Franz Mehring 19121227 Minna Kautsky

Franz Mehring: Minna Kautsky

27. Dezember 1912

[Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 457/458. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 443 f.]

In die alte Garde der Mitarbeiter, die einst die „Neue Zeit" aus der Taufe gehoben haben, hat der Tod eine neue Lücke gerissen: Minna Kautsky ist im sechsundsiebzigsten Lebensjahr sanft entschlafen.

In den ersten Jahrgängen dieses Blattes ist sie oft vertreten: mit Aufsätzen über das deutsche Theater der Neuzeit, über Spiritismus, über Vogelschutz, über Wassili Werestschagin und Friedrich Hebbel: es war vielerlei und doch viel, denn immer war sie mit ihrem ganzen Herzen dabei.

Die schönste dieser Arbeiten ist vielleicht der Aufsatz über die Staatsarbeiter und die Hausindustrie im Salzkammergut. Er schildert den verheerenden Einbruch des Kapitalismus in die herrlichen Alpentäler um den Hallstätter See; an der Hand der Urkunden tritt das Sonst und das Jetzt vor die Augen der Leser, aber nicht als farbloses Abbild, sondern als ein lebendiges Gemälde, das mit wahrhaftigen Augen geschaut und mit künstlerischer Hand ausgeführt ist.

So auch ist der Eindruck der Romane, die Minna Kautsky verfasst hat und die viele unserer Leser aus den Feuilletons der Parteizeitungen kennen werden1. Gewiss lässt sich vom ästhetischen Standpunkt aus manches an ihnen aussetzen: das mitunter schablonenhafte Gerüste der Handlung, oder die allzu fleckenlose Herrlichkeit des Liebespaars oder andere konventionelle Behelfe. Aber wahrlich – in einer Zeit, wo die ästhetische Bildung sich mehr und mehr den großen Kulturinteressen der Menschheit entfremdet, wo ein aufgeblasener und leerer Hochmut die knabenhafte Weisheit predigt, dass ein Dichter kein Politiker sein dürfe –, in einer solchen Zeit soll uns wenig kümmern, was unserer verewigten Freundin an einer echten Dichterin fehlte, wenn wir uns des getrösten dürfen, dass sie eine echte Kämpferin war.

Und eine echte Kämpferin war Minna Kautsky. Wenn es das traurige Schicksal manches Dichters ist, mit himmelstürmenden Anläufen zu beginnen, um sich schließlich im Sumpfe des Ästhetentums behaglich zu betten, so war ihr das glücklichere Los beschieden, sich aus der rein künstlerischen Umwelt, darin sie groß geworden war, noch in späten Jahren zum Verständnis des proletarischen Emanzipationskampfes durchzuarbeiten und ihn mit der ganzen Glut ihrer leidenschaftlichen Natur zu erfassen. Nicht nur das Herz, sondern auch der Zorn machte diese Dichterin. Und mochte ihr die Tendenz einmal den künstlerischen Rahmen sprengen, so doch nur durch anregende Gedanken, die sie – eine gescheite Frau, die das Leben in Süß und Sauer durchgekostet hatte – aus dem Schatze einer reichen Erfahrung zu spenden wusste.

Die stählende Kraft eines großen Kampfes bewährte sich auch an ihr; sie blieb frisch und klar bis in ihre hohen Jahre. Sie hatte ihr Lebtag in Österreich gelebt, aber als sie sich, schon an der Schwelle des Greisenalters, zur Übersiedlung nach Berlin entschloss, brauchte sie nicht auf das warnende Wort zu hören, dass man alte Bäume nicht verpflanzen solle. Sie schlug noch tiefe Wurzeln in dem neuen Boden. Den Gewinnen folgten dann freilich auch die Verluste; Natalie Liebknecht und Julie Bebel, mit denen sie nahe befreundet war, wanderten vor ihr ins unbekannte Land. Aber ihr blieb noch ein großer Kreis von Freunden, ihr blieb ein reicher Kranz von Kindern, Enkeln und Urenkeln, ihr blieben die Freude am Dasein und jene heitere Ruhe, die der verdiente Lohn eines wohl vollbrachten Lebens ist. Das Alter hatte keine Schrecken für sie; wenn es einmal leise anklopfte in leichten Vergeßlichkeiten und Verwechslungen, so lachte sie selbst am herzhaftesten über die kleine Wirrnis, die etwa dadurch entstand.

Wie sie denen unvergeßlich bleiben wird, die ihr nahegestanden haben, so werden die Hunderttausende, die sich an ihren Dichtungen erhoben und erquickt haben, ihr ein Wort herzlichen Dankes nachrufen. Und auch ihre Werke werden dauern, nicht zwar im Kleinodienschrein klassischer Literatur, aber in dem großen Schatzhaus, das die menschlichen Zeugnisse des Befreiungskampfes birgt, den mitzukämpfen ihre Freude und ihr Stolz war.

1 Die hauptsächlichen belletristischen Werke Minna Kautskys sind „Stefan von Grillenhof" (1878), „Herrschen oder dienen?" (1882), „Die Alten und die Neuen" (1884) „Victoria" (1889), „Helene" (1894). Von einer 1914 begonnenen Volksausgabe ihrer gesammelten Schriften erschienen nur zwei Bände. Bereits während seiner Tätigkeit als Redakteur der „Berliner Volkszeitung" rezensierte Mehring Minna Kautskys „Victoria" („Soziale Romane", „Berliner Volkszeitung", 15. Oktober 1889).

Über die literarische Leistung Minna Kautskys liegen eine Reihe Urteile von Marx und Engels vor, die deutlich den zunehmenden kritischen Abstand der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus vom Schaffen Minna Kautskys widerspiegeln, von dessen Anfängen sie sich zweifelsohne eine wichtige Belebung der sozialistischen Literatur versprochen hatten.

Engels sprach 1881 vom „novellistischen Talent" der Mutter Karl Kautskys (Engels an Bebel, 25. August 1881. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 35, S. 220.); Marx hielt – nach dem Zeugnis seiner Tochter Jenny – den Roman „Stefan von Grillenhof" für die „bemerkenswerteste Erzählung der Gegenwart". (Siehe Marx/ Engels: Briefe an A. Bebel, W. Liebknecht, K. Kautsky und andere, Teil I, Moskau-Leningrad 1933, S. 248.) Minna Kautskys Roman „Die Alten und die Neuen" war der Anlass für den bekannten Brief Engels' vom 26. November 1885 an die Schriftstellerin, in dem Engels diesen Roman kritisiert und wichtige Teile seiner Auffassungen über das Typische in der Literatur sowie über Tendenz und Parteilichkeit der sozialistischen Literatur entwickelte. (Siehe Engels an Minna Kautsky. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 36, S. 393/394.) 1894 kritisierte Engels, in einem Brief an Sorge, schärfstens das Absinken Minna Kautskys auf das Niveau der Boulevard-Romane („Helene"). (Siehe ebenda, Bd. 39, S. 223.)

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