Franz Mehring 18950100 Grillparzers „Traum ein Leben"

Franz Mehring: Grillparzers „Traum ein Leben"

Januar 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 5, S. 3-11. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 495-500]

In einem geistvollen Aufsatze, den Robert Schweichel zu Grillparzers hundertjährigem Geburtstage in der „Neuen Zeit" veröffentlichte, sagt er, der 15. Januar, eben Grillparzers Geburtstag, sei einer der Tage, die in der Geschichte der deutschen Dichtkunst rot anzustreichen seien. Grillparzer selbst schätzte sich trotz seiner großen Bescheidenheit als den Besten ein, der nach Goethe und Schiller gekommen sei. Er hat noch das Glück gehabt, diese Selbstkritik von der Nation bestätigt zu sehen, freilich erst am Ausgange seines langen Lebens. Die reichen Ehren, womit er im Jahre 1871 an seinem achtzigsten Geburtstage aus allen Teilen Deutschlands überschüttet wurde, konnten ihn eine jahrzehntelange Verkennung wohl vergessen lassen. Am Abend seines Lebens brach endlich die Sonne hervor, die am Morgen und Mittag niemals durch die trüben Nebel eines verkümmerten Daseins gedrungen war. Wer mag wissen, ob Grillparzer nicht doch, wie Hebbel in ähnlicher Lage, die endlich hereinbrechende Fülle des Glücks mit dem melancholischen Stoßseufzer begrüßt hat: Bald fehlt uns der Wein, bald der Becher. Wenigstens die Enttäuschung ist ihm erspart geblieben, von dem endlich erreichten Gipfel nun abermals um einiges herabsteigen zu müssen.

Denn ganz so stichhaltig hat sich Grillparzers Ruhm in den zwei Dutzend Jahren seit seinem achtzigsten Geburtstage nicht erwiesen, wie damals seine begeisterten Verehrer glauben mochten. Grillparzer ist großen Schichten der deutschen Nation, so namentlich den arbeitenden Klassen, doch mehr oder minder fremd geblieben. Wie in seinem Leben, so liegt auch in seinem Dichten etwas Gebundenes und Gebrochenes, das auf kampffreudige Klassen nicht gerade anziehend wirkt. Es sind nicht allein die Stoffe seiner Dramen, auf die es dabei ankommt: wir vermögen uns auch nicht mehr recht in den Geist zu schicken, der sie beseelt. In Grillparzers Leben fehlt jene revolutionäre Episode, jener Sturm und Drang, der in dem Leben der bahnbrechenden Dichter niemals zu fehlen pflegt. Er war kein Kriecher, obschon er in einer seiner Tragödien die Untertanentreue so verherrlichte, dass selbst dem kläglichen Despoten Franz II. von Österreich dabei angst und bange wurde. Aber er hatte auch keine Spur vom Rebellen, der mit geballter Faust drein schlägt, wenn ihm von hündischen Seelen hündisch mitgespielt wird.

Jahrzehnt um Jahrzehnt ließ er sich sein Leben von einer jämmerlichen Bürokratie verkümmern, ließ er sich in subalternen Winkeln umher stoßen, ohne männlichen Trotz, der offen herausfuhr. Dafür entschädigte dann nicht ein Überfluss weiblicher Empfindlichkeit, der sich in heimlichen Epigrammen entlud.

