Franz Mehring 19081120 Bücherschau (Ernst Preczang „Im Strom der Zeit")

Franz Mehring: Bücherschau

Ernst Preczang „Im Strom der Zeit"

20. November 1908

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 312. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 481 f.]

Ernst Preczang. Im Strom der Zeit. Gedichte. 164 Seiten. Preis gut kartoniert 1,50 Mark, elegant gebunden 2 Mark. Stuttgart 1908, Verlag J. H. W. Dietz Nachf.

Ein prächtiges Buch, dem wir gerne einen Platz auf recht vielen Weihnachtstischen von Arbeiterfamilien eingeräumt sehen möchten. Der Verfasser1 hat seine Lieder wirklich aus dem „Strom der Zeit" geschöpft. Wollte er jedoch mit diesem Titel zugleich ein nachsichtiges Urteil über den ästhetischen Wert seiner Sammlung befürworten, so würde er allzu bescheiden gewesen sein.

An unserem Teile sind wir nicht so unästhetisch, an Lieder, die aus dem Leben der Arbeiterklasse entspringen, nur einen ästhetischen Maßstab zu legen. Die Ästhetik ist nicht ein völlig abgeschlossenes Gebiet für sich; mit dem Zirkel lassen sich die Grenzen nicht ziehen, wo sich Empfindung, Erkenntnis und Wille scheiden. In der Dichtung einer aufstrebenden und kämpfenden Klasse werden Erkenntnis und Wille immer mehr oder minder laut mitsprechen; sie deshalb aber unästhetisch nennen, hieße das Gebiet der Ästhetik arg verdunkeln und verengern, hieße das ästhetische Urteil so erniedrigen, dass es überhaupt wertlos werden würde.

Immerhin aber – besser ist besser, und wenn Gedichte aus Arbeiterkreisen auch vor dem ausschließlich ästhetischen Urteil bestehen, ohne deshalb an Frische und Glut, an dem herben Erdgeruch ihrer Klasse einzubüßen, so sollen sie uns desto willkommener sein. Und deshalb begrüßen wir diese Gedichte Preczangs mit besonderer Freude. Sie begleiten das Leben des modernen Arbeiters in all seinen Kämpfen und Sorgen, in all seiner Freud' und all seinem Leid, in all seinem Lieben und Hassen, in all seinem Grollen und Spotten, immer aber in den Grenzen künstlerischen Maßes. Dazwischen klingt dann auch manch Liebes- und Meer- und Wanderlied, nach der alten und ewig jungen Weise, nicht gesucht-originell, aber frisch und natürlich wie das Lied des Vogels.

Eine eigene Hervorhebung verdienen Gedichte, die an das Gebiet der Ballade streifen, wie „Hans Jörg" und „Trine Brecht", von denen wir gerne noch mehrere in der Sammlung sehen würden, wenn sie, wie wir hoffen und wünschen, bald eine neue Auflage erlebt.

1 Der vielseitige sozialdemokratische Schriftsteller und Verleger Ernst Preczang, der zu den bedeutendsten Hoffnungen der sozialistischen Literatur in jenen Jahren zählte, konnte nach 1917 keinen Anschluss an die Entwicklung der proletarisch-revolutionären Literatur gewinnen.

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