Franz Mehring 18920622 Kapital und Sprache

Franz Mehring: Kapital und Sprache

22. Juni 1892

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Zweiter Band, S. 417-421. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 203-208]

Unsere bürgerliche Gesellschaft lebt in gar traurigen Zeiten. Kein Tag fast, der ihr nicht eine neue beängstigende Entdeckung bringt. Nun muss sie sich gar noch aus ihrem eigenen Schoße sagen lassen, dass sie nicht mehr deutsch zu sprechen versteht. Auf diesem Gebiete fühlte man sich noch vor wenigen Jahren so sicher, dass man die lustige Hasenjagd auf die Fremdwörter anstellte, die immerhin einiges unnütze Gesindel aus dem Aktendeutsch aufstöberte, aber schließlich, rein aus teutonischem Übermute, unsere Sprache in verhängnisvoller Weise zu verstümmeln drohte. Wie gerne ließe man nun wohl Fremdwörter Fremdwörter sein, wenn man dadurch die Anklage entkräften könnte, dass man die Formen, Worte und Sätze der eigenen Sprache nicht mehr richtig zu bilden versteht! Aber es scheint, dass die Ankläger noch immer das Übergewicht behaupten gegenüber den Verteidigern, die dem klassischen Deutsch der Bourgeoisie erstanden sind.

Am heftigsten tobt der Kampf um eine Schrift von Gustav Wustmann. Sie führt den Titel: Allerhand Sprachdummheiten, und erläutert sich daneben als kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Hässlichen, als Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedienen. Die kapitalistische Presse hat vieles an dem Büchlein auszusetzen, und so möchten wir denn vieles an ihm loben. Herr Wustmann schreibt flott, klar und verständlich; er hat seinen Gegenstand eifrig studiert, und es tut wenig zur Sache, dass er manchmal etwas kurz und grob wird, dass er noch häufiger das Kind mit dem Bade verschüttet. Einen Augiasstall kann man nicht mit dem Fliegenwedel kehren, und bei jeder Anklage, auch einer gerechten, laufen manche Übertreibungen mit unter. Recht hat Herr Wustmann, wenn er den alles Maß übersteigenden Missbrauch des Fürworts derselbe, dieselbe, dasselbe in der Zeitungssprache tadelt, aber er übertreibt, wenn er die wirkliche Bedeutung dieses Fürworts auf ebenderselbe (idem, le même, the same) einschränken will. Er braucht nur irgendwelche zehn Prosaseiten von Goethe oder Lessing zu lesen, um zu erkennen, dass derselbe auch im Sinne von er oder dieser, je nach dem Zusammenhange, von unseren Klassikern regelmäßig gebraucht worden ist. Recht hat Herr Wustmann ferner, wenn er das Relativpronomen welcher schwerfällig findet, aber er übertreibt, wenn er es in unserer klassischen Literatur nur als schleppendes Versfüllsel entdecken will. Irgendwelche zehn Prosaseiten von Goethe oder Lessing können ihn abermals eines Besseren belehren. Das welchem, wie Herr Wustmann sich ausdrückt, kann unerträglich werden, wenn ein Zeitungsschreiber nur Relativsätze als Nebensätze kennt und jeden Relativsatz mit welcher beginnt, aber deshalb diesem Relativpronomen den Vernichtungskrieg erklären, heißt die Sprache verstümmeln, die in dem zweifachen Relativpronomen der und welcher eine für die klare Gliederung des Satzbaus, den Wohlklang der Wortstellung und andere Zwecke wohl zu verwendende Auswahl bietet. Herr Wustmann nennt weiter Ausdrücke wie: der Fall Lindau, das Haus Rothschild plärrende Nachäfferei des Französischen; nach der deutschen Grammatik müsste es heißen: der Lindauische Fall, das Rothschildische Haus. Zugegeben, dass jene Ausdrücke Gallizismen sind, aber weshalb sollen sie nicht in die deutsche Sprache aufgenommen werden? Klarheit, Kürze und Wohllaut des Ausdrucks heischen doch auch ihr Recht und stehen unter Umständen allerdings, wie weiland Kaiser Sigismund, super Grammaticam, über der Grammatik.

