Franz Mehring 18940917 Berliner Theater (Richard Nordmanns „Gefallene Engel" – Freie Volksbühne)

Franz Mehring: Berliner Theater

Richard Nordmanns „Gefallene Engel" – Freie Volksbühne

17. September 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 821-824. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 51-518 und Band 12, S. ]

Das neue Spiel Jahr der hiesigen Theater hat als erste Novität von literarischen Ansprüchen „Gefallene Engel" von Richard Nordmann gebracht, ein „Wiener Stück aus dem Volksleben" in drei Akten, das am 15. ds. Mts. im Lessing-Theater aufgeführt wurde. In gewissem Sinne rechtfertigte es den Ruf, der ihm vorangegangen war; es ist mit ziemlichem Bühnengeschicke gearbeitet und mag als theatralisches Mittelgut schon mit unterlaufen. Mit seinen literarischen Ansprüchen dagegen ist es nicht gut bestellt; in einer doch eigentlich nicht mehr erlaubten Weise nutzt es Anzengrubers „Viertes Gebot" und Augiers „Arme Löwin" für seine Effekte aus.

Wir sagen: in einer doch eigentlich nicht mehr erlaubten Weise, denn unseres Erachtens gibt es auch einen literarischen Diebstahl in allen Ehren. Um gleich bei der „Armen Löwin" zu bleiben, so sind Motive dieses Schauspiels von Maupassant in einer berühmten Novelle1 und von Alphonse Daudet sogar in seinem berühmtesten Romane2 mindestens ebenso stark benutzt worden, wie Nordmann solche Motive in seinen „Gefallenen Engeln" benutzt hat. Der Unterschied ist nur der, dass Daudet und Maupassant die entlehnten Motive in durchaus eigentümlicher und selbständiger Weise verarbeitet haben, Nordmann aber nicht. Irgendein alter Bühnenpraktikus hat einmal behauptet, auf dem Theater gäbe es überhaupt nur ein Dutzend Situationen, die seit dem Altertum in immer neuen Variationen wiederkehrten, und gleichviel, wie es sonst um dies Paradoxon bestellt sein mag, so viel steht fest, dass es auf der Bühne ohne ein gewisses Handwerkszeug nicht abgeht. Auch Shakespeare, auch Schiller haben dramatische Motive von ihren Vorläufern entlehnt, und ein seltsamer Kauz schreibt schon seit einer Reihe von Jahren eine Reihe sehr gelehrter Bände, um nachzuweisen, dass Lessing nur von Plagiaten gelebt habe. Mag also Richard Nordmann entlehnen, soviel er will; wir verlangen nur, dass er aus dem alten Stoffe etwas Neues schafft und ihn nicht nur in Flicken schneidet, aus denen er ein buntes Mosaik von grellen Farbenkontrasten zusammennäht.

