebellischen Tat aufzustacheln, aber das stärkere Geschlecht auf der Bühne verhielt sich passiv, und es wusste auch wohl, warum.

Gelassener betrachten wir die Misshandlung des Dichters. Denn auch er ist misshandelt worden. Halbes Arbeit steht immer noch bergehoch über dem landläufigen Theaterschund, und was ihr vor diesem Publikum das Genick brach, war nicht ihr wirklicher Fehler, war nicht der Versuch, den großen Fragen der Zeit auszuweichen durch die künstliche, aber keineswegs künstlerische Wiederbelebung historisch abgestorbener Dichtungsformen, sondern gerade die literarische Höhe, die das Scherzspiel einzuhalten sucht, der Verzicht auf die schlechten und verdorbenen Instinkte der Bourgeoisie, der Fleiß und das Talent, die der Dichter aufgewandt hat. Aber so ein junger Poet kann am Ende einen tüchtigen Puff vertragen, und je rücksichtsloser ihn die Lynchjustiz der Bourgeoisie von dem falschen Wege vertreibt, worauf er jetzt noch wandelt, um so eher mag er auf den richtigen Weg gelangen, auf dem er wirkliche Lorbeeren pflücken kann.

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