Solcher Ausstellungen ließen sich noch gar viele an Wustmanns Büchlein machen, ohne dass sein Verdienst dadurch besonders geschädigt würde. Dies Verdienst besteht darin, dass Wustmann ein ganzes Nest von Sprachdummheiten aufdeckt, für die mehr und mehr jedes Gefühl verlorengegangen war; er hilft dem Leser wieder auf die Spur, auf der dieser sich nun leicht weiterhelfen kann, auch gegenüber den eigenen Seitensprüngen des Pfadfinders. Leser scheint das Büchlein nun auch genug gefunden zu haben, aber ob es dem zunehmenden Verfalle der deutschen Sprache wirklich steuern, auch nur in geringem Maße steuern wird, das ist eine andere Frage. Ein sehr böses Vorzeichen spricht dagegen. Wenn irgendeine Menschenklasse Herrn Wustmann freundlichen Dank sagen sollte, so sind es die Zeitungsschreiber. Wir unsererseits haben als Zeitungsschreiber das Büchlein mit großem Genusse und Nutzen gelesen, trotz aller Vorbehalte, und wir kennen unsere Kollegen von der Feder allzu gut und allzu lange, um nicht zu wissen, dass jeder von ihnen, ohne Schaden an seinem Stile zu nehmen, dem kleinen Wustmann ein verstohlenes Plätzchen in seiner Handbibliothek gönnen könnte. Aber gleichwohl hat die kapitalistische Presse, wenigstens in ihrer Masse, das treffliche Angebinde sehr unwirsch aufgenommen, und da sie keine Reue empfindet, so wird auch wohl an keine Besserung zu denken sein. Und am Ende kann sie sich auch gar nicht bessern; sie kann über die Verwüstung der Sprache so wenig hinaus, wie sie über ihren eigenen Schatten springen kann.

Herr Wustmann datiert die Verwilderung der Sprache von 1850 und mehr noch von 1866 an; als ihre Hauptursache, als ihre eigentliche Brutstätte nennt er die Tagespresse. Darin sind richtige Beobachtungen enthalten. Aber es ist ein Fehlschluss, den Verfall der Sprache namentlich auch daher abzuleiten, dass „ein großer Teil unserer Zeitungen, vielleicht der größte und einflussreichste, von Leuten geschrieben wird, die einem fremden Volke angehören, deren Großeltern, ja deren Väter und Mütter vielleicht das Deutsche noch nicht als ihre Muttersprache gesprochen haben". Herr Wustmann ist in der guten Seestadt Leipzig Stadtbibliothekar und Archivdirektor, im Nebenamte auch Redakteur der „Grenzboten"; wäre er dies alles nicht, dafür aber ein wenig Sozialist, so würde er sich vor dem logischen Kopfsprung gehütet haben, das Judentum für die Sünden des Kapitalismus verantwortlich zu machen. Die Schmocks, die wirklich noch mauscheln, haben gar keinen oder höchstens einen so geringen Anteil an der Sprachverwilderung, dass sie ihr vielleicht hier und da eine gewisse Färbung, aber sicherlich nirgends den entscheidenden Anstoß geben. Gerade gebildete Juden haben sich große Verdienste um die Erhaltung und Fortbildung unserer klassischen Sprache erworben, so Börne auf publizistischem, Heine auf poetischem, Marx auf wissenschaftlichem Gebiete, obschon keiner von ihnen es jemals darauf angelegt hat, seinen jüdischen Ursprung zu verleugnen. Und wo wirklich einmal eine Ausnahme vorzuliegen scheint, braucht man nur genau hinzusehen, um sofort zu finden, dass sie allein die Regel bestätigt. Lasker beispielsweise schrieb und sprach ein entsetzliches Deutsch, das man versucht sein könnte darauf zurückzuführen, dass Lasker zu Jaroczin im Großherzogtum Posen als ein Kind jüdischer Eltern aufgewachsen war. Aber man erwäge einerseits, dass der schlesische Jude Lassalle und der ostpreußische Jude Jacoby, die unter wesentlich gleichen Kulturverhältnissen aufgewachsen waren wie Lasker, ein vorzügliches Deutsch sprachen und schrieben, andererseits aber, dass der westpreußische Germane Julian Schmidt mit Lasker in jener gespreizten „Bildungssprache" wetteiferte, die gerade Lassalle so herbe gegeißelt hat, und man wird sich nicht der Einsicht verschließen, dass die jüdische Rasse nicht für das verantwortlich gemacht werden kann, was die kapitalistische Klasse verschuldet hat und verschuldet.

