Franz Mehring 18871200 Robert Schweichel

Franz Mehring: Robert Schweichel1

Dezember 1887

[Die Neue Zeit, 6. Jg. 1888, S. 49-55. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 445-454]

Die Zeiten sind längst vorüber, in denen der deutsche Dichter zu spät für die Teilung der Erde kam. Wenn er anders nur versteht, sein Talent oder wenigstens sein Talentchen im Aufstrich auszubieten, mag er sich leicht einen behäbigen Platz an dem Gastmahle der „oberen Zehntausend" sichern. Aber wie mit allen „Kulturfortschritten", die heutzutage gemacht werden, hat es auch mit diesem seine eigene Bewandtnis. Denn eine so unbegrenzte Gastfreundschaft, wie ihm Zeus einst im Himmel gewährte, genießt der Dichter auf Erden doch nicht; er ist nicht willkommen, sooft er kommt, sondern nur, wenn er sich beim Nachtisch einstellt, seinen Sang erhebend, so wie er satten. Bäuchen zu hören angenehm ist.

Insbesondere gilt dies von dem deutschen Romandichter. Er ist seit einem Menschenalter gar sehr heraufgekommen, Stufe um Stufe, genau in demselben Schritt und Tritt, in welchem der Roman heruntergekommen ist. Als Gutzkow vor bald vierzig Jahren seine „Ritter vom Geiste" schrieb, da spottete Freiligrath aus dem Exile über den „dreimal dreibändigen" Roman, der es sich „breit und pachterlendig" auf den Trümmern der niedergeschlagenen Volksbewegung bequem mache. Aber wer heute das halb vergessene Buch durchblättert, wird geneigt sein, wenn nicht gerechter, so doch billiger zu urteilen als Freiligrath, wäre es auch nur, weil in dem dürren Sande der Wüste selbst eine spärlich sickernde Quelle lieblich in die Ohren des müden Wanderers tönt. Vieles ist frisch geblieben in dem Roman, ja zwischen seinen vergilbten Zeilen tritt dem heutigen Leser oft eine neue Schrift entgegen. Die Geschichte von dem Fürsten Egon v. Hohenberg und dem Tischlergesellen Armand lesen wir mit einem Verständnisse, welches die Leser vor einem Menschenalter gar nicht gehabt haben können. Hier wie in anderen Teilen seines Romans bewährt sich Gutzkow doch als der Seher, welcher nach dem römischen Wort der Dichter sein soll. So ist er denn auch als „armer Poet" gestorben und verdorben.

Es war keineswegs individuelle Verkehrtheit, welche Julian Schmidt zu seinen heftigen Ausfällen gegen die „Ritter vom Geiste" veranlasste. In dem Hader spielte sich vielmehr ein Stück sozialer Entwicklung ab. Gutzkows sozialistischen Tischlergesellen, die noch dazu von jenseits der Vogesen verschrieben waren, den Franzosen, Juden und Polen, die nach der rechtgläubigen Mär die Untat von 1848 verübt hatten, galt der donnernde Schlachtruf: „Der Roman soll das deutsche Volk da aufsuchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit." Die Praxis zu dieser Theorie lieferte Gustav Freytag in seinem bekanntesten Roman, welcher jenes Wort von Julian Schmidt als Motto an der Stirne trägt. In „Soll und Haben" wird die satte und zahlungsfähige Moral des deutschen Spießbürgertums in glänzenden Gegensatz zu Bankerotten Polenjunkern und gewissenlosen Wucherjuden gestellt. Der ehrsame Jüngling, welcher – natürlich! – erst sein Abiturienexamen macht und dann auf dem Schreibblock des Komptoirs in stiller Unterwürfigkeit eine ungezählte Reihe von Jahren hindurch Briefe und Frachtzettel schreibt, bis er nicht etwa die Tochter des Prinzipals heiratet – wie käme er zu solcher Vermessenheit! –, sondern von dieser alternden Jungfer selbst geheiratet wird, war die Idealgestalt des deutschen „Arbeiters". Der Roman hatte einen beispiellosen Erfolg. Allein trotzdem erging es dem deutschen Bürgertum auf dem literarischen Gebiete nicht besser als auf dem politischen. Es kam nur zu einer kümmerlichen Nachblüte, welche nicht den entferntesten Vergleich mit den literarischen Leistungen der englischen und französischen Bourgeoisie aushält. Kaum herrschte Julian Schmidt einige Jahre als der „gesalbte König" auf dem deutschen Parnasse, als ein Stärkerer über ihn kam und die angemaßte Krone in tausend Scherben zerschlug.

