Franz Mehring 18931100 Anzengrubers „Meineidbauer"

Franz Mehring: Anzengrubers „Meineidbauer"

November 1893

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 3, S. 3-9. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 505-509]

Als wir im vorigen Spieljahre Anzengrubers „Viertes Gebot" aufführten, glaubten wir demnächst seine „Kreuzelschreiber" ins Auge fassen zu dürfen. Äußere Umstände, die zu ändern nicht in seiner Macht steht, zwingen den Ausschuss, einstweilen diese Absicht noch zurückzustellen und der genialsten Bauernkomödie Anzengrubers seine genialste Bauerntragödie vorzuschicken. Als Tragödie aus dem ländlichen Leben steht der „Meineidbauer" ebenbürtig neben der Tragödie aus dem städtischen Leben, dem „Vierten Gebot", das unsere Mitglieder kennen; es gehört zu den Gipfelpunkten, die Anzengrubers dichterisches Schaffen erreicht hat.

Die bürgerliche Ästhetik hat davon auch eine gewisse Ahnung, aber halt- und prinziplos, wie sie ist, weiß sie nicht, wo die Glocken hängen, die sie läuten hört. Die einen sagen: „Der ,Meineidbauer' erscheint wie die Krönung eines Baues, an dem die Jahrhunderte gearbeitet haben, wie der Siegesgesang des vom hohen Drama so lange missachteten Volksgeistes." Die andern sprechen dann wieder von dem Stücke als von einer „etwas düsteren Bauernkomödie". Dann heißt es abermals: „Das neunzehnte Jahrhundert hat dem vierten Stand die Anerkennung seiner Menschenrechte gebracht, und Anzengruber, der dichterische Ausdruck dieser Zeit, hob den vierten Stand in der Tragödie empor." Indessen alles das ist reines Larifari.

Anzengruber war kein proletarischer, sondern ein kleinbürgerlicher Dichter. Namentlich in seinen Bauernstücken bewegt sich der dramatische Konflikt um kleinbürgerliche Fragen, um das bäuerliche Eigentums- und Erbrecht, um die Abschüttelung des pfäffischen Jochs, vermittelst dessen die absolutistisch-feudale Reaktion in Österreich den kleinen Bauern- und Bürgerstand im Zaum hält. Aber freilich gehört Anzengruber zu dem revolutionären Flügel des Kleinbürgertums, der dem Proletariat mehr oder minder nahesteht. Umgekehrt wie der andere moderne Klassiker des Kleinbürgertums, wie Fritz Reuter, der namentlich in seinen späteren Werken überwiegend die philiströse und schlafmützige Seite des Kleinbürgertums vertritt. Man halte Anzengrubers Wurzelsepp und Steinklopferhannes neben Reuters Unkel Bräsig, man halte Anzengrubers Vroni und Horlacherlies neben Reuters Lowise Hawermann, und man wird den Unterschied mit Händen greifen. Damit wollen wir natürlich der Person Reuters nicht zu nahe treten, der in einer seiner frühesten Dichtungen, die er selbst stets für sein bestes Werk hielt, in „Kein Hüsung", auch den Herzschlag des ländlichen Proletariats zu belauschen gewusst hat. Aber im Ganzen und großen besteht der gekennzeichnete Unterschied zwischen den beiden Dichtern. Im letzten Grunde erklärt er sich daraus, dass die kleinbürgerlichen Elemente im südlichen Deutschland auf einer höheren Kulturstufe stehen als im nördlichen. Und die Folge davon war, sowohl dass Reuter bei der großen Bourgeoisie zu so großer Gunst gelangte, während Anzengruber bei seinen Lebzeiten nur zu verkümmerten Erfolgen kam, als auch dass Reuter in schnelle Vergessenheit geraten ist, während Anzengruber immer stärker in die Zukunft hineinwächst – dank seiner engen Berührung mit dem Proletariat.

