Franz Mehring19090820 Bücherschau (Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters)

Franz Mehring: Bücherschau

Wenzel Holek: Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters

20. August 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 762-764. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 488-492]

Wenzel Holek, Lebensgang eines deutsch-tschechischen Handarbeiters. Mit einem Vorwort herausgegeben von Paul Göhre. Jena 1909, verlegt bei Eugen Diederichs. 327 Seiten. Preis 4,50 Mark, gebunden 5,50 Mark.

Der Verfasser dieses Buches ist ein Arbeiter von fünfundvierzig Jahren, der heute noch in der Dresdener Glasfabrik, vormals Siemens, täglich Asche und Schlacke karren muss für einen Wochenlohn von 15 bis 17 Mark, wovon fünf Menschen leben müssen, natürlich mit dem drohenden Gespenst der Arbeitslosigkeit hinter sich. Wie sein Buch entstanden ist, erzählt Holek selbst in einem Briefe, der nicht für die Öffentlichkeit geschrieben worden ist, aber vom Herausgeber im Vorwort mitgeteilt wird. Da dieser Brief die beste Empfehlung des Buches ist, so setzen wir ihn hierher.

Herr Holek schreibt: „Um 6 Uhr früh beginnt die Arbeit, mit dem Einladen der ersten Blechkarre. Es geht mühsam, denn die Arme, Beine und übrigen Glieder tun noch vom vorherigen Tage weh; bei jedem Anheben der Schaufel spürt man die Schmerzen. Die volle Schubkarre wird auf den Fahrstuhl geschoben, dann steigt man eilig hinaus aus der Tiefe, über vierundzwanzig Treppenstufen, während der Kamerad schon leiert. Man eilt ihm zu Hilfe, denn erst beim siebenunddreißigsten Mal Drehen der Kurbel ist die Karre oben. Der Atem wird knapp. Zum Ruhen aber ist keine Zeit. Schnell herunter mit der vollen, dass die leere Karre daraufgestellt und wieder heruntergelassen werden kann, damit sie der Kollege so wie ich vorher laden kann. Derweil fahre ich heraus auf die Schlackenhalde, achtzig bis hundert Schritte weit, mit der ungefähr 3 Zentner schweren Karre. Die Last drückt, die Knie schlottern, der Schweiß rinnt vom ganzen Körper. Dann folgt die zweite, dritte und vierte Karre. Die Glieder richten sich wieder ein. Es geht nun wie um die Wette. Die Arbeit muss fertig werden, sonst verliert man 2 Mark 50 Pfennig in der Woche. Am Mittag sind auch über achtzig Stück hinaus, fünfzig bis sechzig bleiben noch übrig für den Nachmittag. Um 1 Uhr beginnt also die Jagd von neuem. Endlich steigt die letzte Karre. Gott sei Dank! Müde und nass vom Schweiße taumelt man in einen Winkel. Doch das alles wäre noch nicht das Schlimmste. Aber in der Tiefe stehen zwei Öfen: Gaserzeuger zum Glasschmelzen. Das gründlichere Kohlenverzehren wird mit Hilfe des Dampfes gefördert, was einen furchtbaren Lärm, wie ein Wasserfall, verursacht. Es summt davon in den Ohren; jede Möglichkeit zu einem fortgesetzten Denken ist geraubt. Mit der Zeit aber scheint es, als wenn sich das Gehirn auch daran gewöhnt hätte; es bringt doch immer wieder neue Gedanken hervor und kramt sogar die vierzigjährigen Bilder heraus, um sie dann zu Hause auf das Papier zu bringen. Freilich wie schwerfällig oft! Jeden Tag bald gibt es einen anderen Satzbau, je nachdem der Organismus der schweren Arbeit und dem wütenden Element Widerstand zu leisten imstande war … Die Fenster des Zimmers, wo ich schreibe, führen auf die Straße, auf der mindestens alle zehn Minuten ein Lastwagen gefahren kommt. Hinter mir liegt schlafend der Säugling, wacht auf und weint. Ein anderes Mal wird er erst eingeschläfert. Ach, die mühsame Arbeit! Dazu noch die mangelhafte Schulbildung! … Sie sehen, unter wie schweren Umständen ich mein bisschen geistige Arbeit leisten muss." Soweit der Verfasser, und niemand wird das Buch lesen, ohne von der tiefsten Achtung vor diesem Proletarier erfüllt zu werden, der, von Kindesbeinen an im ewigen Kampfe mit immer neuem Elend, sich dennoch die geistige Energie und Frische gerettet hat, die aus jedem Blatte seiner Lebensgeschichte sprechen.