In der Schalanter-Familie seines „Vierten Gebots" schildert Anzengruber eine gewisse Schicht des Wiener Kleinbürgertums, die an ihrer Schlamperei verkommt. Das soziale Milieu, in dem die Leute leben, ist einheitlich gestimmt; wie es auf Vater, Mutter, Sohn und Tochter wirkt, zeigt sich in sehr verschiedener Weise, aber es ist immer dieselbe Atmosphäre, in welcher alle atmen; die sozialen Verhältnisse bestimmen die Charaktere. Richard Nordmann ahmt nun in seiner Familie Nowak die Familie Schalanter nach, aber mit solchem Missverständnis, dass die Geschichte so ziemlich auf den Kopf zu stehen kommt und die Charaktere die sozialen Verhältnisse zu bestimmen scheinen. Die Kuppelmutter Nowak ist eine ganz annehmbare Kopie der Kuppelmutter Schalanter, sie ist die gelungenste Figur des Stückes. Vater Nowak aber ist vom Scheitel bis zur Zehe der Bürovorsteher Pommeau aus der „Armen Löwin": ein kleiner Schreiber von altmodischer Ehrbarkeit, der bei Nordmann von der Tochter hintergangen wird wie bei Augier von der Frau. Nur dass Augier die Beschränktheit seines Helden in den physiologisch glaubhaften Grenzen hält, innerhalb deren eine tragische Wirkung möglich ist, während Vater Nowak, der sechzehn Jahre lang nicht merkt, dass seine einzige Tochter in seinem eigenen Hause eine wilde Ehe führt, und der sich ein Kind aus dieser Ehe als eine irgendwoher ins Haus geschneite Nichte aufreden lässt, einen Trottel vorstellt, der höchstens noch in der karikierenden Übertreibung einer ausgelassenen Posse auf der Bühne erlaubt sein mag. Die Tochter Schalanter, bei Anzengruber aus dem vollen Leben gegriffen, gutmütig, lässig, leichtsinnig, eine Dirne ohne Gemeinheit und ohne Sentimentalität, wird bei Nordmann „gefallener Engel" Numero 1, eine wandernde Tränenweide, die drei lange Akte hindurch über ihre verlorene Unschuld greint, aber dabei jeden Tag ihren alten Vater von neuem belügt und ihre wilden Seelenkämpfe in die praktische Forderung an ihren Galan ausklingen lässt: Heirate mich! Der Sohn Schalanter fehlt, dafür ist aber die Enkelin Nowak da, die Tochter des „Gefallenen Engels" und selbst „Gefallener Engel" Numero 2. Sie wird von der reuigen Mutter sorgsam vor jeder Verführung behütet, aber die Früchte dieser Erziehung werden im Nu vernichtet dadurch, dass die kupplerische Großmutter sie in eine Orgie verlockt. Die junge Dame brennt sofort mit einem Fähnrich durch, indem sie ihrer Mutter einen Brief mit dem lakonischen Inhalt hinterlässt: Es kann nichts Böses sein, Du hast es ja auch getan.

Man sieht also: Wäre der Stich der bürgerlichen Hausmutter ins Kupplerische bei Mutter Nowak nicht zufällig zu tief geraten, so würde die ganze Familie ein idyllisches Dasein geführt haben. Und demgemäß löst sich auch der Konflikt. Ein edler Mann verliebt sich in die edle Tochter Nowak und würde sie auch stehenden Fußes heiraten, wenn sie nur nicht „gefallen" wäre! Mit allerlei übertägigem Gerede über das alberne Vorurteil, unter dem die Bourgeoisie ihre praktische Libertinage versteckt, müssen wir uns auch noch herumschlagen. Endlich enthüllt ein Zufall, der wieder Augiers „Armer Löwin" entnommen ist, dem Vater Nowak alle Geheimnisse. Er schmettert die kupplerische Gattin nieder, wird aber selbst beinahe vom Schlage gerührt, und die tugendhafte Tochter erklärt, sein Alter pflegen zu wollen, worauf ihr neuer Liebhaber hinzufügt: „Wir beide!" Damit schließt das „Stück aus dem Volksleben". Wie wenig es mit irgendwelchem „Volksleben" zu tun hat, geht schon aus unserer kurzen Analyse hervor. Wenn es dennoch eine gewisse Wirkung erzielte, so verdankte es diesen Erfolg zunächst der vorzüglichen Darstellung, die es im Lessing-Theater fand, vor allem dem Umstände, dass die Eltern Nowak von Emanuel Reicher und Marie Meyer in meisterhafter Weise gespielt wurden, dann aber auch den Spuren von wirklichem Talent, die sich in vielen Einzelheiten zeigen. Das Stück macht den Eindruck, als ob ein begabter Anfänger einen Griff ins volle Leben tun wollte, aber in unsicherem Tasten nach der Grenze dessen, was sich das heutige Bourgeoispublikum bieten lässt, sich allzu sklavisch an Anzengruber und Augier angeklammert hat und darüber in eine hoffnungslose Wirrnis geraten ist.