Wiederum ist es ganz falsch, das grausame Pamphlet Lassalles2 als den beiläufigen Ausfluss einer übermütigen Laune zu betrachten, wie es gewisse Wortführer der öffentlichen Meinung bei dem kürzlich erfolgten Tode des Opfers aus guten Gründen darzustellen suchten. Julian Schmidt hat den furchtbaren Schlag niemals überwunden. Mag er noch eine Reihe von Bänden geschrieben haben, mag er vom preußischen Staate mit einer Pension bedacht und in die Kommission zur Verteilung des Schiller-Preises gewählt worden sein, ja hätte er bei längerer Lebensdauer ebenso wie seine nächsten Gesinnungsverwandten, wie Freytag und Treitschke, den Orden pour le merite erworben: alles das konnte ihm die zerschmetterte Krone nicht leimen. Die naive Periode des bürgerlichen Romans war unwiederbringlich dahin; wollte er noch weiterleben, so musste er die schlotternden Glieder schon in das Löwenfell des „sozialen Romans" schlagen. Er war pfiffig genug, den ersten Tanz in dieser Maskerade auf dem Grabe dessen aufzuführen, der ihm den Stoß in das Herz gegeben hatte. Spielhagens „In Reih' und Glied" wurde der erste „soziale" Roman. Hier wird der geniale Abenteurer Leo Gutmann durch die milde Weisheit des Doktor Paulus geistig und sittlich überwunden. Leo Gutmann ist Lassalle, Paulus aber jener Loewe-Kalbe, welcher – in der Tat ein sozialer Typus – vom ehemaligen Präsidenten des Stuttgarter Rumpfparlaments sich „entwickelte" bis zum nationalliberalen Schutzzöllner und zur parlamentarischen Hand der von dem „Zentralverband deutscher Industrieller" betriebenen Interessenpolitik. Mit dem Helden wandelte der Sänger niederwärts. Wenn Spielhagens „In Reih' und Glied" die sozialen Gegensätze noch mit einer Art dämmernder Deutlichkeit hervortreten ließ, so ist in seinem kürzlich erschienenen „sozialen" Roman „Was will das werden?" die eine Seite der Sache spurlos verschwunden. Man hört und sieht nichts mehr von dem Leben der arbeitenden Klassen, wenn man nicht diese oder jene, nach offiziösen Vorlagen durchgepinselte Demagogenfratze dahin rechnen will; dafür unterhält sich eine Handvoll „wohlsituierter" Individuen drei dicke Bände hindurch über die Lösung der sozialen Frage, und ihrer Weisheit letzten Schluss spricht ein – Oberst vom preußischen Generalstabe dahin aus, freilich müsse die soziale Frage gelöst werden, aber sie könne und werde nur gelöst werden durch die höhere Einsicht der herrschenden Klassen. Solchen „dichterischen" Anweisungen zur Beruhigung des bürgerlichen Bewusstseins – und in offenerer oder versteckterer Form wuchern sie durch die deutsche Romanliteratur fast überall hin – haben wir den „Kulturfortschritt" zu danken, dass der deutsche Dichter nicht mehr nur im Olymp sein Gastrecht hat, sondern auch schon auf Erden zu vollen Ehren gelangt. Die deutsche Bourgeoisie ist dankbar genug dafür, dass sie von den unaufhörlichen Niederlagen, welche sie im wirklichen Leben erleidet, sich einigermaßen erholen kann, indem sie im Spiegelbilde der Dichtung bewundert, wie sie mit Gott und den Königen grollt, wie sie vor allem durch das unwiderstehliche Übergewicht ihres Geistes die „gefährlichen Klassen" siegreich überwindet. Was der Schotte Ferguson vor mehr als hundert Jahren vom Denken schrieb: „Und das Denken selbst mag in diesem Zeitalter der Teilung der Arbeit zu einem besonderen Handwerk werden", das gilt heut auch vom Dichten. Zu einem Handwerk ist es geworden und noch obendrein zu einem Handwerk mit goldenem Boden. Aber die seltsamen Käuze – und ihrer mag es bei alledem doch noch einige geben –, welche Dichter sind, eben nur um Dichter zu sein, welche in ihren Dichtungen das Leben wie es ist, zwar verklärt, aber doch nicht verzerrt wiedergeben, welche nach Platens Rat die Kunst heißer lieben, als sie Entbehrung und Not fürchten, wie steht es mit ihnen? Je nun, sie sind heute so übel daran, wie deutsche Dichter nur jemals daran gewesen sein können, ja übler, als deutsche Dichter jemals früher daran waren. Denn sie haben nicht mehr nur den Widerstand einer stumpfen Welt zu besiegen, sondern auch den Widerstand einer sehr lebendigen Welt, einer Welt, die ganz und gar praktisch geworden ist und kaltblütig nach dem Grundsatze rechnet: „Hand wird nur von Hand gewaschen, wenn du nehmen willst, so gib!", einer Welt, die denen, welche in ihrem Sinne nichts geben können und nichts geben wollen, eben auch alles vorenthält, was vorzuenthalten irgend in ihrer Macht steht. Diese Dichter mögen schaffen, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, sie sammeln nichts als etwa eine kleine Gemeinde und einen bei allem Ungemach dann freilich doch sicheren Wechsel auf das gerechte Urteil einer freien Nachwelt.