Die Sprache ist das Kleid des Gedankens, und wo die Gedanken einen geraden, schlanken Wuchs haben, da braucht man keine große Sorge darum zu tragen, dass auch ihr Gewand in anmutigen und leichten Falten fließt. Aber seit dem Jahre 1850, von wo an Herr Wustmann die erste Epoche der Sprachverwilderung datiert, begann jener heimliche Verrat der Bourgeoisie an der Gedankenwelt der klassischen Literatur, dessen, wie Lassalle meinte, „vielleicht schlimmste und gemeinschädlichste" Folge gerade die Zerrüttung der Sprache war. Man bemächtigte sich aus den Schriften der Denker und Gelehrten einiger vornehmen Ausdrücke und erzeugte eine neue „Bildungssprache", die einen wahren Triumph der „modernen Bildung" darstellte. Es war eine kaleidoskopisch durcheinander gerüttelte und geschüttelte Anzahl von Worten, die keinen Sinn gaben, aber auf ein Haar so aussahen, als gäben sie einen solchen und einen erstaunlich tiefen! In diesem unbestimmten Wortgeflimmer war auch nicht die Spur eines Gedankens; der Autor tanzte vielmehr ganz bewusst einen Fandango auf Eiern und war sich ganz klar darüber, dass er bei dem ersten soliden Schritte einbrechen und seine völlige Gedankenlosigkeit und Unwissenheit über den Gegenstand verraten würde. Diese famose Kritik Lassalles traf nicht nur auf Julian Schmidts Literaturgeschichte, sondern auch auf Laskers Parlamentsreden zu; nur dass Lasker für seine Person an sein „unbestimmtes Wortgeflimmer" glauben mochte, wenn auch natürlich seine Klasse nicht daran glaubt; es war bezeichnend, dass, während er in gebrochenem Deutsch gegen die Gründer donnerte, sein Freund Bamberger in recht gewandtem Deutsch alle Gründerpraktiken zu verteidigen wusste. Herr Wustmann sieht auch ganz richtig, dass die Sprachverwüstung mit dem Jahre 1866 auf eine höhere Stufe gelangte. Natürlich, da nach Königgrätz der Kapitalismus sich mit dem Feudalismus und Militarismus nicht mehr freundnachbarlich schlagen konnte, sondern freundnachbarlich vertragen musste, so musste er in ein noch viel unbestimmteres Wortgeflimmer geraten, um den Widerspruch zwischen seinen Taten und Worten zu verbergen. Ein ehrlicher Kerl sagt einfach: ich will dies oder jenes, und stimmt so, wie er spricht, aber die „gebildete" Bourgeoisie wollte in der zweiten Lesung alles nur noch „ganz und voll", „unentwegt", „zielbewusst", damit das verehrliche, aber genasführte Publikum doch eine kleine Entschädigung dafür hatte, dass sie in der dritten Lesung immer das Gegenteil von dem tat, was sie in der zweiten Lesung tun wollte.

