Franz Mehring 18960123 Max Halbes „Lebenswende"

Franz Mehring: Max Halbes „Lebenswende"

23. Januar 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 567-569. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 356-359]

Max Halbe, der neben Gerhart Hauptmann talentvollste Vertreter der naturalistischen Dramatik, hat vorgestern im Deutschen Theater mit seinem neuesten Stücke eine fast ebenso entschiedene Niederlage erlitten wie Hauptmann dritthalb Wochen vorher mit seinem „Florian Geyer". Eine fast ebenso entschiedene oder, wenn man will, noch entschiedenere Niederlage. Der landesübliche Premierenskandal kam nicht zum völligen Ausbruch, aber aus einem ganz besonderen Grunde nicht. Die wohlwollende Claque konnte ungestört arbeiten und den Dichter sogar ein paarmal vor die Gardinen rufen, weil die feindselige Clique von manchen Eigenschaften der „Tragikomödie" milder gestimmt wurde, was nichts weniger als eine Schmeichelei für den Dichter oder sein Werk war.

Worauf Halbe mit der „Lebenswende" eigentlich hinaus will, ist schwer zu sagen. Sechs Personen treiben fünf lange Akte durcheinander, vier Männlein und zwei Weiblein, unter denen sich auch nicht ein einziger scharf umrissener Charakterkopf befindet. Alle erinnern mehr oder weniger an altbekannte Schablonenfiguren des Lustspiels, am stärksten der verbummelte Student, dessen bald gute und bald schlechte, alles in allem aber doch sehr triviale Witze wohl am meisten dazu beitrugen, den auf Pfeifen und Zischen vorbereiteten Janhagel zu entwaffnen. Ibsen hat ähnliche Gestalten geschaffen, aber mit ungleich feinerer und zugleich festerer Hand, namentlich auch mit weit diskreterer Abtönung in dem ganzen Zusammenspiel. Es ist hart, einen solchen Burschen, von dem uns der Dichter unklar lässt, ob er mehr an überkommener Belastung oder an selbst erworbenem Delirium tremens leidet, drei Stunden lang immer im Vordergrunde schwatzen zu hören, obschon diese possenhafte, von dem Darsteller noch mehr als vom Dichter karikierte Figur das fade Premierenpublikum am ehesten günstig für den Dichter gestimmt haben mag.

Von Handlung ist in dem Stücke kaum die Rede. Ein dreißigjähriges Mädchen, das in Berlin die Zimmervermieterin spielt, steht im Mittelpunkt der Tragikomödie. Sie liebt einen technischen Erfinder, der seinerseits von Liebe nichts wissen will, sondern einzig von seiner Arbeit schwärmt, der für eine neue Form des Erzgusses ein Patent gelöst hat oder lösen will und ein paar tausend Mark, die er nicht besitzt, für die praktische Verwirklichung seiner Erfindung braucht. Um ihm dies Geld zu verschaffen, will sich die Dreißigjährige bald mit einem Jugendfreunde verheiraten, der, mit den Schätzen der neuen Welt beladen, aus Amerika zurückgekehrt ist, bald mit ihrem siebzigjährigen Hauswirt. Daneben verkuppelt sie ihre Nichte, die sich gleichfalls in den technischen Erfinder verliebt hat, fürsorglich an den verbummelten Studenten. Nach einigem Hin und Her endet die Tragikomödie damit, dass der Goldonkel aus Amerika dem „kämpfenden Manne" – so der Schlusstrumpf des fünften Akts – das Geld verspricht, wobei er seine Großmut noch in ein schöneres Licht stellt, indem er sagt, dass er den Preis seines Opfers, nämlich die Dreißigjährige, „vielleicht nie" heiraten werde.

Herr Paul Schienther, der Lessing des naturalistischen Dramas, enthüllt in der „Vossischen Zeitung" als den „Sinn der Dichtung" folgendes: „Die beiden Männer schließen sich über das wildbewegte Frauenherz hinweg zu einem praktischen Werk zusammen, in dem sich die beiden sozialen Mächte der Zeit, Kapital und Arbeit, gleichsam versöhnen." Es wird uns schwer, dem Dichter, dessen ernstes Streben und dessen natürliche Gaben wir sonst zu schätzen wissen, einen solchen Galimathias unterzustellen, indessen da es uns selbst nicht gelungen ist, das Rätsel dieser Tragikomödie zu entziffern, so haben wir die Konjektur nicht verheimlichen wollen, die von einer für die Interpretation naturalistischer Dramen so berufenen Seite kommt. So wie sich das Stück profanen Augen darstellt, hebt sich die Hyperromantik der Dreißigjährigen unerquicklich genug von der glattalltäglichen, in naiver Fäulnis angegangenen Chambre-garnie-Wirtschaft ab, die der Dichter in den Mietskasernen des Berliner Quartier latin scharf genug beobachtet hat. Es ist wohl der beste Vorzug seiner Arbeit, dies soziale Milieu einmal ganz gut herausgebracht zu haben. Jedoch stimmt es in keiner Weise zu der dramatischen Handlung oder dem, was die dramatische Handlung sein soll. Der Dichter idealisiert seinen Erfinder im Borghesischen Fechter; soll aber der Held zwar nicht den sterbenden, aber den kämpfenden Fechter spielen, dann müssen auch die Kulissen in hochromantischem Stile bemalt sein. Eine so ideale Opferfähigkeit, wie seine Heldin beweist, besitzen die angehenden alten Jungfern nicht, die hierzulande an „möblierte Herren" vermieten, und es ist billigerweise auch nicht von ihnen zu verlangen.

