Franz Mehring 18930200 Anzengrubers „Viertes Gebot"

Franz Mehring: Anzengrubers „Viertes Gebot"

Februar 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 4, S. 3-6. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 510-512]

Unter den Dramatikern der deutschen Gegenwart kann keiner in so hohem Grade wie Ludwig Anzengruber den Ruhm eines echten Volksdichters beanspruchen. Er stammte aus oberösterreichischem Bauernblute; im Jahre 1839 geboren, ist er, kaum fünfzigjährig, im Jahre 1889 gestorben. Wie jeder, der in unserer Zeit uneigennützig der Sache des Volkes sich widmet, hat er des Lebens Leid in reichem Maße erfahren. Sein erster und größter Erfolg blieb im Grunde sein einziger. Diesem Volksdichter fehlte die Volksbühne, und darüber halfen ihm die Grillparzer- und Schiller-Preise, durch die akademische Körperschaften sein Talent auszeichneten, nicht hinweg.

Mit zwanzig Jahren begann Anzengruber seine dramatische Tätigkeit. Was ihn auf diese Bahn trieb, schildert er selbst treuherzig in einem Briefe an einen Freund: „Ich hatte ererbtes dramatisches Talent, genaue Kenntnis der Bühne, erworben durch mehrjährige Übung als Schauspieler, ein zurückhaltendes, auf Hören, Sehen und Beobachten angewiesenes Wesen und einen treuen Glauben an die Menschheit im allgemeinen und das Volk im besonderen. Ich sah, wie dem letzteren nackter Unsinn geboten wurde, oft mit krausester Tendenz verquickt, Handlung, Charaktere. Alles unwahrscheinlich, unwahr, nicht überzeugend, so dass der guten Sache der Volksaufklärung mehr geschadet als genützt wurde. Es war kein Ankämpfen gegen die Gegner, es war nur ein Beleidigen, ein Ausschimpfen derselben – und rings lagen doch so goldreine, so prächtige und mächtige Gedankenschätze, ausgestreut von den Geisteshelden aller Völker und Zeiten. Aber selbst das Große und Gewaltige in Wissenschaft, sozialem und politischem Leben der Gegenwart blieb abseits, ganz abseits der Bühne liegen, ihre Figuren waren noch platter als die wirklichen Personen, die derselben als Vorwurf dienen sollten. Es mangelte der Volksbühne noch mehr als anderen, die von den Dichtern vergangener Zeiten zehren können, an einem Repertoire. Ein anderer wollte sich nicht finden, welcher der Zeit von der Bühne herab das Wort redete, und einer musste es tun, also musste ich es sein. Dies war mein Wollen, als ich daranging, und ich behielt mir vor, nicht allein von der Volksbühne herab, sondern auf allen mir zugänglichen Gebieten, so gut es anging, ihm gerecht zu werden. Sie sehen, ich war damals Enthusiast für meine Sache." Ja, Anzengruber war ein Enthusiast für seine Sache, und die herben Enttäuschungen, die den Enthusiasten beschieden zu sein pflegen, blieben ihm nicht erspart.

Elf Jahre dauerte die Prüfungszeit Anzengrubers; jedes Jahr schrieb er durchschnittlich ein Stück, aber alle nur für sein verschwiegenes Pult. Da errang er im Jahre 1870 den ersten durchschlagenden Erfolg mit dem „Pfarrer von Kirchfeld", der den Mitgliedern der Freien Volksbühne bereits bekannt ist. Es war ein Erfolg von seltener Nachhaltigkeit und Tiefe. Der „Pfarrer von Kirchfeld" ging vor stets ausverkauften Häusern über sämtliche Bühnen Österreichs und Süddeutschlands; München brachte ihn, gleich im ersten Jahre, vierzig Male auf die Bretter; in Graz wurden sonntags eigene Nachmittagsvorstellungen anberaumt, um das Stück den zahlreich aus der Umgegend herbeiströmenden Bauern zugänglich zu machen. Aber obgleich die nächsten Stücke Anzengrubers, der „Meineidbauer", der „G'wissenswurm" und namentlich die prächtigen, von genialem Humor durchleuchteten „Kreuzelschreiber" dramatisch ungleich wirkungsvoller, poetisch ungleich ausgereifter waren als der „Pfarrer von Kirchfeld", erzielte keines dieser Stücke mehr einen auch nur annähernd ähnlichen Erfolg. Um es noch einmal zu sagen: Diesem Volksdichter fehlte die Volksbühne. Sein „Viertes Gebot" erlebte 1877 zwanzig Wiederholungen im Theater an der Wien, dann musste es einem Ausstattungsstücke mit Akrobaten weichen, das zwei Monate lang allabendlich ein ausverkauftes Haus erzielte.

Das „Vierte Gebot" gehört nicht zu den eigentlichen Bauernstücken Anzengrubers; es ist ein Volksstück aus dem Wiener Leben, reich an naturwahren Gestalten, an spannenden Gegensätzen, aber schon gefärbt von der düstern Grundstimmung, die sich nach und nach des Dichters bemächtigt hatte. Die Handlung des „Vierten Gebots" protestiert mit bitterer Schärfe gegen die barbarische Unnatur, zu der sich die natürlichste aller Menschenpflichten, die Pflicht der Kinder, ihre Eltern zu ehren, unter dem Zwange der sozialen Zustände verkehrt. Der reichgewordene Hausherr, der seine Tochter an einen reichen Wüstling verschachert; der untergehende Handwerker, der sein blühendes Fleisch und Blut an jeden Liebhaber der Gasse verkauft – beide erreichen durch den Zwang des Vierten Gebots ihr nichtswürdiges Ziel. Wer von beiden zu seiner ärgeren Schande, zu ihrem größeren Unglück – der Dichter unterscheidet nicht zwischen den „zwei Verkauften". Und auch das dritte Verhältnis zwischen Eltern und Kind, das er schildert, gibt keinen reinen Klang. Die Gärtnersleute, die sich mühen und plagen, dass ihr Junge es weiterbringe als sie, erziehen in ihrem „hochwürdigen Herrn Sohn" einen beschränkten Frömmler, dessen am Wortlaute des Vierten Gebots klebender Fanatismus schicksalsvoll in den Gang der Handlung eingreift. Er drückt die um ihr Lebensglück mit ihren Eltern ringende Tochter nieder durch das vermessene Wort: „Gehorchen und das Glück Gott anheimstellen!" und dem verlorenen, seinen Eltern fluchenden Verbrecher ruft er auf dem letzten Gange mit priesterlicher Salbung zu: „Denk an das vierte Gebot!" Aber der antwortet ihm mit bitter-wahrem Trotze: „Du hast's leicht, du weißt nit, dass's für manche 's größte Unglück is, von ihr'n Eltern erzog'n zu werden. Wenn du in der Schul' den Kindern lernst: ,Ehret Vater und Mutter', so sag's auch von der Kanzel den Eltern, dass 's danach sein sollen." Ohne eine Spur von Tendenz zeigt das „Vierte Gebot" in erschütternder Weise, wie der soziale Verfall der Gesellschaft die heiligsten Bande zerrüttet, die Menschen an Menschen knüpfen.

Von einer ganz andern Seite als im „Pfarrer von Kirchfeld" zeigt sich Anzengrubers Talent im „Vierten Gebot". Den ganzen Anzengruber, der ebenso über den ausgelassensten Humor gebietet wie über die zartesten Regungen des Menschenherzens, hoffen wir demnächst in den „Kreuzelschreibern" unseren Mitgliedern zeigen zu können.

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