Franz Mehring 18941200 Jugendliteratur

Franz Mehring: Jugendliteratur

Dezember 1894

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 4, S. 10-13. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 483-485]

Bilderbuch für große und kleine Kinder. Illustriert von H. G. Jentzsch, O. E. Lau, O. Marcus und J. B. Dolleschal. Herausgegeben, gedruckt und verlegt von J. H. W. Dietz in Stuttgart. Preis 75 Pfennige.

Das Bilderbuch für große und kleine Kinder erscheint zum zweiten Male. Es ist vor Jahresfrist bei seinem ersten Erscheinen mit lebhafter Befriedigung in Arbeiterkreisen aufgenommen worden – als ein erster und alles in allem glücklicher Griff, mit einer Jugend- und Weihnachtsliteratur für die Kinder der arbeitenden Klassen einen tatsächlichen Anfang zu machen. Was dem ersten Bande noch am Gelingen fehlen mochte, das – so durfte man hoffen – würden die ferneren Bände nachholen. Und wir freuen uns, sagen zu können, dass der zweite Band einen erfreulichen Fortschritt gegen den ersten darstellt. Wir heben es umso lieber hervor, als das neueste Bilderbuch vom borniert-bürgerlichen Standpunkte selbst an Stellen, wo man es nicht hätte erwarten sollen, heruntergerissen worden ist. Wir empfehlen es umso dringender unseren Lesern.

Über die zwanzig farbigen und neun schwarzen Bilder, die von den bewährten Künstlern des „Wahren Jacob" hergestellt worden sind, ist jedes Wort des Lobes überflüssig. Sie sind fast durchweg vortrefflich, so gleich das Bild auf dem Umschlage: ein weißbärtiger Gnom, der aufleuchtenden Kindergesichtern den Blick in die prächtige phantastische Märchenwelt eröffnet, der farbige Holzschnitt „Große Wäsche", die allerliebsten Tierbilder auf der letzten und vorletzten Seite. Kaum weniger erfreulich ist der Text. Wir sprechen nicht von den naturgeschichtlichen Aufsätzen allein, die schon in dem ersten Bande des Bilderbuchs untadelhaft waren; sehr angesprochen haben uns auch die Gedichte, so die einleitenden Strophen, so die reizende Tierfabel am Schlusse, dazwischen in der Mitte des Bandes „Die Burg" und der „Zauberer", „Kein Märchen", aus dem wir einige Zeilen hersetzen wollen:


Es liegt eine Burg dort unten im Tal,

Draus lodert's empor wie Feuerstrahl,

Und düstre Wolken hüllen sie ein,

Verdunkelnd der Sonne goldigen Schein.

Dort wohnt keine Ruhe – ein Ächzen und Stöhnen,

Ein Schlagen und Rollen stets hört man ertönen,

Und niemals vernimmt man dort fröhlichen Klang,

Kein Saitenspiel tönt, keines Liedes Gesang.

Ein schrecklicher Riese bewohnt dies Haus,

Er streckt seine hundert Arme aus,

Die hundert Arme von Eisen und Stahl,

Auch Krallen und Zähne in großer Zahl

Bewegt er so rasch wie ein Wirbelwind,

Im ganzen Haus geschäftig sie sind.

Sein Odem ist Feuer, sein Odem ist Rauch,

Die Säle durchzieht es wie giftiger Hauch,

Und unablässig mit Stampfen und Stöhnen

Lässt seine Stimme der Riese ertönen.


Man sagt: das ist Allegorie. Nein, es ist Wirklichkeit. Der Zauberer, der in dieser Burg haust, nährt sich von zartem Kinderfleisch. Und wenn er durch die Fron der Fabrik den Kindern ihre Märchenwelt zerstört hat, so verstehen wir die Gefühlsseligkeit nicht, die der kindlichen Phantasie das Grausen vor allerlei nie dagewesenen Ungeheuern einprägen will, ihnen aber die Augen verbinden möchte vor dem Ungeheuer, das sie selbst vernichtet.

Wir kommen damit zu den Erzählungen und Märchen des Bilderbuchs, über die sehr abgeschmackte Urteile laut geworden sind. Man kann zugeben, dass in diesen Partien noch ein weiterer Fortschritt möglich ist. Es handelt sich eben um die ersten Schritte auf einem sehr schwierigen Gebiete. Aber dann muss man auch anerkennen, dass mit diesen ersten Schritten schon verhältnismäßig viel erreicht ist. Die Schwierigkeiten, die hier zu überwinden sind, liegen in der Sache selbst. Nichts ist leichter, aber auch nichts ist wirkungsloser, als mit einigen abgedroschenen Phrasen der borniert-bürgerlichen Ästhetik darüber wegzufahren. Mit einem Wort: die große Industrie hat die Kinderwelt des Proletariats revolutioniert; nicht durchweg, aber größtenteils gilt von ihr, was Freiligrath einmal beim Rückblick auf seine Kinderjahre sang:


O Zeit, du bist vergangen!

Ein Märchen scheinst du mir!

Der Bilderbibel Prangen,

Das gläubge Aug' dafür,

Die teuren Eltern beide,

Der stillzufriedne Sinn,

Der Kindheit Lust und Freude -

Alles dahin, dahin!


Die Gedankenwelt der Arbeiterkinder ist seit einem Menschenalter umgewälzt; Hunderttausende von ihnen stehen mitten im Kampfe um des Lebens Notdurft und Sorge; ihnen fehlt die Stimmung für die alte Märchenwelt, die einst das Herz der Kinder, die im Frieden und Schutz des elterlichen Hauses aufwuchsen, mit süßem Zauber umsponnen hat. Was hier zu leisten ist, das scheint uns das Bilderbuch von Dietz in trefflicher Weise zu leisten: nämlich an die alte Märchenform, soweit sie noch lebendig ist, wo immer möglich anzuknüpfen, aber für neuen Wein in den alten Schläuchen zu sorgen. An Missgriffen wird es da nicht fehlen: auch kann es solch Bilderbuch unmöglich jedem recht machen, schon deshalb nicht, weil die Proletarierkinder in sehr verschiedenen Lagen leben, weil was dem einen schon verständlich ist, dem andern noch unverständlich sein mag und so weiter. Wir hoffen deshalb, dass sich die Arbeiter das Bilderbuch nicht durch eine aberweise Kritik verleiden lassen werden; je mehr es verbreitet wird, umso mehr werden sich seine späteren Bände vervollkommnen.

Kommentare