Franz Mehring 19110616 Bücherschau („Von unten auf")

Franz Mehring: Bücherschau

Von unten auf"

16. Juni 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 385-387. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 471-474]

Von unten auf. Ein neues Buch der Freiheit. Gesammelt und gestaltet von Franz Diederich. Erster Band. Mit zwölf Bildern nach Werken von Klinger, David, Pils, Delacroix, Rethel, Daumier, Millet, Kollwitz, Fidus. 412 Seiten. Zweiter Band. Mit vierzehn Bildern nach Werken von Meunier, Menzel, Klinger, Crane, Steinlen, Dore, Goya, Sortini, Millet, Kuithen, Thoma, Fidus. 374 Seiten. Jeder Band 3 Mark. Berlin 1911, Verlag Buchhandlung Vorwärts.

Franz Diederich war der Berufene, der deutschen Arbeiterklasse dieses wertvolle Werk zu schenken, denn er ist nicht nur ein guter Kenner und tief bohrender Schürfer der literarischen Schätze in Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch ein echter Dichter und prächtiger Gestalter. Beseelte Naturgedichte hat er neben zukunftsgläubiger Menschheitslyrik und trotzigen Kampfesrhythmen geschaffen, nur dass manchmal die revolutionären Sturmschiffe und Brander, die er aussandte, allzu beschwert waren mit Gedankenfracht und deshalb mit ihrem Kiel zu tief im Wasser dahinzogen. Aber was ein Nachteil war für den Dichter, eben eine grüblerische, nachdenkliche und sinnende Anlage, das wandelt sich zum Vorzug bei dem Sammler und Gestalter eines Werkes, wie es „Von unten auf" ist.

Bei dem Gestalter, denn es ist das Wertvollste an den beiden von Diederich herausgegebenen Bänden, dass ihr Inhalt nicht, wie der mancher äußerlich verwandten Sammlung, aus wahl- und quallos aneinandergereihten oder zusammengestoppelten Gedichten besteht, sondern dass er ein organisches Ganzes darstellt. „Von unten auf" vermittelt nicht den Eindruck von abgerissenen Zweigen und abgepflückten Blüten, sondern eines ganzen großen Waldes, in dem jeder Strauch und jede Blume in ihrem heimatlichen Mutterboden steht. Wie die Gedichte aus ihrer Zeit herauswuchsen, sind sie sinnvoll aneinandergefügt und in Abschnitten geordnet, deren jeder auf einen besonderen Akkord gestimmt ist.

Mit „Prophetenstimmen" hebt der erste Band an. Was je in der Dichtung an seliger Hoffnung aufbrach, dass der gestirnte Himmel sich einst über einer freien, einer glücklichen, einer erlösten Menschheit ausbreiten werde, findet sich auf diesen ersten Seiten zusammen: es ist zugleich der machtvoll dahin brausende Auftakt des ganzen Werkes. Dann folgt „Wenn unerträglich wird die Last". Das erwachende Bürgertum erhebt seine Stimme gegen Fürstenwillkür und Junkerübermut, nicht immer in so wuchtigen Tönen wie in den Gedichten des grimmen Hassers und Höhners Schubart. Dann wetterleuchtet's und gewittert's drüben in Frankreich, der Sturmmarsch von Marseille klingt mit unwiderstehlicher Gewalt über den Rhein hinüber, und auch die deutschen Dichter, entflammt und entflammend, jauchzen der großen Umwälzung zu wie Klopstock:


Hätt' ich hundert Stimmen, ich feierte Galliens Freiheit

Nicht mit erreichendem Ton, sänge die Göttliche schwach.


Huttens Trotzwort: Ich hab's gewagt! gibt dem nächsten Abschnitt das Stichwort. Dann, um 1830, tönt, wieder aus Paris, dem Herde aller Revolutionen, das „Julistürmen" zu den deutschen Ohren und Herzen, und während der Bekenner des „Ein garstig Lied, pfui, ein politisch Lied" zu Grabe getragen wird, hebt das wirkliche politische Lied mit Uhland, Sallet, Chamisso, Platen sein Sturmgeläut an. Auch fremde Stimmen mischen sich drein. Shelleys wetterschwangere Leidenschaft, Byrons glühende Sehnsucht und Berangers heller und kecker Weckruf. Aber daneben grollt auch „Moloch Hunger". Die Dichter Englands, dessen arbeitende Klasse im Drucke tiefsten Elends und zügellosester Ausbeutung zu derselben Zeit von einem jungen Deutschen, Friedrich Engels, studiert wird, Hood, Elliot, Southey lassen in ihren Schöpfungen hungerbleiche Gesichter aufleuchten und abgezehrte Fäuste sich drohend ballen, und aus derselben Elendswelt packt Georg Weerth den Stoff für seine Dichtungen. Aber auch auf deutschem Boden wächst schon proletarisches Elend, und in den Versen Heines, Becks, Meißners, Dingelstedts, Drenkes zuckt die verzweifelnde Erkenntnis auf von der Teilung der Menschen


In zwei Nationen, die sich wild bekriegen,

Nämlich in Satte und in Hungerleider.