Die Frage, was das zahlungsfähige Bourgeoispublikum sehen will, ist ja überhaupt die Schicksalsfrage des bürgerlichen Theaters in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie steht als drohendes Gespenst auch vor Herrn Otto Brahm, der seit Beginn des neuen Spieljahres das Deutsche Theater übernommen hat, um aus ihm die naturalistische Musterbühne zu schaffen. Niemals war es einem neuen Theaterleiter so leicht gemacht wie Herrn Brahm, die Wahl des ersten Stücks zu treffen, die so manches entscheidet; nachdem einmal Hauptmanns „Weber" durch wie fragwürdige Mittel immer der Zensur für die Aufführung im Deutschen Theater entrissen worden sind, konnte Herr Brahm nur mit den „Webern" beginnen. Aber er ist gescheit genug, um zu wissen, dass er seinem Bourgeoispublikum damit nicht kommen durfte, und da er doch mit irgendeiner Tat beginnen musste, so verfiel er auf ein Experiment, das für die konfuse Halbheit des sogenannten Naturalismus äußerst bezeichnend ist: er gab Schillers „Kabale und Liebe" in „realistischer" Darstellung, etwa so, dass Ferdinand am Schlusse des ersten Aktes als militärischer Gigerl nervös herunter näselt: „Umgürte dich mit dem ganzen Stolze deines Englands! Ich verachte dich – ein deutscher Jüngling." Diese ästhetische Barbarei war selbst für den Geschmack des Bourgeoispublikums zu arg: das Experiment endete mit einem schallenden Misserfolge. Es ist anzuerkennen, dass Herr Brahm seinen Missgriff erkannt hat, und es ist noch mehr anzuerkennen, dass er sich dadurch nicht zu den geschmacklosen Possen herab drängen ließ, durch die sein Vorgänger L'Arronge volle Häuser machte. Er spielt jetzt Molière, Grillparzer, Ibsen, Anzengruber mit vorzüglichen Kräften, aber er spielt auch vor leeren Bänken, und wenn ihn nicht etwa noch der Allerweltsmann Fulda mit einem gefälligen Nichts à la „Talisman" herausreißt, so wird Herr Brahm in einigen Monaten bankrott sein.

Nicht dieselbe Haltung, die Herr Brahm in seinem Malheur noch zu beobachten sucht, beobachtet das nun endlich gegründete Schiller-Theater. Über die heitere Vorgeschichte dieses „Volks-Theaters" haben wir uns früher schon gelegentlich ausgelassen; unter sehr hoher Protektion sollte es die Freie Volksbühne totschlagen, musste aber zu diesem Zwecke ein wenig Begeisterung für das klassische Repertoire heucheln und wurde dadurch den fetten Bourgeois verdächtig, von denen es das nötige Kleingeld zu erhalten hoffte. Nach langem, vergeblichem Prachern gelang es den Hintermännern des Schiller-Theaters endlich, den Daumen der Protzen von ihrem Geldbeutel zu lösen durch das zynische Kompromissprogramm: „Heute die Räuber, morgen den Veilchenfresser." Wie das praktisch gemeint war, zeigte sich alsbald durch eine Aufführung der „Räuber", deren unsagbarem Jammer sogar das Wohlwollen der Bourgeoiskritiker nicht standhielt; sie verwahrten sich einstimmig vor dieser schauderhaften Verhunzung Schillers. Nun aber wird Abend für Abend in ganz leidlicher Darstellung Mosers „Veilchenfresser" gespielt, die längst abgetakelte Ware eines oberflächlichen Possenfabrikanten, die vor zwanzig Jahren den Berliner Philister ergötzte und als „kernige Geistesnahrung" für das „Volk" den „maßgebenden Regionen" noch gut genug erscheinen mag.

Die Freie Volksbühne, die in diesem Monat Lessings „Emilia Galotti", im Oktober Hauptmanns „Biberpelz", im November vermutlich Ibsens „Stützen der Gesellschaft" spielt oder spielen wird, kann über solche Schmutzkonkurrenz mit einem heiteren Lächeln der Verachtung zur Tagesordnung übergehen. Sie hat gerade jetzt eine Konkurrenz überwunden, die doch etwas anderes bedeutete, als das Schiller-Theater bedeutet. Der vor zwei Jahren auch in der „Neuen Zeit" geführte Streit darüber, ob die Freie Volksbühne als „volkspädagogisches" Institut unter der Leitung einiger unfehlbarer Literaten stehen oder aber wie jeder andere Arbeiterverein sich selbst regieren solle, ist nunmehr negativ wie positiv durch die praktische Erfahrung entschieden worden. Herr Bruno Wille, der damals, unterstützt von der ganzen bürgerlichen Literatenschaft, die Neue Freie Volksbühne als „volkspädagogisches" Institut gründete, hat diesen Verein künstlerisch und pekuniär so gründlich ruiniert, wie er auch die Freie Volksbühne ruiniert haben würde, wenn ihm die Arbeiter nicht noch rechtzeitig das Handwerk gelegt hätten. Jetzt, wo die Mitglieder der Neuen Freien Volksbühne durch schmerzliche Erfahrungen über den Irrtum klargeworden sind, den sie durch den Verzicht auf selbständiges Handeln begangen haben, macht sich Herr Wille aus dem Staube, empört über solche „Wühlereien"; trotz aller sonstigen Unfähigkeit versteht er dies eine vortrefflich, bei notgedrungenem Verschwinden von der Bühne sich durch eine Flegelei gegen die Arbeiter den donnernden Applaus der Bourgeoispresse zu sichern, die auch jetzt mit entrüsteten Reden über den „Undank der Arbeiter" die Wunden des verkannten Genies kühlt. Ob die Mitglieder der Neuen Freien Volksbühne ihr Unternehmen fortführen werden, ist noch nicht entschieden; falls sie es tun sollten, werden sie jedenfalls .gründlich von dem Glauben an die „Volkspädagogik" der „starken Individualitäten" geheilt sein.

