Franz Mehring 19041207 Literarische Rundschau (Otto Krille „Aus engen Gassen")

Franz Mehring: Literarische Rundschau

Otto Krille „Aus engen Gassen"1

7. Dezember 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 355/356. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 475 f.]

Otto Krille, Aus engen Gassen. Gedichte. Berlin 1904, Johann Sassenbach. 54 Seiten. 90 Pfennig.

Die Gedichte Krilles werden von Clara Zetkin mit einem schönen Vorwort eingeleitet, worin sich auch einige Daten aus dem Leben des jungen Poeten finden. Krille ist im Jahre 1878 geboren, als drittes Kind eines Maurers, der kurz vor seiner Geburt tödlich verunglückte. Mit harter Tagelöhnerarbeit erzog die aufopfernde Mutter ihre Kinder. Otto Krille erhielt in einer sächsischen Dorfschule, dann in der zweiten Bürgerschule zu Großenhain seine erste Bildung. Mit zwölf Jahren brachten ihn Verwandte in der königlich sächsischen Soldatenknabenerziehungsanstalt Kleinstruppen bei Pirna unter. Von da gelangte er in die Unteroffiziersschule zu Marienberg. Fünf Jahre hat der Knabe und Jüngling unter dem engherzigen, brutalen Gamaschenknopfsystem gelitten, bis es ihm gelang, den Drill der militärischen Anstalt mit der harten Zucht der Fabrik zu vertauschen. In einer Dresdener Fabrik sind die meisten der Gedichte entstanden, die Otto Krille in der obengenannten Sammlung herausgegeben hat.

Wir wünschen dem Büchlein eine weite Verbreitung in der Arbeiterklasse. Was wir zu seiner kritischen Würdigung sagen könnten, hat uns Clara Zetkin in ihrem Vorwort vorweggenommen. In der Tat führen diese Gedichte aus engen Gassen in sonnige Weiten; das geschichtlich Bedeutsame vom Wesen des modernen Proletariats ist in ihnen lebendig. Und den Vorwurf der Tendenzdichtung weist die Genossin Zetkin mit den schlagenden Worten zurück: „Nicht die ausgesprochene Tendenz ist künstlerisch verwerflich, nur ihre Darstellung mit künstlerisch unzulänglichen Mitteln." Das hat freilich nicht gehindert, dass ein sicherer Julius Bab in einer literarischen Zeitschrift der Bourgeoisie zehn Seiten lang im Namen der „ästhetischen Ästhetik" sowohl Otto Krille wie Clara Zetkin und nebenbei auch Bebel herunterputzt, weil dieser die „fast tragische Borniertheit" besäße, einen großen Kulturgenius wie Herrn Maximilian Harden nicht zu verstehen.

Allerdings reitet Herr Bab nicht sowohl auf der „Tendenz" als auf der „Form" herum. Er vergleicht ein Weberlied Krilles mit dem Weberlied Heines und meint, die Tendenz sei ja dieselbe, aber „der Neffe des vielfachen Hamburger Millionärs Salomon Heine" habe nun einmal viel schönere Verse gemacht als der Proletarier Krille, und darauf komme es für die „ästhetische Ästhetik" an. Das ist aber erst recht törichtes Gerede und führt, wenn es ernst genommen sein will, zu der unausweichlichen Konsequenz, „Des Knaben Wunderhorn" lieber heute als morgen in den Ofen zu stecken. Oder um ein nächstliegendes und vielleicht auch für Herrn Julius Bab verständliches Beispiel anzuziehen, weshalb hat Gerhart Hauptmann die erschütternde Kraft seines Weberdramas nicht aus Heines Weberlied geholt, sondern aus dem „Blutgericht", dem „Liede der Weber von Peterswaldau und Langenbielau", das vor der „ästhetischen Ästhetik" noch viel weniger besteht als Krilles Gedichte? Über diese Gedichte witzelt Herr Julius Bab in dem dekadenten Stile, wie etwa ein Rezensentenjüngling des versinkenden Roms mit seinem Horaz in der Hand über die Schlachtgesänge der alten Germanen gewitzelt haben mag.

Wer das Leben und Weben der proletarischen Welt kennt, wird gern das anerkennende und empfehlende Vorwort unterschreiben, das Clara Zetkin den Gedichten Krilles mit auf den Weg gegeben hat2. Es ist echtes und zukunftsfrohes Leben in diesen Gedichten, und auch wo sie noch mit der Form ringen, raunt in ihnen die unbändige Kraft des Proletariats, die unaufhaltsam zur Sonne drängt und dermaleinst einen reicheren Frühling der Kunst schaffen wird, als er jemals geblüht hat.

1 Mehring schrieb diese Rezension auf die dringende Bitte Clara Zetkins. In einem Brief vom 14. September 1904 schrieb sie:

„Genosse Otto Krille wartet wie die Juden auf den Messias auf ein paar Worte der Kritik und Empfehlung Ihrerseits für seine Gedichtsammlung. In der ,Neuen Zeit', womöglich auch in der ,Leipziger Volkszeitung'. Seine Sammlung ist – von der ,Sächsischen Arbeiterzeitung' abgesehen – in unserer Presse völlig totgeschwiegen worden. Unsere Blätter loben über den grünen Klee jeden bürgerlichen Dichter, der einmal geruht, etwas in Arbeiterfreundlichkeit oder Zukunftsduselei zu klingklangeln. Sie haben kein Wort der Erwähnung für Gedichte, die aus urkräftigem proletarischem Leben hervor gewachsen und lebendige Zeugen des Kulturgehalts des proletarischen Klassenkampfes sind. Fast alle Leute, die in unseren Reihen literarisch etwas verstehen oder literarisch gefirnisst sind, sind in ekelhaftester Weise ,verkunstwartelt'. Sie haben kein Verständnis dafür, dass das Proletariat auch auf künstlerischem Gebiete die bürgerliche Kultur nicht bloß übernehmen und weiterwursteln kann, sondern mit der ,Umwertung aller Werte' beginnen muss. Sie wollen das Proletariat ästhetisch verbürgerlichen, statt die neuen kulturellen Kräfte zu lösen und zur Entfaltung selbständigen Lebens zu bringen."

2 In diesem Vorwort Clara Zetkins wird folgende grundsätzliche Bewertung der neu entstehenden proletarischen Literatur jener Jahre gegeben:

„Beschränkt und hochmütig ist die zünftige Literaturgeschichte an dieser neuen proletarischen Kunst vorübergegangen. Das geistige Protzentum heuchelt oder empfindet modemäßig Schauer aufrichtiger Bewunderung vor den naiven Offenbarungen des künstlerischen Genius ferner Völker und ferner Zeiten. Ihm fehlt das Organ für die richtige geschichtliche und ästhetische Würdigung der neuen dichterischen Werke, welche die Kulturberaubten im dämmernden Morgenschein einer neuen Zeit mit heißer zuckender Seele und oft unbeholfener Hand gestalten. Für den künftigen Literaturhistoriker, welcher den geschichtlichen Bedingungen des künstlerischen Werdens und Blühens in ihren verschlungenen feinen und feinsten Verästelungen und Zusammenhängen nachspürt, wird die proletarische Dichtkunst unserer Jahrzehnte unschätzbares Forschungsmaterial sein. In ihm findet er Anfänge einer Renaissance der schönen Literatur, der die Entwicklung … langsam und mit vielen Umwegen, aber unaufhaltsam zustrebt."

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