Franz Mehring 19070610 Minna Kautsky

Franz Mehring: Minna Kautsky

10. Juni 1907

[gez.: F. M., Leipziger Volkszeitung Nr. 131, 10. Juni 1907. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 442]

Morgen feiert Frau Minna Kautsky ihren siebzigsten Geburtstag im weiten Kreise ihrer Kinder und Kindeskinder, über dem sie als lebensfrohe Urgroßmutter waltet, und im noch viel weiteren Kreise der Herzen und nicht zuletzt der proletarischen Herzen, die sie sich durch ihre trefflichen Dichtungen gewonnen hat.

Sie blickt auf ein reiches Dasein zurück, das sie in Leid und Lust durchgekostet hat als eine kluge und tapfere Frau. Ihre Welt war die Kunst, die ihr von mehr als einem ihrer Zweige mehr als einen Lorbeer gespendet hat, aber immer ist sie der Gefahr des künstlerischen Schaffens entronnen, je zu erschlaffen im Glauben und Hoffen und Vertrauen auf den siegreichen Fortschritt der menschlichen Gesittung.

Ihr ward das Glück, mit dem Erstgeborenen, dem sie, eine junge Mutter von siebzehn Jahren, das Leben schenkte, frischen Geistes hineinzuwachsen in die Welt des proletarischen Klassenkampfes. Der Sozialismus wurde mehr und mehr der befruchtende Geist ihrer Dichtung, und willig, opferte sie dem höheren Ziele den wohlfeilen Eintagsruhm, den die Kunstrichter der bürgerlichen Presse zu vergeben haben. Aber auch an ihren sozialen Romanen wird sich erfüllen, dass am letzten Ende das Totschweigesystem, wie die giftigste, so doch auch die ohnmächtigste Waffe der Bourgeoisie ist.

Minna Kautsky feiert ihr siebzigstes Lebensjahr hellen Auges und Geistes, als sollte sich an ihr die antike Weisheit erfüllen, die vom siebzigsten Lebensjahr an eine zweite Jugend rechnete, und so senden auch wir der verehrten Frau unsre herzlichsten Glückwünsche und Grüße.

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