Im „Vierten Gebot" kam diese Berührung nun freilich zu stärkerem Ausdruck als im „Meineidbauer". Die dramatischen Hebel unsrer Tragödie sind der Erbschaftsstreit um einen Bauernhof und die religiöse sozusagen Dialektik, durch die der unrechtmäßige Besitzer sich mit dem Meineide abzufinden sucht, der ihm zu der fetten Hufe verholfen hat. Verweilen wir einen Augenblick bei der Handlung des Stückes. Der Großknecht auf dem Adamshofe erzählt der Magd Vroni das Schicksal ihrer Mutter, um sie vor einer Liebelei zu warnen, die der Sohn ihres Dienstherrn mit ihr angebandelt hat. Die Mutter der Vroni diente mit dem Großknecht ehedem zusammen auf dem Kreuzweghofe. Er liebte sie, aber sie hörte auf die Verlockungen des Bauern, wurde seine Zuhälterin, gebar ihm zwei Kinder, eben die Vroni und einen Sohn. Und wie es nun weiter kam, erzählt der Großknecht so:

Von dem, was nachher kämma is, wirst vielleicht manches selbst wissen! Paar Jährle sein drüber ins Land 'gangen, wo's dich und dein' Bruder hab'n auf'n Kreuzweghof mit die Hendeln und die Geiß' 'rumrennen lassen, weil's einmal dag'wesen seids! Auf amal hat's g'heißen, der Kreuzwegbauer hätt' dein' Mutter endlich doch heiraten woll'n und hätt' sich drum mit seine Leut' überworfen, und auf einer Reis' nach Wien – wo er dein' Bruder auch mitg'nommen hat – hätt' er woll'n alles ins reine bringen; er ist aber krank 'word'n und dort im Spital g'storb'n! Dein' Mutter hat sich drauf verlassen, dass a G'schrift da is, oder dass'm Bauer sein Wort gilt und hat drum ein' Prozess ang'fangt; – der Mathias, der durch'n Tod von sein' Bruder Kreuzwegbauer und euer Vormund word'n is, hat'n Weil' zug'schaut und dein' Mutter aufm G'höft 'lassen – kein Testament hat sich aber nit g'funden, der Prozess is für euch verlorn 'gangen, und wie das war – hat er euch hinausg'jagt in Elend und Schand'!

Vroni fragt traurig: „Warum denn erzählst dem Kind die Schand' seiner Mutter?" Darauf der Großknecht: „Dass d' dir a Beispiel 'raus nimmst! Du bist aufm Weg, die nämliche Dummheit zu machen." Der Kreuzwegbauer Mathias Ferner ist eben mit seiner Tochter auf dem Adamshofe erschienen, um sie dem Sohne des Adamshofbauern zu verloben, eben dem, der bisher mit Vroni geliebelt hat. Alsbald erscheinen die beiden Bauern mit dem jungen Brautpaare; Vroni erkennt, dass sie betrogen ist, macht kurzen Prozess und verlässt den Adamshof, um zu ihrer Großmutter zu gehen, die hoch im Gebirge eine kleine Schenke für Hausierer, Holzknechte und Schmuggler unterhält. Von ihr erfährt sie, dass ihr Vater allerdings ein Testament zugunsten ihrer Mutter hinterlassen, dass aber sein Bruder, der „Meineidbauer", durch einen gerichtlichen Eid die Existenz dieses Testaments bestritten und es darnach verbrannt habe, wobei er von seinem Sohne überrascht worden sei. Indem kehrt Vronis Bruder, der seit lange als Strolch und Vagabund sich in der Welt herumgetrieben hat, gleichfalls zur Großmutter zurück. Er legt sich zum Sterben, aber vorher übergibt er seiner Schwester das Gebetbuch des Vaters, das er aus Wien mitgebracht hat. In ihm findet Vroni einen von Mathias Ferner an seinen verstorbenen Bruder, ihren Vater, gerichteten Brief, worin die Existenz des Testaments anerkannt ist. So ist Vroni die Herrin des Kreuzweghofes, und sie hat eine Waffe, ihr Recht zu erkämpfen.