Aber es geht vorwärts! Kampfesmutig schleudert die Opposition ihr „Trotz alledem!" heraus, und ihre munteren „Spottvögel" stoßen mit unbarmherzigem Hohn und scharfem Schnabel auf die mottenzerfressenen Perücken der Vergangenheit. Schon bleibt's nicht bei Worten und Versen. In den schlesischen Hungergebirgen fließt das Blut der zum Äußersten getriebenen „Weber", aus deren Stimmung heraus ein Heine, ein Freiligrath, ein Dronke, ein Pfau ihre Klage- und Verzweiflungslieder erschallen lassen. Inzwischen hat die bürgerliche Klasse an Wagelust gewonnen, es drängt sie zu einem Waffengang mit den Mächten des Beharrens, und aus ihrer Dichtung klingt es heraus: „Ich bin das Schwert" und die alte Revolutionsweise „Ca ira!" Mit dem März 1848 scheint der „Völkerfrühling" angebrochen, jetzt prasseln Freiligraths Rhythmen, als riefe harter Trommelschlag die Säumigen auf die Barrikade, und seine Stimme klingt auch noch ungebrochen und stark, als der Freiheitsherbst allzu früh die Blätter von den Bäumen gefegt hat. Den jugendschönen Leib trotzig gebäumt, verkündet durch seinen Mund die Revolution: „Ich war, ich bin, ich werde sein!" Damit schließt der erste Band.

Der Sturmschritt der Entwicklung in den zwei letzten Menschenaltern dröhnt in dem zweiten Band. „Im Arbeitsjoch" seufzt und stöhnt proletarisches Leben, zur Vernichtung verdammt und zum Siechtum verurteilt, und inzwischen schlingt die Bourgeoisie ihre Reigen zum Tanz um „Das goldene Kalb". Diese grellen Gegensätze treibt die „Großstadt" auf die Höhe, aber sie trägt auch neue Entwicklungsmöglichkeiten im Schoße: konzentrierte Kraft ist sie und spannt die Muskeln, wie in Verhaerens entladener Dichtung, zum Aufruhr. Der „Massenschritt" der Arbeiterbataillone stampft durch ihre Straßen; neue Weisen klingen mit Audorf, Jacoby, Henckell, Mackay heraus, und bereits windet die neue Dichtung ihre immergrünen Kränze um die Bilder der großen Vorkämpfer Marx, Engels und Lassalle. Vorläufig blüht dem Proletariat nur ein fahles und blasses „Sorgenglück", und nur der Wunsch, das nächste Geschlecht zu rüstigen Freiheitskämpfern zu erziehen, drängt als Sonnenglanz durch, wie in den Versen der Mia Holm:


Bis ins Tiefste soll bewegen

Dich das Wogen unsrer Zeit -

Wachse, Knabe, wachs' entgegen

Siegesfrohem Männerstreit!


Noch sind es „Zertretene", die Proletariermassen, die in dumpfem Zorne knirschen, deren Seele angefüllt ist „Von Zorn und Hohn", und suchen sie Befreiung durch die Tat, dann kostet es „Opferblut, Heldengut", wie in der Pariser Kommune, aber unverzagt jauchzt es mit Stoltze aus dem Herzen der Freiheitskämpfer:


Hängt das Recht am Sternenzelt?

Reißt den Himmel nieder!

Wieder muss es auf die Welt,

Unter Menschen wieder!


Und leuchtend bricht sich schließlich, gewisser und sicherer als in den „Prophetenstimmen", das Bewusstsein Bahn: „Unser die Welt!", und zahlreich scharen sich auch Dichter aus der Arbeiterklasse unter diesem Banner. Der Sieg ist nah, die Arbeit wird aus ihrer Sklavenfessel befreit, und dann ist sie „Heilige Arbeit".


Es fegt der Sturm die Felder rein,

Es wird kein Mensch mehr Hunger schrei'n,

Mahle, Mühle, mahle!


Mit dieser Verheißung klingt das Buch aus.

Den vielen Vorzügen, die „Von unten auf" zu einem wahren poetischen Hausbuch des modernen Proletariers machen, stehen allerdings einige Mängel entgegen. Dass manches Gedicht fehlt, das man gerne gewünscht hätte, und dass manches andere ruhig fehlen könnte, sei nicht weiter erwähnt, das ist eben subjektive Auffassung. Auch wäre die Frage unberechtigt, was denn Dichter wie der Satanist und Mystiker Baudelaire, der Snob d'Annunzio und der isolierte Ästhet Wilde mit dem Emanzipationskampf der Arbeiterklasse zu schaffen haben, denn der Sozialismus erfüllt alles, was je an Erlösungsdrang und Freiheitssehnsucht in einer menschlichen Brust lebte, und auch was jene Dekadents in ihren künstlichen Paradiesen vergeblich gesucht haben, werden sie in den blühenden Gärten der neuen Gesellschaft finden. Aber ein anderer Einwand ermangelt nicht der Berechtigung. Der Eindruck des Ganzen wäre gesteigert, die Wirkung vertieft worden, wenn Diederich als Einleitung eine kurze Geschichte der literarischen Entwicklung in dem abgegrenzten Zeitraum den Gedichten vorangestellt hätte. Bei einer zweiten Auflage, die das trefflich ausgestattete Werk sehr bald verdient und wohl auch sehr bald erlebt, holt der Herausgeber das hoffentlich nach, zumal auch die Anmerkungen oft allzu knapp ausgefallen sind.

Auch den stärksten Einwand gegen das Werk wird Diederich dann leicht entkräften können: dass er es nämlich – wohl in einer falschen Bescheidenheit – unterlassen hat, die prächtigsten seiner eigenen Schöpfungen dem Ganzen einzufügen.

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