Einer dieser Trefflichen – und der Trefflichste vielleicht in der kleinen Schar – ist der Dichter, den die Überschrift dieser Zeilen nennt. Von jungen Jahren eifrig der Sache des Volks ergeben, bei aller idealen Anlage doch immer mit scharfem Blick begabt für die raue Wirklichkeit der Dinge, in Schrift und Wort ein rüstiger Kämpfer für die arbeitenden Klassen, so hat Robert Schweichel bald ein halbes Jahrhundert im öffentlichen Leben gestritten und gelitten. Ein ganzer und voller Mann, strebte er stets ins Ganze und Volle, und niemals hat er den tiefen Sinn des Worts vergessen, dass „die Muse zu begleiten, doch zu leiten nicht versteht". Erst im Exile trat sie, die sonst der Jugend lockige Scheitel liebt, als holde Trösterin zu dem reifen Manne. In den Bergen und Tälern der Alpen erwuchs ihm seine dichterische Kunst, und diesen Ursprung hat sie nie verleugnet, nie oder doch so selten, dass die Ausnahmen nur die Regel bestätigen. So ist es in gewissem Sinne richtig, dass die Dorfgeschichte diesen Dichter zu den Ihren zählen darf, aber freilich nicht in irgendeinem landläufigen Sinne. Die Dorfgeschichte weder in dem philosophisch-transzendentalen Sinne eines Auerbach, noch die Dorfgeschichte in dem platt-realistischen Sinne eines Gotthelf, sondern die Dorfgeschichte als einfachste Zelle der Volksgeschichte ist das eigenste Gebiet von Schweichel, oder wie er selbst den gleichen Gedanken ausgedrückt hat: „Indem die Dorfgeschichte sich bemüht, das Volk zu schildern wie es ist, und den sittlichen Gehalt einfacher Lebensverhältnisse darstellt, zeigt sie der kranken Gesellschaft den Weg zur Heilquelle und dem Dichter den Boden, wo er schürfen muss, um den Schatz neuer Gedanken zu heben. Das ist die Sendung der Dorfgeschichte, die Sendung Aschenbrödels, welcher die Tauben, während sie ihr mit ihren rosigen Schnäbeln bei der häuslichen Arbeit helfen, verheißend zurufen: Sei getrost, aus deinem Schoße wird ein Geschlecht von Fürsten erblühen."