Wenn wir das Buch gleichwohl mit einem gewissen Gefühl der Missstimmung aus der Hand gelegt haben, so trifft die Schuld daran nicht den Verfasser. Vielmehr wurde dies Gefühl zunächst durch den rein äußerlichen Umstand ausgelöst, dass wir noch unter dem frischen Eindruck der „Lebensgeschichte einer Arbeiterin" standen, die die Genossin Adelheid Popp herausgegeben hat. Und der Vergleich zwischen beiden Veröffentlichungen knüpfte zunächst wieder an den rein äußerlichen Umstand an, dass die Schrift der Genossin Popp noch nicht hundert Seiten umfasst und eine Mark kostet, während das Buch Holeks den mehr als dreifachen Umfang hat und mehr als dreimal soviel kostet. Mit anderen Worten: den Erinnerungen der Genossin Popp ist der Weg in die Arbeiterklasse geöffnet, den Erinnerungen Holeks aber versperrt. Sie sind ein Buch für die Bourgeoisie, und damit hängt denn auch zusammen, was wir an ihnen auszusetzen haben, oder genauer an ihrer literarischen Aufmachung.

Genosse Göhre1 hat bereits in früheren Jahren zwei Lebensgeschichten von Arbeitern herausgegeben, ebenso umfangreich oder noch umfangreicher als die gegenwärtige. Die erste war von dem Arbeiter Fischer verfasst, der sich bis in sein Alter hinein den Stand der politischen Unschuld gerettet hatte und mit der Sozialdemokratie in keine Berührung gekommen war. Die zweite hatte den Genossen Bromme zum Verfasser, der das Elend der modernen Arbeiterklasse am eigenen Leben erfahren hat, aber nicht minder den erhebenden und ergreifenden Einfluss des proletarischen Klassenkampfes, und der beides gleich gut zu schildern wusste. Nun aber kommt als dritter Wenzel Holek, der das proletarische Elend nicht minder durchzukosten gehabt hat als Fischer und Bromme, aber im Kampfe dagegen angeblich erlahmt ist. Das ist eine etwas eigentümliche Reihenfolge, allein sie kann auf einem Zufall beruhen; vielleicht hat Göhre keine Lebenserinnerungen von Arbeitern aufzufinden vermocht, die aus den Tiefen der proletarischen Existenz sich auf die Höhe des proletarischen Klassenkampfes zu schwingen gewusst haben.

Aber die Art, wie Genosse Göhre diesen Zufall ausnutzt, erregt doch entschiedene Bedenken. Er verwahrt sich gegen den „Vorwurf", als ob er mit der Herausgabe seiner Arbeiterbiographien Propaganda für die Sozialdemokratie machen wolle. Das sei nicht nötig und auch nicht klug; der Wert dieser Biographien bestehe in ihrer „vollkommenen Objektivität". Da ist entschieden nach dem Dichterworte der Kluge klug genug gewesen, nicht klug zu sein, und Genosse Göhre könnte von der Genossin Popp lernen, wie man „vollkommen objektiv" sein und doch für die Partei Propaganda machen kann, ohne sich einem anderen „Vorwurf" auszusetzen, als dem „Vorwurf" der Bourgeoisie.

Diesem „Vorwurf" hat sich Göhre allerdings entzogen, schon durch folgende Sätze seiner Einleitung: „Für Herrn Holek ist, nach seinen Schilderungen, die Sozialdemokratie seines Lebens höchstes Glück und Unglück zugleich geworden. Sie gab dem Zwanzigjährigen, der bis dahin in geistiger Dumpfheit dahin gedarbt, das, wonach er mit allen Fasern hungerte: Licht, Bildung, Kameraden, Selbstbewusstsein, Selbständigkeit, Freiheit und Kampf. Und sie nahm ihm, der alle diese neuen Güter, Kräfte und Möglichkeiten nun in jugendlichem Feuereifer auch betätigte, zugleich allmählich jeden sicheren Existenzboden, brachte ihm dafür Verfolgung, Isolierung, Hunger. Selbst die vermeintliche Untreue seiner ersten Frau und der Zusammenbruch seines ohnehin kärglichen Eheglücks, schließlich auch der unausweichbare Zwang zur Auswanderung, selbst das ist auf das Konto seiner sozialdemokratischen Gesinnung und Betätigung zu setzen. Die Sozialdemokratie, die ihm alles Höchste in seinem Leben gab, raubte ihm zugleich alles Notwendige. Darin liegt wohl auch der tragische Höhepunkt im Leben dieses Mannes, der sich meines Wissens heute politisch nicht mehr betätigt. Und doch ist er auch in dieser Beziehung keine Ausnahmeerscheinung, sondern ein Typus." Allerdings will Göhre diesen Typus auf die „Anfangszeiten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung" beschränken, aber er fährt dann fort, noch eine ganze Reihe „tragischer Momente" in dem Leben Holeks aufzuzählen – darunter die „wilde Ehe", die schon der Achtzehnjährige begonnen habe –, und schließt dann: „Wenn etwas, so lehrt auch dies Buch eines: dass die Masse der modernen Arbeiter, auf deren breiten Schultern der Bau unserer glänzenden Kultur hauptsächlich ruht, noch heute nicht teil an deren Gütern hat. Noch lebt sie ein wahrhaft untermenschliches Dasein, wenn man Menschendasein misst an dem Maßstab der Kulturgemeinschaft."