Nicht als ob mit alledem ein Stein auf Grillparzer geworfen werden sollte! Er war der Sohn seiner Zeit, einer elenden, nichtsnutzigen, verkommenen Zeit, von der er sich nicht völlig losreißen konnte. Revolutionäre Titanen konnten in dem Österreich Metternichs nicht gedeihen. Nicht um Grillparzer anzuklagen, sondern um seine historische Stellung zu kennzeichnen, um seine Bedeutung für das heutige Proletariat festzustellen, weisen wir auf diese Verhältnisse hin. Die Licht- und Schattenseiten hingen bei Grillparzer unlöslich zusammen. Ja, man kann sagen, dass es mehr noch sein Glück als sein Unglück gewesen sei, seine kräftigen Mannesjahre, seine schöpferische Dichterzeit von 1815 bis 1848 in dem Wien Metternichs gelebt zu haben. Jene infame Reaktion, welche die Schwingen seines Genius immer wieder lähmte, hätte er im übrigen Deutschland und namentlich im preußischen Staate, dessen Regierung gehorsam an Metternichs Narrenseile tanzte, mindestens ebenso sehr gefunden wie in Wien. Dagegen fand er als dramatischer Dichter in seiner Vaterstadt sehr Wichtiges, was er „draußen im Reiche" entweder gar nicht oder ganz vereinzelt gefunden haben würde. Die Lust der lebensheiteren Wiener an theatralischen Darstellungen hatte hier schon viel früher als im übrigen Deutschland den Boden für eine deutsche Bühne vorbereitet und besaß, als Grillparzer auftrat, in dem Burgtheater längst ein bewährtes und vortrefflich geleitetes Kunstinstitut. Umgekehrt war diese Bühne wiederum nicht ohne erzieherischen Einfluss auf das Publikum geblieben, das ihr freilich auf mehr als halbem Wege durch den künstlerischen Zug im Charakter der Österreicher entgegenkam. Auf einer solchen Bühne, vor solchen Zuschauern durfte der Dichter gewiss sein, in seinen feinsten Absichten und leisesten Andeutungen verstanden und gewürdigt zu werden. Man vergleiche den melodischen und weichen Fluss in Grillparzers Dramen mit den entsetzlichen Knüppeldämmen, auf denen Raupach die preußische Hoftragödie kutschierte, und man erkennt auf den ersten Blick, was das Wiener Publikum für Grillparzer bedeutete.

Die Stoffe, die Grillparzer dramatisch behandelte, zerfallen in drei Gruppen. Sie waren entweder der antiken Geschichte und Sage entnommen, oder aber sie gehörten der österreichischen Geschichte, genauer der habsburgischen Kaisergeschichte an, oder endlich der Dichter erfand sie mehr oder weniger selbst. Nun lag es in der Natur der Dinge, dass sich in dieser dritten Gruppe Grillparzers Talent am eigentümlichsten, kräftigsten und schönsten entfaltete. Seine „Sappho", seine „Medea", seine „Hero" (bekannt unter dem nachträglich gewählten, aber überaus geschmacklosen Titel „Des Meeres und der Liebe Wellen") sind geistvolle Studien nach der Antike, reich an poetischen Schönheiten, aber sobald man den hohen Maßstab anlegt, den Grillparzer mit Recht beanspruchen kann, doch nicht mehr als Studien: Marmorbildsäulen, in denen bei aller kalten Schönheit kein Tropfen von dem Blute fließt, das in den Herzen des neunzehnten Jahrhunderts pocht. Noch weniger sind heute für ein denkendes und kämpfendes Arbeiterpublikum Grillparzers Dramen aus der habsburgischen Kaisergeschichte genießbar, „König Ottokars Glück und Ende", „Ein treuer Diener seines Herrn", und wie sie sonst noch heißen. Bei allen Vorzügen, die sie für sich geltend machen können, zeigen sie den Dichter doch in einer schiefen Stellung. Was dichterisch an diesen Dramen ist, das verleidete sie bei Lebzeiten des Dichters dem Habsburgisch-Metternichschen System, das, stolz auf seinen plumpen Polizeiknüppel gelehnt, gar nicht dichterisch verherrlicht sein wollte und vor bleicher Angst in dem poetischen Ausdruck gehorsamer Untertanentreue schon den Anfang einer heimlichen Rebellion sah. Was aber kaiserlich-habsburgisch an diesen Trauerspielen ist, das vermögen wir heute nicht mehr zu verdauen; Grillparzers Anhänglichkeit und Treue an ein Kaiserhaus, das ihn jeden neuen Tag misshandelte oder misshandeln ließ, geht über unsern Horizont.