Die ersten Novellen Schweichels erschienen 1864. In dem mannigfachsten Betracht zeigen sie bereits den fertigen Dichter: in der Macht und Pracht der Naturschilderungen, in dem echt künstlerischen Maß, mit welchem diese köstliche, aber auch gefährliche Gabe des epischen Dichters gehandhabt wird, in der edlen, einfachen, klaren und dabei doch kernigen und markigen Sprache, in der fast körperlichen Greifbarkeit der Gestalten, in der feinen und tiefen Kenntnis des weiblichen Herzens. Aber der dichterische Plan ist noch lose und ungleich gewoben, die psychologische Entwicklung zeigt mancherlei Lücken und Risse. In der einen dieser Novellen, dem „Schmuggler", überwiegen sogar die Schattenseiten, während die beiden andern, „Das weiße Kreuz in Ormont" und „Die Wildheuerin", schon den Glanz echter, wenngleich nicht völlig klarer Perlen zeigen. Auch in der zweiten, ein Jahr später erschienenen Novellensammlung sind „Die beiden Vincent" einigermaßen misslungen, während „Der Uhrmacher vom Lac de Joux" in dem breiteren Wurfe, in der strafferen Schürzung und geschickteren Lösung des Knotens einen sehr entschiedenen Fortschritt bekundet. Nach einer Pause von drei Jahren erschienen dann bald hintereinander zwei neue Sammlungen, und von den fünf Novellen, welche sie enthalten, lässt sich nur sagen, dass sie Schweichel als den vollendeten Meister auf diesem Gebiete der Dichtung zeigen. Höchstens an der „Rose von Lavanche" mag man tadeln, dass sie trotz großer Schönheiten in der Ausführung ein etwas zu grelles und grobes Gewebe in der Anlage zeigt, aber „Heimatlos", „Brigitte", „Der Krämer von Illiez" und „Der Wunderdoktor" sind Musterwerke ihrer Gattung, denen die moderne Novellendichtung nichts voran- und wenig gleichzustellen hat. Hier erzielt der Dichter mit sparsamer Verschwendung geringer Mittel die erschütterndsten Wirkungen; hier umschreitet er im engsten Kreise die weitesten Grenzen des menschlichen Empfindens; hier schöpft er den „sittlichen Gehalt einfacher Lebensverhältnisse" bis auf den tiefsten Grund aus.

Seit dem Anfange der siebenziger Jahre verließ Schweichel die Novelle und wandte sich dem Romane zu. Der Fortschritt, welcher sich damit in diesem Dichterleben vollzog, ist freilich durch den Unterschied zwischen Novelle und Roman nur ganz äußerlich gekennzeichnet. Es handelte sich nicht um einen willkürlichen Wechsel, auch nicht einmal um den berechtigten Ehrgeiz, der im sicheren Gefühl der erworbenen Kraft von Kleinerem zum Größeren schreitet, sondern um eine sozusagen unbewusste Entwicklung, etwa wie aus der Blüte die Frucht, aus der Familie das Volk erwächst. Schweichel wurde im Roman ein anderer und blieb doch derselbe wie in der Novelle. Er schrieb nach wie vor Dorfgeschichten, aber so wie er die Dorfgeschichte fasste und führte, als die einfachste Zelle der Volksgeschichte, musste er naturgemäß dazu gelangen, in dem Rahmen dieses Mikrokosmos auch das ganze Leben des Volks zu zeigen. Gemäß den Gesetzen der Gattung bewegten sich seine Novellen um die seelischen Spannungen, wie sie zwischen den einzelnen Leben der einzelnen Menschen entstehen, wachsen, vergehen; insoweit diese einzelnen Menschen nur winzige Teile eines großen Ganzen sind, warfen sie allerdings auch Art und Unart des Volks in treuem Spiegel zurück. Aber wie dies Volk als einheitliches Lebewesen arbeitet und kämpft, denkt und dichtet, wie es um der Menschheit große Gegenstände ringt, konnten sie nicht darstellen und wollten es demgemäß auch nicht. Hierfür reichte nur die breitere und weitere Form des Romans aus, und so wählte Schweichel dieselbe nicht eigentlich, sondern seine künstlerisch wie sittlich gleich hohe Auffassung der Dorfgeschichte ließ ihn wie von selbst hineinwachsen.