Wie negativ durch das Scheitern der Neuen Freien Volksbühne, so ist positiv durch das Gedeihen der Freien Volksbühne der Streit über die Organisation von Volksbühnen entschieden worden. Es braucht heute ja nicht mehr verschwiegen zu werden, dass vor zwei Jahren das Triumphgeschrei der kapitalistischen Presse, mit der Freien Volksbühne sei es vorbei, nicht so ganz grundlos angestimmt wurde. Wenn auch nirgends sonst, so ist doch auf dem Gebiete des Theaters das bürgerliche Literatentum eine Macht, und der wütende Hass, womit sich diese in ihrer Eitelkeit tödlich verletzte Gesellschaft auf den damals noch kleinen Verein stürzte, schien seine Lebensfähigkeit ernstlich zu bedrohen. Dennoch haben ihn all die heimtückischen Angriffe nicht einmal erschüttert. Er ist stetig gewachsen, sowohl was seine äußere Ausdehnung, als auch was seine innere Festigung und seine künstlerische Leistungsfähigkeit anbetrifft. Im vorigen Spiel Jahre belief sich sein Etat auf 45.000 Mark; in diesem Spieljahre hat wieder ein starker Zuwachs an Mitgliedern stattgefunden; binnen weniger Tage waren sechs Abteilungen zu je 1100 Mitgliedern gefüllt; es muss noch eine siebente Abteilung gegründet werden, welche die Zahl der Mitglieder auf nahe an 8000 steigern wird. Es wäre ungerecht, zu verkennen, was der Verein trotz des Abfalls der Literaten einzelnen literarischen Beratern verdankt, so der Frau Dr. Zadek und dem alten braven Schweichel; ferner sind die Geschäfte des Vereins von Türk ebenso geschickt geführt worden, wie früher von Herrn Wille ungeschickt, und das will etwas sagen. Im Wesen der Sache aber schuldet die Freie Volksbühne ihre Erfolge ihrer demokratischen Organisation, dem Eifer, dem Ernst, der Hingebung, womit die Masse der Mitglieder sich den Aufgaben des Vereins widmet. Wer einmal am Sonntagnachmittag einer Vorstellung der Freien Volksbühne beigewohnt hat und dann abends irgendein großes Bourgeoistheater besucht, der kann mit leiblichen Augen sehen, wie sehr das Proletariat an Bildung, Geschmack und künstlerischem Verständnis die Bourgeoisie zu überflügeln beginnt.

Selbstverständlich täuscht sich kein Mitglied der Freien Volksbühne weder über das, was der Verein in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt nur erreichen, noch über das, was er für den proletarischen Emanzipationskampf überhaupt nur bedeuten kann. Innerhalb der ihr unabänderlich gezogenen Grenzen ist die Freie Volksbühne aber das einzige Theater der deutschen Hauptstadt, das ungeteilt der Kunst lebt und gleichwohl mit Befriedigung auf seine Gegenwart, ohne Sorge in seine Zukunft blicken darf.

1 Gemeint ist „Ein Leben" von Guy de Maupassant.

2 Gemeint ist Daudets Roman „Fromont junior und Risler senior".

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