So ist es die dritte Gruppe seiner Dramen, in der wir Grillparzer zu suchen haben, wenn wir seine echteste Kunst finden wollen. In dieser Gruppe aber stehen „Die Ahnfrau" und „Der Traum ein Leben" obenan. Sie haben auch schon bei ihrem ersten Erscheinen mit Recht den größten Erfolg gehabt. Am bedeutendsten zeigt sich Grillparzer vielleicht in der „Ahnfrau", seinem ersten Stücke. Nach seiner eigenen Angabe wollte er in diesem Drama nicht das blinde Walten eines Familienschicksals, sondern die Vererbung der Sünde, wie sie im Glauben dogmatisch fortlebt, einen Akt geheimnisvoller Gerechtigkeit darstellen. Das ist ein echt dramatischer und uralter Vorwurf, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der dramatischen Dichtkunst von Äschylus bis auf – Ibsen zieht. Aber während Ibsens „Gespenster" in einem naturwissenschaftlichen Zeitalter die Frage durch die Gesetze der physischen Vererbung zu lösen suchen, wollte Grillparzer in einer geistig verdumpften Zeit sie lösen durch ein wirkliches Gespenst, das nicht nur der Mittelpunkt, sondern gewissermaßen die bewegende Kraft der Handlung in der „Ahnfrau" bildet. So sehr dieser Missgriff die Wirkung des Stückes auf die Zeitgenossen verstärken mochte, so sehr musste er sie auf die Dauer vernichten. Und das ist sehr schade, denn in allem anderen gehört „Die Ahnfrau" zu den Perlen unserer dramatischen Literatur. In dem Stück herrscht ein gewaltiges Ringen nach individueller Freiheit, Zeitfragen werden blitzartig beleuchtet, in genialer Weise die widerstreitenden Anschauungen über das Richteramt, das der Mensch an dem Menschen üben kann und soll, einander gegenübergestellt, und die große lyrische Gewalt der Empfindung enthusiasmierte ihrer Zeit allerwärts die Massen.

Einen ähnlichen Erfolg hat unter Grillparzers Dramen nur noch „Der Traum ein Leben" gehabt. Dies dramatische Märchen entwirft ein Gemälde des ungemessenen Ehrgeizes; es zeichnet in bunt wechselnder, abgebrochener Handlung, wie sie dem Traume eigen ist, den Ehrgeiz, der, von dämonischer Gewalt gestachelt, alle moralischen Bedenken beiseite wirft und von dem ersten Fehltritt an immer tiefer in den Sumpf der Verbrechen sinkt. Form wie Inhalt sind fast ausschließlich Grillparzers Eigentum. Mit Calderóns „Leben ein Traum" hat sein Drama trotz des ähnlich klingenden Titels nur insofern eine Berührung, als Calderón seinen Helden durch die Vorspiegelung: er habe geträumt, eine Änderung seines Charakters erreichen lässt. Sonst sind Bau und Gang beider Stücke grundverschieden voneinander. Die einzige Quelle Grillparzers zu diesem Stück war ein Märchen von Voltaire „Der Weiße und der Schwarze", und er hatte seine heimliche Freude daran, dass die kritischen Spürnasen nicht eher dahinterkamen, als bis er sein Geheimnis selbst offenbarte. Mehr als die Anregung und ein paar Namen hat Voltaire ihm übrigens auch nicht gegeben.

Am 4. Oktober 1834 wurde „Der Traum ein Leben" zum ersten Male im Wiener Hofburgtheater aufgeführt. Die Wirkung ließ bei dieser ersten Aufführung lange auf sich warten. Man nahm die bunte Begebenheit hin, ohne sich für sie zu erwärmen – da wird es auf dem mit Menschen überfüllten Theater unerwarteterweise auf einmal still, man hört eine Uhr schlagen, und der Held des Stückes spricht vor sich hin, als ob er allein und ganz unbehelligt wäre:


Horch, es schlägt – drei Uhr vor Tage!

Kurze Zeit, so ist's vorüber,

Und ich dehne mich und schüttle,

Morgenluft weht um die Stirne.

Kommt der Tag, ist alles klar,

Und ich bin dann kein Verbrecher,

Nein, bin wieder, der ich war.


Das rasch auffassende Publikum verstand sogleich, dass die ganze bisherige Handlung in ihrem romantischen Wechsel einen Traum vorgestellt habe, und ein allgemeiner Beifall begrüßte die Überraschung, obwohl sonst jegliche Überraschung im Bühnenstück ein gefährlich Ding ist. Die so von Heinrich Laube überlieferte Erzählung bestätigt, was weiter oben über die Bedeutung des Wiener Publikums für Grillparzer gesagt worden ist.