Freilich nicht von heute auf morgen. Der erste Roman Schweichels, „Der Axtschwinger", blieb noch zum guten Teile in der Novelle stecken. Nicht nur dem äußeren Umfange nach, worauf ja immerhin nicht alles angekommen wäre, sondern auch nach der ganzen Anlage des dichterischen Plans. Es ist im Wesen der Sache eine Herzens- und Liebesgeschichte; das Stück Volksleben, welches hineinspielt, dient mehr als äußerlicher Hebel für die Geschicke der Liebenden, als dass es um sein eigenes Schwergewicht kreiste. Hier hat Schweichel den mütterlichen Boden seines Talents verlassen; der Roman spielt in der ostpreußischen Heimat des Dichters und in den angrenzenden polnischen Landstrichen. Land und Leute sind wieder mit der alten Kraft plastischer Gestaltung geschildert; wer selbst in den Ostseelandschaften aufgewachsen ist, spürt auf jeder Seite den eigentümlichen Kiengeruch der preußischen Hinterwälder. Der große Gegenstand der Menschheit aber, welcher nicht sowohl aus der Dorfgeschichte herauswächst, als vielmehr wie Schwerterklirren und Rosseshufschlag über sie hereinbricht, ist der polnische Aufstand von 1863. Wie lange war es doch her, seit die Heldenkämpfe der unglücklichen Nation einen stürmischen Widerhall in der Brust der deutschen Dichtung geweckt hatten! Wie waren die Polenlieder Platens, Lenaus, Herweghs bis auf das letzte Echo verschollen! Inzwischen hatte der bürgerliche Roman an den Fingern abgezählt, wie viele Warenballen in diesen unnützen Ruhestörungen verlorengehen können; Herr Anton Wohlfahrt, wohlbestallter Kommis des Hauses T. O. Schröter, hatte in Freytags „Soll und Haben" gezeigt, wie der Deutsche als Arbeiter, Held und Patriot inmitten der verzweifelten Todeszuckungen eines gewaltsam zerrissenen Volkes keine höhere Aufgabe kenne, als unsichere Außenstände bis auf den letzten Heller einzutreiben. Schweichel blickte wieder mit dem echten Dichterauge auf das düstere Trauerspiel; in einer Reihe fesselnder Bilder wandelt das wechselnde Lagerleben der polnischen Jugend vorüber, dann tost die männermordende Schlacht über das Blachfeld, und wieder herrscht auf ein Menschenalter die moskowitische Tyrannei, in der grausen Ruhe des Kirchhofs durch nichts gestört als durch den ohnmächtigen Fluch des Dichters.