Was zunächst diesen Satz anbetrifft, so war er das Programm der Kathedersozialisten, als sie sich vor bald vierzig Jahren in Eisenach auf taten, als Verein für Sozialpolitik oder als „Eisenacher Kamillentöpfe", wie der alte Rodbertus spottete. Jedoch hat die ästhetische Verseichtbeutelung des modernen Proletarierloses auch an ihnen kein Vorbild gehabt. Jede Tragik setzt eine Schuld des tragischen Opfers voraus; insofern mag es zum Beispiel vom theologischen Standpunkt aus tragisch sein, wenn eine „wilde Ehe", die auf den Pfaffensegen verzichtet hat, durch die „vermutliche Untreue" der Frau zerrüttet wird. Aber ein tragisches Schicksal darin zu entdecken, dass die Arbeiter durch die kapitalistische Produktionsweise mit Geißeln und, wenn sie sich dagegen auflehnen, mit Skorpionen gezüchtigt werden, das ist ein sinn-, hoffentlich auch zweck-, aber keineswegs wirkungsloses Gerede, vielmehr das geeignete Mittel, die harte Kost solcher Arbeiterbiographien für Bourgeoisleser schmackhaft zu machen, besonders wenn sich diese Leser in dem Wahne wiegen können, dass sich das tragische Schicksal in keinem tragischen Tode entladen, sondern das tragische Opfer nur so mürbe gemacht hat, dass es im Dienste des Kapitalismus weiterschuftet, ohne zu räsonieren.

Vielleicht wendet Göhre ein, eine tragische Schuld brauche keine moralische Schuld zu sein, im Sinne Schillers, der seinen Wallenstein, seine Maria Stuart, seine Jungfrau von Orleans moralisch schuldig werden lasse. Eine tragische Schuld könne auch eine intellektuelle Schuld sein, wie Lassalle geltend gemacht habe, der seinem Sickingen nur eine intellektuelle Schuld zugeschoben habe: nämlich die Schuld, dass Sickingen sich im antiken Sinne des Wortes „vermessen" habe, eine bestehende Weltordnung zu stürzen, ohne dass er ihr tatsächlich überlegen gewesen sei, ohne dass er tatsächlich die Fähigkeit und Kraft besessen habe, sie zu überwinden. Aber man sieht sofort, dass unter dieser Voraussetzung die Rederei von dem „tragischen" Lose der modernen Arbeiterklasse nur um so verwerflicher wird. Denn dann wird ihr ja ausdrücklich bescheinigt, dass sie mit ihrem Ansturm gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung einen Versuch unternimmt, an dem sie notwendig scheitern muss, und diese „Tragik" wird um so süßeren Trost in die Herzen der Bourgeoisleser flößen.

Um der Gerechtigkeit willen wollen wir übrigens noch hervorheben, dass für den Verzicht Holeks auf politische Betätigung nur das „Wissen" Göhres als Beweis vorliegt; aus Holeks Erzählung geht allein hervor, dass er durch harte Schicksale aus den vorderen Reihen des proletarischen Emanzipationskampfes zurückgedrängt, aber keineswegs, dass er diesem selbst untreu geworden ist.

Holeks eigene Arbeit ist ein sehr dankenswerter Beitrag zur Geschichte der modernen Arbeiterklasse; Göhres Einleitung aber lehrt, wenn etwas, so das eine, dass Arbeiter, die ihre Lebensgeschichte veröffentlichen wollen, gut daran tun werden, sich an das Vorbild Adelheid Popps zu halten und nicht an die Vormundschaft Göhres.

1 Der evangelische Pfarrer und Sozialpolitiker Paul Göhre trat 1900 der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde 1903 Reichstagsabgeordneter. Er vertrat sowohl in sozialen als auch in religiös-geschichtlichen Fragen eine revisionistische Linie, die Mehring scharf bekämpfte.

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