Franz Mehring 18950500 Anzengrubers „Pfarrer von Kirchfeld"

Franz Mehring: Anzengrubers „Pfarrer von Kirchfeld"

Mai 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 9, S. 3-8. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 501-504]

[…] Überblickt man, was der letzte Winter an neuen Erscheinungen auf der bürgerlichen Bühne hervorgebracht hat, so entdeckt man nichts als Nieten. Nichts als Nieten wenigstens für die Freie Volksbühne, die selbstverständlich unter keinen Umständen etwas von der künstlerischen Höhe ihres Programms abmarkten kann, die niemals in den Sumpf von dramatischen Nichtigkeiten sinken darf, in dem das Börsenjobberpublikum der Luxustheater selbstgefällig waten mag. Hauptmann und Halbe haben ganz geschwiegen, und Ibsens „Klein-Eyolf" war einer jener mystischen Ängstesprünge, in denen dieser große Dichter sich je länger je mehr gefällt, d. h. je länger der Todeskampf der bürgerlichen Gesellschaft währt und je mehr Ibsen einsieht, dass hier keine Rettung mehr möglich ist, ohne dass er doch den Mut findet, rücksichtslos mit ihr zu brechen. Nicht als ob damit dem greisen Poeten, der so viel Großes und Unsterbliches geschaffen hat, in irgendeinem tadelnden Sinne Feigheit vorgeworfen werden sollte. Aber es ist ein gewaltiger Sprung über den breiten Graben, der die bürgerliche von der proletarischen Welt trennt, und es mag leicht zu gewaltig sein für ein noch so großes Genie, das einmal mit allen Fasern seiner kräftigen Jahre im bürgerlichen Leben gewurzelt hat. Selbst ein Dramatiker wie Sudermann, der doch erst weit hinter Ibsen kommt und keineswegs von allzu tiefen Zweifeln über Sein oder Nichtsein der bürgerlichen Gesellschaft geplagt wird, hat mit seiner „Schmetterlingsschlacht" ganz den Ton verpasst, der dem Proletariat noch etwas bietet, ohne der Bourgeoisie allzu wehe zu tun. Sein früher nicht ungeschicktes Einherschreiten an jenem Grenzgebiete zwischen bürgerlicher und proletarischer Welt glückt nicht mehr, seitdem dieses Gebiet verschwunden oder doch sehr schmal und schlüpfrig geworden ist. Seine „Schmetterlingsschlacht" bietet dem Proletariat nichts und mutet der Bourgeoisie viel mehr zu, als ihren schwachen Leibern frommen mag. War so die dramatische Produktion der bürgerlichen Bühne völlig unbrauchbar für die Zwecke der Freien Volksbühne, so fand sich unter dem halben Hundert der ihr eingereichten neuen Stücke auch nur ein einziges, dessen Aufführung der Ausschuss nach sorgsamer Prüfung wagen zu dürfen glaubte: jene „Hildegard Scholl", die denn auch in reichem Maße den Beifall unserer Mitglieder gefunden hat.

Unter diesen Umständen sind Wiederholungen bereits früher gespielter Stücke ein leidiger Zwang. Um ihn möglichst zu mildern, hat sich der Ausschuss stets darauf beschränkt, solche Stücke aus dem Spielplane der ersten zwei Jahre zu wählen, aus der Zeit, als unser Verein noch mit verhältnismäßig beschränkten Mitteln arbeitete und an die Ausstattung, Besetzung usw. nicht viel wenden konnte. Es kommt hinzu, dass mit der Spaltung der Freien Volksbühne im Anfange des dritten Spiel Jahres sich ihr Charakter und ihr Publikum bis zu einem gewissen Grade änderte. Stücke, die wir aus den beiden ersten Jahren wiederholten, sind für den größten Teil, für sieben Achtel unserer Mitglieder vollständig neu, und für die Minderheit, welche sie schon vor drei oder vier Jahren gesehen hat, erscheinen sie in ungleich besserer Darstellung, so dass auch dieser Minderheit ihre Wiederholung nicht unwillkommen sein wird. Ja, leidig wie der Zwang selbst sein mag, hat er auch seine gute Seite. In den ersten zwei Jahren konnte unser Verein, was den Spielplan anbetrifft, gewissermaßen aus dem vollen wirtschaften; mit Ibsen beispielsweise ist damals sozusagen Raubbau getrieben, und gerade seine kräftigsten und für ein Arbeiterpublikum geeignetsten Dramen sind vorweggenommen worden. Es wäre nun sicherlich unbillig, wenn etwa 7000 von unseren 8000 Mitgliedern diese Stücke nicht kennenlernen sollten, weil etwa 1000 von ihnen sie schon vor einigen Jahren in einer meist doch unzulänglichen Besetzung gesehen haben.