In seinem zweiten Roman, der nun schon drei Bände umfasste, kehrte Schweichel in die Alpen zurück. „Der Bildschnitzer vom Achensee" ist reich an Vorzügen; eine so bewegte und bunte Fabel hat der Dichter sonst wohl nicht erfunden, so taufrische und wunderholde Mädchenköpfe, wie Eva, die wilde Tochter der Berge, nur noch selten gezeichnet. Dazu eine herrliche Natur, welche durch ihre großartige Gewalt den Menschen zu erdrücken scheint und sich dann doch wieder in unvergleichlicher Lieblichkeit jeder leisesten Schwingung der Seele anzuschmiegen weiß. Fels und Wald und der blinkende Spiegel des Sees enthüllen ihre verschwiegensten Reize; leise beben und klingen die heiterwehmütigen Weisen des Volkslieds durch die beseelte Sprache der Erzählung. Der Leser wendet Blatt um Blatt, wie getragen von den sanft bewegten Wellen eines klaren und tiefen Stroms. Und doch ist auch dieser Roman noch kein vollendetes Kunstwerk. Die Dorfgeschichte hat auch hier noch nicht das ganze Leid und die ganze Lust des Volks in sich aufgenommen; Familien- und Volksleben sind mehr äußerlich zusammengekettet als innerlich verwachsen. Nach der Absicht des Dichters sollen seine Gestalten leben und weben, kämpfen und leiden, fallen und siegen unter dem dicken Schatten, den der spanische Schaufelhut des Jesuiten auf das herrliche Land Tirol wirft, aber er hat die Farben nicht mit glücklicher Hand gemischt, und es hat ganz den Anschein, als seien auf den sonnigen Untergrund erst nachträglich mit gröberem Pinsel die breiten, schwarzen Striche aufgetragen. In der ersten Auflage des Romans finden sich förmliche Abhandlungen gegen den Jesuitenorden, die Tendenz zersprengt rücksichtslos das künstlerische Gebilde, und wenn Schweichel diesen Missgriff, in welchen er sonst niemals verfallen ist, auch in der zweiten Auflage beseitigt hat, so ist damit zwar die äußere Verunstaltung, aber nicht das innere Gebrechen des Romans beseitigt, das eben tief in der ganzen Anlage wie Ausführung steckt. Die Jesuitengestalten der Dichtung sind allzu oberflächlich gezeichnet, allzu sehr nach der Schablone, und zwar nach einer Schablone, welche in eine so feine Künstlerhand schlechterdings nicht gehört. Es ist an sich ganz nebensächlich, aber in seiner Art bezeichnend für dieses Ausgleiten des Dichters, dass er seinen jesuitischen Haupthelden nach jenem Pater Gury genannt hat, dessen Moraltheologie der Lieblingspopanz der nunmehr längst verflossenen „Kämpfer gegen Rom" war. Nicht als ob Schweichels freie Seele mit dem „Kulturkampfe" hätte liebäugeln wollen, aber oberflächlicher als man es gerade von ihm hätte erwarten sollen, zeichnet er hier doch die Fäden, mit welchen der Zauberer von Rom die Seelen der Völker umspinnt. So unabweisbar dieser Tadel ist, so notwendig ist es hinzuzufügen, dass Schweichel auch in dieser Beziehung redlich an sich selbst gearbeitet hat; in seinem nächsten Roman hat er die verschiedenen Priestergestalten der katholischen Kirche mit einer Feinheit, Schärfe und Tiefe zu zeichnen gewusst, die ihn wieder auf der vollen Höhe seiner Kunst zeigen.

Das gleiche Urteil gilt nun aber auch in jeglichem anderen Betracht von diesem nächsten Romane, dem dritten und letzten, welchen Schweichel veröffentlicht hat, den „Falknern von St. Vigil". Wie streng in der umfangreichen Dichtung die Gesetze des epischen Schaffens beobachtet sind, wie sicher die künstlerische, in schönstem Ebenmaße gegliederte Schöpfung auf und in sich selber beruht, wie fest und frei sie sich aus eigener Kraft bewegt, so dass sie kaum noch an einer flüchtigen Zeile in ihren drei Bänden durch einen Spinnwebfaden von subjektiver Bemerkung mit ihrem Schöpfer zusammenhängt, das hat gleich nach dem Erscheinen des Werks ein jüngerer Ästhetiker in einer wissenschaftlichen Abhandlung schlagend nachgewiesen. Hierauf näher einzugehen, schließt sich an dieser Stelle von selbst aus; es muss genügen, darauf hinzuweisen, wie in den „Falknern" die Aufgabe: im Rahmen der Dorfgeschichte das Leben des Volks in seinen Höhen und Tiefen widerzuspiegeln, rein und voll gelöst ist. Das allgemeine und das einzelne Schicksal kreisen hier nicht mehr durcheinander, sondern ineinander, bis sie schließlich vollkommen zusammenfallen. Der Roman, welcher zur Zeit der bayrischen Herrschaft in Tirol spielt, spinnt sich im Schoße einer Bauernfamilie ab, welche bis zum Schlusse durchweg im Mittelpunkt der ganzen Handlung steht. Er beginnt mit den einfachsten Herzenskämpfen dieser einfachen Menschen, Kämpfen zwischen Vater und Sohn, zwischen Bruder und Schwester, zwischen Gatten und Gattin, Kämpfen, wie sie unzählige Male dagewesen sind und unzählige Male wiederkehren werden. Aber die Not der Familie verschlingt sich mit der Not des Volkes, nicht auf irgendeinem künstlichen oder zufälligen Wege, sondern weil es so sein muss und nicht anders sein kann, weil die Familie nur ein Teil des Volkes ist, nur in und mit dem Volke lebt. In einer sehr durchsichtigen und klaren, aber höchst spannenden Fabel vollzieht sich das Gegenspiel der individuellen und nationalen Kräfte, wirkt der Mensch auf das Volk und das Volk auf den Menschen, fällt endlich die gleiche Entscheidung über die großen und über die kleinen Lose. Form und Inhalt decken sich in vollkommenster Weise; in jener bleibt kein leerer Raum, von diesem fließt kein Tropfen über den Rand. Die Dorfgeschichte wächst zu den Höhen der Menschheit heran; geschichtliche Gestalten, Hofer, Speckbacher, Haspinger, schreiten durch sie; die unsterblichen Donner der Schlacht am Iselberge, welche Schweichel in einem prachtvollen Gemälde schildert, hallen in ihr wider. Aber sie greift nie und nirgends über ihre künstlerischen Schranken hinaus; indem sie Volksgeschichte wird, ist die Dorfgeschichte geblieben.