Ohne Zweifel verrät das Stück in manchen, selbst in vielen Einzelheiten, dass Halbe alles Zeug zu einem dramatischen Dichter besitzt. Wenn der Vorhang zum letzten Male fällt, sagt man sich in aufrichtigem Bedauern : Schade, so viel Arbeit, so viel guter Wille, so viel Talent um ein Nichts! Wir haben selbstverständlich nichts gemein mit dem Jubel, den die kapitalistische Presse in ihrer Mehrheit über die Niederlagen anstimmt, die Hauptmann und Halbe so kurz hintereinander erlitten haben, mit ihren prahlerischen Prophezeiungen, dass es mit der naturalistischen Dramatik nun ein für allemal aus sei: diese Niederlagen ließen sich schnell verwinden, wenn sich nur die Ursachen beseitigen ließen, aus denen sie entstanden sind. Halbe hat in seinem „Eisgang", Hauptmann in seinen „Webern" gezeigt, dass sie sehr gut wissen, aus welchem Punkte dem heutigen Theater zu helfen wäre. Man kann dagegen einwenden, dass ihm überhaupt nicht mehr geholfen werden kann, und ein Blick auf das hiesige Premierenpublikum genügt, um zu erkennen, wie schwer dieser Einwand wiegt. Vor solchem Areopag siegreich die Sache einer neuen Kunst zu führen, gehört zu den Aufgaben, an deren Bewältigung das dramatische Genie eines Shakespeare verzweifeln könnte.

Aber wenn es dem naturalistischen Drama unmöglich sein mag, von dem Publikum der heutigen Luxustheater ein günstiges Urteil sieghaft zu ertrotzen, so ist es ihm ebenso unmöglich, ein solches Urteil von diesem Publikum zu erschleichen oder zu erschmeicheln. Dadurch wird die Niederlage nicht abgewandt, sondern nur legitimiert. Hauptmann und Halbe könnten im Deutschen Theater ausgepfiffen werden und dennoch einen stolzen Triumph, dennoch den Lorbeer davontragen, den Halbe in seinem neuesten Stücke dem „kämpfenden Manne" reicht. Allein dann müssten sie eben kämpfen und ihre Ketzereien nicht als harmlose Mixturen dem widerhaarigen Börsenjobber einzutrichtern versuchen. Damit täuschen sie unter Umständen die Freunde, aber nimmermehr die Feinde. So gering das Kunstverständnis des Premierenpublikums ist, so scharf ist sein sozialer Instinkt. Man sah es bei der Aufführung von Halbes Stück wie einen Tiger auf der Lauer liegen, bereit, bei dem ersten ehrlichen Worte sozialer Erkenntnis sich auf den Dichter zu stürzen. Ein paarmal rieselte es schon gefährlich durch die Reihen, aber die Bummelwitze der Tragikomödie schläferten die Bestie jedesmal wieder ein. Sie kamen auch gar zu natürlich heraus.

Auf diesem Wege fürchten wir allerdings, dass es mit dem naturalistischen Drama sehr bergab geht, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, sintemalen es ja kaum erst begonnen hatte, bergan zu gehen. Die Auflösung der dramatischen Form, die bei Halbe so stark hervortritt wie bei Hauptmann, wird aus einem revolutionären geradezu ein reaktionäres Mittel, wenn sie zum beschönigenden Deckmantel dienen soll für den Mangel an Handlung und das ewige Gerede um alle möglichen Dinge herum. Wir kennen die ästhetische Seichtbeutelei, womit diese „epochemachende" Dramatik gerechtfertigt werden soll, recht gut, und wir wissen auch, dass sie sich auf Ibsen als ihr großes Muster beruft. Es genügt uns dagegen festzustellen, dass die spintisierenden Dramen aus Ibsens Greisenalter heute schon zum alten Eisen gehören und dass er in den Dramen, die ihm bleibenden Ruhm sichern, entschieden und fest auftritt, klar und wuchtig, genug, als ein „kämpfender Mann".

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