Diese Einleitung zu Anzengrubers „Pfarrer von Kirchfeld" ist etwas lang geworden, aber ein aufklärendes Wort über die jeweiligen Wiederholungen in unserm Spielplan schien uns nicht überflüssig zu sein. Anzengrubers Volksstück selbst war das erste Drama, mit dem er durchschlug, und zwar so durchschlug, dass er einen gleichen Erfolg wie mit dem „Pfarrer von Kirchfeld", der jahrelang über sämtliche Bühnen Österreichs und Süddeutschlands ging, niemals wieder erreicht hat. Anzengruber tat mit dem Stück einen tiefen Griff in das Leben der Zeit. Es waren die Tage, in denen die bürgerliche und namentlich auch die bäuerliche Bevölkerung Österreichs darum rang, das erdrückende und verdummende Joch der römischen Klerisei abzuschütteln. Alles schrieb oder sprach über die Unfehlbarkeit des Papstes, über den Altkatholizismus, über die Zivilehe, die Priesterehe und dergleichen mehr. In dieser bewegten Zeit ergriff nun ein echter Volksdichter das Wort und entrollte vor den Augen der streitenden Mitwelt die Tragödie eines Priesterlebens. Der volkstümliche Rahmen, in den Anzengruber sein Bild fasste, war meisterhaft entworfen; jede einzelne Gestalt hatte der Dichter in enge Beziehungen gebracht zu dem Grundthema des Ganzen. Ganz freilich war es ihm nicht gelungen, die tendenziösen Elemente seines Stoffes dichterisch aufzulösen und zu erklären. Gleich die erste Szene seines Stückes ist recht undramatisch; wir meinen jene Standrede des Pfarrers Hell an den Grafen Finsterberg, womit die Handlung beginnt; schon die Namen sprechen in schablonenhafter Weise die Gesinnungen beider Personen aus. Aber die nächsten Szenen zeigen alsbald den Dichter in seiner eigentümlichen Kunst: der Zusammenstoß der Büßer und des Hochzeitszugs mit seinem köstlichen Humor, die Begegnung zwischen dem Annerl und dem Wurzelsepp, die Unterhaltung zwischen dem Pfarrer Hell und dem Einöd-Pfarrer. Und in den andern Akten bricht dann nur noch selten die Tendenz in unkünstlerischer Weise hervor; so einfach die Handlung ist, so rührend und wahr ist sie. In den besten seiner späteren Stücke zeigt sich Anzengrubers Kunst noch ungleich vollendeter; dafür hat er niemals wieder so tief in das Herz der Massen gegriffen wie im „Pfarrer von Kirchfeld".

Und die Massen haben zuerst den Herzschlag des Stückes verstanden. Unter dem Namen eines unbekannten L. Gruber reichte Anzengruber sein Stück im Herbste 1871 beim Theater an der Wien ein, und hier wurde es zwischen einer abgespielten und einer noch nicht genügend vorbereiteten Operette als Lückenbüßer aufgeführt. Es schlug ein in das Publikum dieses Vorstadttheaters, und allmählich drang eine Kunde von dem großen Erfolge in das „gebildete" Wien. Heinrich Laube, damals das dramaturgische Orakel der oberen Zehntausend, besuchte eine Vorstellung des „Pfarrers von Kirchfeld", und der alte Praktikus erkannte auf den ersten Blick, was in dem Drama steckte. Er schrieb eine Kritik, die Anzengruber mit einem Schlage zum berühmten Manne machte. Es heißt darin: „Das ist ja eine ganz merkwürdige Vorstellung, welche da allabendlich im Theater an der Wien stattfindet, die Aufführung des Volksstücks: Der Pfarrer von Kirchfeld! Ästhetisch merkwürdig und politisch merkwürdig! Ästhetisch, weil da feine, tiefliegende Gedankengänge und Charakterzüge dem Volksstück einverleibt werden und weil neben unverarbeiteten Abstraktionen Szenen von blutvollem, echtem Talente zum Vorschein kommen. Durch diese talentvollen Szenen werden Übergänge ermöglicht, welche kein Verstand den bloß Verständigen zu finden wusste, und welche eben nur dem kräftigen, populären Naturell erreichbar sind. Politisch, weil hier die empfindlichsten, mit der Religion zusammenhängenden Fragen eines Parlaments auf einmal schon in Fleisch und Blut vor dem großen Publikum schlankweg auftreten und von diesem Publikum mit einem Verständnis begleitet werden, dass man sich erstaunt umschaut, nach den oberen Galerien hinaufblickt… Es ist wirklich das sogenannte Volk, welches da oben sitzt und sich so verständnisinnig wie rasch verstehend äußert, wo nur von gemischter Konfession, von gemischter Ehe und von einer aufdämmernden Notwendigkeit der Priesterehe die Rede ist. Noch mehr: es bedarf gar nicht der Rede: eine Pause, ein Blick, das unscheinbarste mimische Zeichen genügt diesen Galerien, sie sprechen die Sachen aus, ehe sie auf der Bühne ausgesprochen werden." Man kann dem ehemaligen Leiter des Wiener Hoftheaters die naive Verwunderung über das Kunstverständnis des „sogenannten Volks" schon nachsehen wegen der Wärme, womit er dem Volksdichter Anzengruber die Bahn gebrochen hat.

Es ist wahr: ein so schnelles und unmittelbares Verständnis wie in den Massen der österreichischen und süddeutschen wird der „Pfarrer von Kirchfeld" in den Massen der norddeutschen Bevölkerung niemals finden. Das liegt in den politischen und sozialen, in diesem Falle ganz besonders auch in den religiösen Unterschieden. Das Seitenstück zu dem Pfarrer Hell wäre in Berlin irgendein protestantenvereinlicher Pfarrer, der vom Konsistorium wegen mangelhafter Rechtgläubigkeit drangsaliert würde. Tragische Helden sind das nun eigentlich nicht, und der ganze Streit um den religiösen Dogmenglauben ist für das heutige Proletariat überhaupt Hekuba. Indessen in der österreichischen Landbevölkerung, in der Anzengrubers Volksstück spielt, lagen die Dinge ganz anders; unter der religiösen Hülle spielte sich ihr Ringen um soziale Emanzipation ab, und dieser Kern des dramatischen Konflikts ist immer seiner tiefen Wirkung auf die Massen sicher.

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