Seit den „Falknern" hat Schweichel kein dichterisches Werk mehr veröffentlicht. Denn es ist nicht mehr als billig, an seiner römischen Novelle „Camilla" vorüberzugehen, die ein flüchtiger Abfall einer italienischen Reise ist und eben nur in der besseren Unterhaltungsliteratur mitgezählt werden kann. Offenbar ist aber Schweichels dichterische Entwicklung noch nicht abgeschlossen; so hoch die Stufe der Kunst ist, welche er in den „Falknern" erreicht hat, so ist es eben doch noch nicht die höchste Stufe, welche ihm zu erreichen beschieden ist. Die strenge Architektonik, die er in jeder seiner Dichtungen erstrebt und, sei es in größerem oder geringerem Maße, erreicht hat, macht ihr Recht auch in seinem ganzen dichterischen Lebenswerke geltend. Wie die Freiheit der beseelende Atem seiner Kunst ist, so hat er ihr unvertilgbares Recht erst in den Kämpfen der einzelnen Menschen, dann in den Kämpfen der einzelnen Völker geschildert, aber noch nicht in dem großen Kampfe der Menschheit selbst. Es ist klar, dass dieser Kampf gegen allen Druck und Zwang, welcher auf dem freien Menschengeiste lastet, in die bisherigen Romane Schweichels noch nicht seinen vollen Widerschein geworfen hat; selbst in den „Falknern" bleibt an dem heldenhaften Volkskampfe der Tiroler – für das Haus Österreich und den Pantoffel des Papstes – „ein Rest, zu tragen peinlich", und Schweichel selbst, dessen ideale Weltanschauung sich mit strenger Wahrhaftigkeit nicht nur verträgt, sondern gerade in ihr wurzelt, hat in seinem Roman diesen dunklen Schatten zu voll gemessenem, sei es noch so unerfreulichem Rechte kommen lassen. Es bleibt seiner eigentümlichen Entwicklung also noch das höchste und letzte Ziel übrig: die Lösung der Aufgabe, den großen Befreiungskampf der Menschheit im Rahmen der Dorfgeschichte dichterisch zu bewältigen, welche damit, vom Kleinsten zum Größten fortschreitend, sozusagen in die Weltgeschichte münden würde.

Mit andern Worten: Schweichel ist der geborene Dichter des Bauernkrieges, jenes weltgeschichtlichen Kampfes, der, aus dem Dorfe entspringend und alle politischen und religiösen, alle nationalen und sozialen Interessen in seinen furchtbaren Strudel ziehend, der Menschheit zu ihrem ursprünglichen und unveräußerlichen Rechte der Freiheit verhelfen wollte.