Wir haben den Anfang der Tragödie, entgegen unserer sonstigen Gewohnheit, etwas ausführlicher skizziert, teils weil unseren Mitgliedern das Verständnis der Exposition vielleicht ein wenig durch den Dialekt erschwert werden mag, teils aber auch, weil schon aus diesen Andeutungen hervorgeht, dass sich dies Volksstück, wie Anzengruber es nennt, nicht gerade durch die Neuheit der Fabel oder durch die Originalität der spannenden Szenenführung auszeichnet. Wollte man es nur von diesem Standpunkte aus betrachten, so böte es der Kritik weiten Spielraum. Sein Wert liegt vielmehr in der Wahrheit und Wucht der mit glänzender Psychologie entworfenen Charaktere und in der erschütternden Gewalt der aus ihrem Zusammenstoße sich ergebenden Konflikte. Namentlich der Meineidbauer selbst ist eine Gestalt aus vollem Gusse. Wie er sich selbst betrügt, um sein Unrecht in Recht zu verwandeln, ist meisterhaft geschildert. Weil ihm sein unrecht Gut gedeiht, so sieht er darin einen verzeihenden Wink des lieben Gottes. Seinen Sohn, den zufälligen Mitwisser seiner Schandtat, will er geistlich werden lassen, er soll eine Staffel zum Himmel werden für den sündigen Vater. Dagegen lehnt der Sohn sich auf; er liebt Vroni und droht dem Vater. Der Meineidbauer greift zur Flinte, eilt dem Sohn nach und schießt ihn nieder. „O du mein Heiland", ruft er aus, „hat dös a noch sein müssen? Dös is a Schickung, dös muss a Schickung sein." Und wie er dann in der Hütte der Baumahm unter der Last seiner Heuchelei und seiner Verbrechen zusammenbricht, das ist eine von allen Schauern des Gewissens umwitterte Szene.

Kaum minder vortrefflich ist die Heldin der Tragödie herausgekommen. Vroni gehört in erster Reihe zu jenen Mädchengestalten von eigenartiger Zartheit der Empfindung bei einer gewissen Natur-Wildheit, die den Dramen Anzengrubers einen so unbeschreiblichen Reiz geben; sie ist anstellig, gefällig und lebhaft bei bäuerlicher Derbheit; selbständig und klug entschlossen greift sie zu bei aller Weichheit und allem Feuer der Hingebung. Auch ihr Ahnl, die Burgerlies, ist eine echt Anzengrubersche Figur, eine nahe Verwandte des Steinklopferhannes und des Wurzelsepp, voll naturwüchsiger Philosophie, angefeindet wegen ihrer „Gottlosigkeit", in stetem Kleinkriege mit Gesellschaft, Kirche und Staat und doch mit einem Herzen voll überquellender Menschenliebe. „Dös dumm' G'sindel da herum feind't mich an, bin neamand mehr anständig, mir zum allerwenigsten und haus' jetzt da herob'n allein mit ein einzig'n alten Knecht… Die Schwärzer sein meine einzig'n Kundschaft'n, die da noch was sitzen lass'n: soll ich ihnen 'leicht die Tür weisen? Sö sein nit so uneb'n, sag' ich dir! Dieb' und Rauber sein's nit. Von Urzeit geht Berg und Tal in ein' Trum fort und die Grenzpfahl' sein nit wie die Bäum' aus der Erd' g'wachsen …" Und wieder die alte Baumahm erinnert in etwas an die alte Herwig im „Vierten Gebot". Anzengruber verstand es, alte wie junge Kernweiber zu schaffen. Und es ist rührend zu wissen, schreibt einer seiner Biographen, dass seine eigene Mutter das Vorbild war zu all' diesen tüchtigen Frauen. Sie hat ihn auf seinen Irrfahrten als Jüngling und Mann begleitet; sie hielt treu bei ihm aus in allen Nöten und erlebte noch den Sieg seines Genies, seinen Ruhm …

Vor einem Drama wie dem „Meineidbauer" erkennt man recht klar, dass es mit dem modernen Naturalismus allein eben auch nicht getan ist. Anzengruber schreibt nicht die platte Wirklichkeit ab; er benutzt sogar, namentlich in der Szene, wo der Meineidbauer auf seinen Sohn schießt, melodramatische Mittel und Mittelchen, die er lieber nicht hätte brauchen sollen; er verfolgt eine bestimmte Tendenz: die verheerenden Folgen der Priesterherrschaft aufzudecken. Aber er kannte Goethes Rat: Bilde, Künstler, rede nicht; er arbeitete mit echt dichterischen Mitteln, und wenn in dem ganzen Drama kaum mit einem Worte von den Pfaffen gesprochen wird, so spiegelt sich in der so vollkommenen Gestalt des Meineidbauern allein die ganze Verwüstung der klerikalen Reaktion wider. Anzengruber reichte an das Ideal des echten Volksdichters heran, das Schiller in die Worte kleidete: „Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auflösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkers in leicht zu entziffernder Bilderschrift dem Kindersinn zu erraten geben." Und dieses Ideal möchten wir einstweilen noch nicht ganz zum alten Eisen werfen.

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