Franz Mehring 19010703 Zwei Veteranen

Franz Mehring: Zwei Veteranen

(Auszug)

3. Juli 1901

[Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 418/419. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 455 f.]

[…]

Am 12. ds. Mts. beschließt Robert Schweichel sein achtzigstes Lebensjahr. Er hat in frischer und rüstiger Manneskraft das Jahr 1848 miterlebt, das unvergessliche Jahr, das sich immer glorreicher aus dem Schutte erhebt, worunter es die privilegierten Klassen zu begraben versucht haben. Jedoch der unversöhnliche Hass dieser Klassen gegen das „tolle Jahr" ist dessen rühmlichster Anspruch auf das Andenken der Nachwelt. Gewiss hat es manchen Abfall und manchen Verrat gesehen, gewiss ist in ihm nach den Worten des Dichters viel „verlottert und verloren" worden, aber trotz alledem hat es der deutschen Kultur einen so mächtigen Ruck vorwärts gegeben wie kein anderes Jahr des vorigen Jahrhunderts. Und es waren deutsche Proletarier, die diesen gewaltigen Anstoß gaben, der wohl oft gehemmt, aber niemals wieder erdrückt werden konnte, ja der bis auf den heutigen Tag fortwirkt. In den Reihen der revolutionären Arbeiter hat Robert Schweichel damals schon gestanden, klarer und schärfer blickend als die meisten seiner Alters- und Klassengenossen. Als wir jüngst die Papiere der „Neuen Rheinischen Zeitung" durchmusterten, fanden wir auch seinen Namen unter einem Schriftstück, das von Königsberg an die gewaltige Vorkämpferin des deutschen Proletariats eingesandt worden war; es sind schon dieselben festen und sicheren Züge, in denen heute noch der Greis schreibt. Von allen, die an dem berühmten Revolutionsblatt mitgewirkt haben, ist Schweichel nun wohl der letzte Überlebende.

Die Wut der Reaktion ist dann auch auf ihn gefallen; an den Ufern des Genfer Sees hat er sein Exil verlebt. Dort ist auch der Dichter in ihm erwacht, dem die deutsche Arbeiterklasse so viel Schönes verdankt. Wie Schweichel nach seiner Rückkehr in die Heimat mit Liebknecht gemeinsam in die Redaktion der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" eintrat, wie beide dann dahinterkamen, dass der Herausgeber dieses Blattes sich an die Regierung verkauft hatte, und wie nun von neuem ihr Ringen um die nackte Existenz begann, das ist bekannt genug. Nach mancherlei Irrfahrt fanden sie sich von neuem in der Redaktion des „Demokratischen Wochenblattes" zusammen, als dessen Redakteur Schweichel seine Programmrede in Nürnberg hielt1. Sie hat viel dazu beigetragen, den Sieg an die Fahne der vorwärtsdringenden Mehrheit im Schoße des Arbeiterverbandes zu fesseln. Nicht als ob sie gerade neue Gedanken enthalten oder das stürmische Tempo einer Lassallischen Agitationsrede entfaltet hätte: ruhig und schlicht vielmehr, in durchsichtiger und vollendeter Form, erleuchtet von tiefem Verständnis der modernen Arbeiterbewegung, erwärmt von nicht minder tiefer Sympathie für die Arbeiterklasse, war sie genau so, wie sie sein musste, um die besondere Aufgabe zu erfüllen, die an diesem Tage gestellt war. Bebel hätte vielleicht feuriger, Liebknecht vielleicht leidenschaftlicher gesprochen, aber sie hätten vielleicht auch die Zaudernden unschlüssiger und die Widerstrebenden halsstarriger gemacht: so überließen sie mit gutem Bedacht den Vorkampf dem gemeinsamen Freunde, der fest zugleich und mild die schwankende Schlacht zum siegreichen Ausgang zu leiten verstand. Diese Rede Schweichels wird in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie dauern.

Bald darauf wandte er sich wieder der Dichtkunst zu, mit dem Rechte des geborenen Künstlers, der seiner Kunst zu leben die Pflicht wie das Recht hat. Sein Herz blieb der Arbeiterklasse treu, und so auch sein dichterisches Schaffen; in seinen Novellen und Romanen weilt er am liebsten oder fast ausschließlich unter dem Volke, das um seine Emanzipation aus den Fesseln der Knechtschaft in jeglicher Gestalt ringt, und seit dreißig Jahren mag kaum ein Parteikalender erschienen sein, worin Schweichel nicht mit einem novellistischen Beitrag vertreten gewesen wäre. Zuletzt, schon weit über das biblische Alter hinaus, hat er den deutschen Arbeitern mit bewunderungswerter Kunst ein dichterisches Gemälde des deutschen Bauernkriegs entworfen und so ein reiches Lebenswerk harmonisch gekrönt. Was kümmert es ihn, wenn der schellenlaute Lärm der verschworenen und versippten Kritik, wenn die landläufigen Literaturgeschichten ihn totschweigen? Er bedarf der Lorbeerkränze nicht, die der Tag raubt, wie sie der Tag gespendet hat; fünfzig Jahre und mehr im Dienste der Demokratie haben seine Augen klar und sein Herz wacker erhalten; soll er die jungen Greise beneiden, die mit dekadentem Jammer eine neue Periode der Literatur eröffnen wollen, wenn ihnen kaum der erste Flaum ums Kinn sprosst? Tausenden, ja Hunderttausenden von Mühseligen und Beladenen mitten in quälender Not und ermattendem Kampfe die erlösende Welt der Schönheit geöffnet zu haben, das ist die erhebende Gewissheit, worin dieser Dichter sich an seinem achtzigsten Geburtstag sonnen darf. […]

1 Vom 5. bis 7. September 1868 tagte in Nürnberg der Vereinstag des Verbandes der deutschen Arbeitervereine, der einer der Höhe- und Wendepunkte der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung der sechziger Jahre war. Der Vereinstag nahm ein Programm an, das in wesentlichen Punkten den Zielen der I. Internationale entsprach. Der Nürnberger Vereinstag war ein sehr wichtiger Schritt, der zur Begründung der marxistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 in Eisenach hinführte.

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