Je mehr man sich in Schweichels Dichtungen hineinlebt, um so mehr spürt man, wie sie zu diesem Ziele drängen, um so mehr erkennt man, wie sehr der Dichter über alle die seltenen Eigenschaften gebietet, ohne welche eine Lösung jener Aufgabe gar nicht möglich ist: über die dichterische Kraft und die meisterhafte Technik, über den freien und unerschrockenen Charakter, über das fühlende Herz und nicht zuletzt auch über die tiefe wissenschaftliche Einsicht in die innersten Zusammenhänge des Völkerlebens. Es wäre wunderbar, wenn einem Dichter, der sich so sorgsame Rechenschaft über seine Kunst und ihre Wirkungen zu geben pflegt, verborgen geblieben sein sollte, was jedem nachdenkenden Leser seiner Werke von selbst in die Augen springt. In der Tat hat Schweichel denn auch schon vor langen Jahren in einem Jahrgange des „Armen Konrad" ein novellistisches Bruchstück über Florian Geyers Heldentod veröffentlicht, das zu dem Herrlichsten gehört, was jemals seiner Feder entflossen ist, und das in jeder Zeile dem kundigen Auge verrät, wie tief der mächtige Stoff die Seele des Dichters bewegt hat und wohl noch bewegt.

Möge dem greisen Manne vergönnt sein, bald die reifste und süßeste Frucht seiner Kunst zu pflücken, dem deutschen Volke – was heute nur noch die Dichtung kann – in frischer Lebendigkeit das größte und unglücklichste Jahr der deutschen Geschichte wiederzugeben, in den düsteren Erinnerungen der Vergangenheit die hoffnungsfrohe Saat der Zukunft zu säen! Schweichel ist einen reinen, aber rauen Weg gewandelt, und vieles hat er entbehren müssen, was andern Dichtern, die ihm nicht an die Schultern reichen, in überreicher Fülle zugeströmt ist. Aber die Schale sänke tief zu seinen Gunsten, wenn er der Dichter des Bauernkriegs würde, wenn damit sein Dichten und sein Leben so rein und tief und voll austönte, wie es nur auserwählten Sterblichen beschieden ist. Und nicht minder, als er selbst, wäre die deutsche Literatur zu beglückwünschen, denn sie hätte dann, was sie jetzt nur in halb gelungenen oder ganz misslungenen Anläufen, ja überwiegend nur in abstoßenden Zerrbildern besitzt: nämlich den ersten sozialen Roman.3

1 Mit diesem Aufsatz begann Mehrings Mitarbeit an der „Neuen Zeit", noch vor seinem endgültigen Übergang zur Sozialdemokratie.

2 „Herr Julian Schmidt, der Literaturhistoriker. Mit Setzer-Scholien herausgegeben von Ferdinand Lassalle" an. In: Ferdinand Lassalle: Gesammelte Reden und Schriften. Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Bernstein, Bd. 6, Berlin 1919, S. 189-342.

3 Robert Schweichel dankte Mehring für diesen Aufsatz mit einem Brief vom 24. Dezember 1887, der folgenden Wortlaut besitzt: „Verehrter Herr Kollege!

Die Geschichte mit dem Apfel des Paradieses wiederholt sich. Dass Sie die Rolle der Eva spielen würden, haben Sie sich wohl nie träumen lassen? Und ich, der alte Adam, vermag der Versuchung nicht zu widerstehen, sondern beiße nach einigem Schwanken in den verlockenden Apfel, d. h. lese Ihren Artikel über mich. Nun, ich bereue es umso weniger, als es für mich eine Frucht vom Baume der Erkenntnis war. Es ist mir manches dadurch über mich selbst klar geworden, und das danke ich Ihnen wahrlich nicht minder als das Süße, das Sie mich haben kosten lassen. Dass auch Sie auf den Bauernkrieg zu sprechen kamen, hat mich höchlich überrascht. In der Tat beschäftige ich mich schon lange mit diesem Thema, das ich selbst für den Abschluss meiner poetischen Entwicklung halte. Aber der Stoff ist künstlerisch ungeheuer schwer zu bewältigen, und so ist es natürlich, dass inzwischen allerlei Krumm-Krüppelholz geschlagen werden muss, um den Tag zu bestreiten. Dazu gehört auch ,Camilla'. Allein ich wollte doch noch etwas anderes mit ihr, nämlich mit der politischen Prinzipienlosigkeit unserer Zeit ins Gericht gehen.

Nochmals meinen herzlichsten Dank für die große Weihnachtsfreude, die Sie mir mit Ihrem Aufsatze gemacht haben. Auch Ihnen ein frohes Fest wünschend, grüßt Sie hochachtungsvoll Ihr Robert Schweichel."

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