Dazu kam, dass mit der stärkenden Entwicklung des Kapitalismus die Zeitungen auch immer tiefer in das kapitalistische Getriebe gerissen wurden. Je mehr sie rein kapitalistische Unternehmungen wurden, je mehr das kapitalistische Interesse des Verlegers alles entschied und je mehr sich dies Interesse in dem rücksichtslos wütenden Konkurrenzkampfe zu einer fieberhaften Profitwut auswuchs, um so grausamer wurde die Sprache zerstampft. Lieber lallt man, als dass man spricht, wenn man nur zuerst eine neue Nachricht auf den Markt schleudern kann. Damit steht keineswegs im Widerspruche die seltsame Unbeholfenheit und Weitläufigkeit des Zeitungsstils, die Herr Wustmann mit Recht verspottet, beispielsweise wenn er sagt, das kleine lustige Gesindel der Präpositionen in, an, zu, aus, von, auf, mit, bei, vor, nach, durch usw. verschwinde immer mehr vor den schwerfälligen, schleppenden Ungetümern: behufs, betreffs, zwecks, seitens, vermittelst, hinsichtlich, rücksichtlich, anlässlich, inhaltlich, antwortlich, vorbehaltlich usw. Es ist nur zu wahr, dass man Zeit haben muss, wenn man kurz sein will. Der erste Ausdruck ist noch weniger der kürzeste als der beste. Aber in der kapitalistischen Presse muss in der wahnsinnigsten Eile gearbeitet werden; jede Minute, ja jede Sekunde ist ausgespart, damit das Morgen- oder Abendblatt keine Nachricht weniger und womöglich noch ein paar Nachrichten mehr hat als die Konkurrenzblätter. Was dabei aus Gedanken und Sprache wird, ist ganz gleichgültig. Der unglückliche Tintenkuli würde schön abgekanzelt werden, der eine im scheußlichsten Reporterstil einlaufende Nachricht über einen Mordanfall einen halben Tag zurückbehielte, um sie in erträgliches Deutsch umzugießen. Man hat sich oft gewundert, weshalb die „Freisinnige Zeitung" das schauderhafteste Deutsch unter den hiesigen kapitalistischen Blättern redet, da doch Herr Eugen Richter als Parlamentsredner noch über einen ziemlich leidlichen Stil gebietet. Je nun, die Sache ist sehr einfach: als Parlamentsredner steht er nicht unter dem Drucke der profitwütigen Konkurrenz, wie als Zeitungsbesitzer. Die „Freisinnige Zeitung" sucht ihren Konkurrentinnen den Wind dadurch abzufangen, dass sie ein paar Stunden früher in die Provinzen gelangt als die anderen Morgenblätter; diese paar Stunden müssen aber natürlich an der Redaktionszeit abgespart werden, und so wird denn mit fliegendem Besen alles zusammengescharrt, und das Zusammengescharrte wird mit so wilder Hast her gestottert, dass die Sprache in tausend Fetzen davonfliegt. Ähnlich liegt es mit der unwürdigen Misshandlung der Sprache auf literarischem Gebiete. Vor ein paar Jahren begann ein verrufenes Börsenblatt damit, sofort nach Schluss einer Theatervorstellung eine sogenannte Kritik hinzuwerfen und in den Druck zu geben, so dass der edle Jobber bereits beim Morgenkaffee schwarz auf weiß das Urteil vor sich fand, das er über das am Abend vorher von ihm gesehene Stück zu fällen hatte. Die gebildeten unter den kapitalistischen Theaterkritikern wussten recht wohl, dass damit das Signal zu einer schamlosen Entwürdigung ihrer Tätigkeit gegeben war, und vielleicht schlug auch diesem oder jenem Verleger das Gewissen, aber was half's? Heute folgen alle kapitalistischen Blätter dem Vorbilde jenes Börsenblatts; die Konkurrenz entscheidet und die Rücksicht auf den Profit; alles andere wird rücksichtslos in die Pfanne gehauen, Dichter und Schauspieler, Würde der Kritik und des Kritikers und am allerunbarmherzigsten das Aschenbrödel des kapitalistischen Zeitungswesens: die Sprache.

Das Schicksal der Sprache ist heute aber in den Händen der Zeitungen, nicht in den Händen der Schule. Von der Hinfälligkeit der Hoffnungen, die Herr Wustmann auf die Schulen setzt, sollte ihn schon ein Blick auf die Arbeiterpresse überführen. Gewiss mag auch die Sprache dieser Presse noch zu wünschen übriglassen, dank den elenden Leistungen unserer vielgepriesenen Volksschulen, aber in der Regel steht sie heute schon ebenso hoch über der Sprache der Kapitalistenpresse, als die Schulbildung der kapitalistischen Literaten in der Regel über der Schulbildung der Redakteure an den Arbeiterblättern steht. Von Ausnahmen auf beiden Seiten abgesehen, herrscht dort die Gymnasial- und Universitäts-, hier die Volksschulbildung vor. Und doch schreiben die Arbeiterblätter ein um so viel besseres Deutsch als die Kapitalistenzeitungen, denn sie wissen und sprechen ehrlich aus, was sie wollen, und sie leben nicht unter dem Druck des profitwütigen Konkurrenzkampfes. Die deutsche Sprache hat keine andere Zuflucht mehr als das deutsche Proletariat, und sie wird in demselben Maße genesen, in dem die proletarische Bewegung fortschreitet. Vom Kapitalismus hat sie nichts zu erwarten als wachsende Zerstörung. Solange er lebt, wird er fortfahren, sie zu zerrütten, und dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Kommentare