Grillparzer selbst gestand zu, dass man eben wohl nur einmal solch eine kühne Form wählen dürfe. Dazu bemerkt Laube: „So wie er sie ausgestattet hat mit eigentümlich daher springendem spannendem Vorgange, mit geradezu fliegender fortreißender Sprache, in welcher feine und tiefe Bemerkungen den abenteuerlichen Dingen eine Weihe verleihen, ist das Stück ein Wurf großen Talents." Und ähnlich sagt Karl Frenzel: „Das Ganze ist bunt und wundersam, ein Schattenbild: in diesem Tone sind auch die im Traume auftretenden Personen gehalten; von greifbarer Lebendigkeit dagegen ist Rustan und sein schwarzer Diener Zanga, in dem zuweilen ein dämonischer Ton durchbricht. In seiner Märchenhülle besitzt dies Drama etwas ungemein Fortreißendes; in seinem flüchtigen trochäischen Rhythmus gleicht es einem daher tosenden Gebirgsbache, der fortwährend seine Ufer wechselt, bald durch Felsenschluchten und düstere Wälder, bald durch lichte Wiesen und breite Saatgefilde strömt." Diesen Urteilen bürgerlicher Literarhistoriker über den Wert des Dramas können wir nur zustimmen; sie schildern treffend die eigentümlichen Vorzüge des Stücks, und wir hoffen, dass unsere Mitglieder an dem farbigen und doch gehaltvollen Märchenspiel ihre Freude haben werden.

Anders steht es mit dem Schlussworte der bürgerlichen Kritik. So sagt Frenzel: „Harmonisch klingt der Schluss aus: diese Ein- und Umkehr aus der brausenden Welt zum Frieden des Hauses erschüttert und beruhigt die Hörer." Und Laube: „Ein österreichischer Faust ist dieses Entwickelungsbild des Ehrgeizes genannt worden, und wenn es sich am Schlüsse gipfelt in Rustans Worten:


Breit' es aus mit Deinen Strahlen,

Senk' es tief in jede Brust:

Eines nur ist Glück hienieden,

Eins: des Innern stiller Frieden,

Und die schuldbefreite Brust!

Und die Größe ist gefährlich,

Und der Ruhm ein leeres Spiel;

Was er gibt, sind nicht'ge Schatten,

Was er nimmt, es ist so viel


da erreicht es von der Bühne herab einen ungemein wohltätigen Eindruck. Geläutert gleichsam und poetisch gehoben sieht und hört man diesen Schluss, welcher Weisheit und Verklärung über die Leidenschaften ausbreitet." Es ist kaum nötig, erst hervorzuheben, dass diese Auffassung bürgerlicher Philistrosität der proletarischen Moral schnurstracks widerstreitet.

Grillparzer lebte in einer Zeit, in der alles öffentliche Leben gewaltsam unterdrückt war, in der ein aufrechter Mann nur in der friedlichen Heimlichkeit seines Hauses frei atmen konnte, in der die herrschenden Klassen sich aufrechterhielten durch eine ununterbrochene Kette gemeiner und nichtswürdiger Streiche, in der Ehrlichkeit und Ehrgeiz sich so vertrugen, dass der Ehrliche ein Philister bleiben und der Ehrgeizige ein Schurke werden musste. Insoweit hatte die Entscheidung, die Grillparzer und sein Held Rustan am letzten Ende trafen, ihren guten Sinn.

Aber heute hat sie ihn nicht mehr. Die Umwälzung der ökonomischen Zustände hat für das Proletariat eine Lage geschaffen, in der sich Ehrlichkeit und Ehrgeiz anders vertragen, als sie sich für den bürgerlichen Philister der dreißiger Jahre vertrugen. Die Ehrlichkeit des Proletariers besteht heute in dem Ehrgeiz, der ihn für seine Klasse durchglüht; um ihre Größe gibt er gern seines Innern stillen Frieden dahin, und von ihrem Ruhm sagt er umgekehrt wie Rustan:


Was er gibt, sind neue Welten,

Was er nimmt, ist leeres Spiel.

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