Franz Mehring 19011204 Christian Dietrich Grabbe

Franz Mehring: Christian Dietrich Grabbe

4. Dezember 1901

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 306-311. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 331-338]

Der junge Lessing spottete einmal in all seiner Weltfreudigkeit über das Thema von den „unglücklichen Dichtern", zur Zeit, wo er selbst nicht einmal einen Bratenrock besaß und für achtzehn Pfennig eine starke Mahlzeit tat. Er meinte, Dichter, die schon die Natur unglücklich gemacht habe wie die Blinden, gehörten eigentlich gar nicht darunter, weil sie unglücklich gewesen sein würden, wenn sie auch keine Dichter gewesen wären. Andere hätten ihre üblen Eigenschaften unglücklich gemacht, und auch diese seien nicht als unglückliche Dichter, sondern als Bösewichter oder wenigstens als Toren anzusehen. Die einzigen, die diesen Namen verdienten, seien diejenigen, die eine unschuldige Ausübung der Dichtkunst oder eine allzu eifrige Beschäftigung mit ihr, die uns gemeiniglich zu allen anderen Verrichtungen ungeschickt lasse, ihr Glück zu machen verhindert habe. Und in diesem Verstand sei die Zahl der unglücklichen Dichter sehr klein.

Gehört nun Christian Dietrich Grabbe, dessen hundertster Geburtstag auf den 11. Dezember dieses Jahres fällt, „in diesem Verstand" zu den „unglücklichen Dichtern"? Freiligrath hat die Frage mit der ganzen prächtigen Wucht seiner Verse bejaht; er sang seinem Landsmann Grabbe das Grablied:


Der Dichtung Flamm' ist allezeit ein Fluch


und weiter:


Durch die Mitwelt geht

Einsam mit flammender Stirne der Poet;

Das Mal der Dichtung ist ein Kainsstempel.


Andere haben dann wieder in Grabbe den Bösewicht oder wenigstens den Toren gesehen, der seine schönen Gaben als Trunkenbold vergeudet habe. Zwischen diesen beiden äußersten Endpunkten gibt es eine ganze Stufenleiter von Urteilen über das Maß der Schuld, das Grabbe selbst an seinem traurigen Schicksal gehabt hat, doch sind alle diese Urteile viel bezeichnender für die Urteiler selbst als für den Beurteilten. An halbwegs unbefangenen und unparteiischen Vorarbeiten für Grabbes Biographie fehlt es gänzlich. Die beiden sogenannten Biographen, die er gefunden hat, Duller und Ziegler, waren ihrer Aufgabe nicht entfernt gewachsen; dazu gehen sie in ihren tatsächlichen Angaben weit auseinander; während Duller die Mutter des Dichters anklagt als ein jähzorniges und rohes Weib, das den Knaben schon durch frühzeitiges Branntweintrinken zerstört habe, preist Ziegler die Mutter als eine gerade, rechtschaffene, für den Sohn zärtlich besorgte Frau und schildert wieder die Gattin des Dichters als eine habsüchtige und herzlose Megäre, die ihm ein frühes Grab bereitet habe. Es mag zweifelhaft sein, ob sich heute noch das nötige Material für eine Biographie Grabbes zusammenbringen lässt; hier sollen nur einige wenige Gesichtspunkte hervorgehoben werden, die in der ideologischen Literaturgeschichte zu gar keiner oder doch nicht zu der verdienten Geltung kommen.

Grabbe war in derselben deutschen Kleinstadt geboren, die dem deutschen Proletariat seine beiden größten Dichter geschenkt hat. Aber während Freiligraths Vater ein Lehrer, Weerths Vater ein Geistlicher war, bekleidete Grabbes Vater in Detmold die Stelle eines Zuchthausvogtes. „Ach, was soll aus einem Menschen werden, dessen erstes Gedächtnis das ist, einen alten Mörder in freier Luft spazieren geführt zu haben", hat Grabbe selbst einmal gesagt. Freiligrath kam früh nach Amsterdam, Weerth nach Manchester; in den Mittelpunkten des Weltverkehrs überwanden sie die schreckliche Gebundenheit des kleinstädtischen Philisterlebens. So gut sollte es Grabbe nicht haben. Mit dem Ehrgeiz des untergeordneten Beamten, der sich all sein Lebtag von seinen Vorgesetzten schurigeln lassen muss, wollte der alte Grabbe seinen Sohn studieren lassen, ihm eine Stellung verschaffen, wo er sich nicht mehr schurigeln zu lassen brauchte, sondern selbst schurigeln konnte. Aber das war für den Abkömmling des Zuchthausvogtes nicht ohne „Konnexionen" möglich, und es klingt wie ein verhaltener Fluch auf seine Kindheit, wenn Grabbe eine seiner dramatischen Gestalten in einem etwas erzwungenen Zusammenhang sagen lässt:


Konnexion! Ja,

Wenn das ist! Konnexion ist viel;

Verstand, Verbrechen, Recht sind gar nichts. Lieber

Verstand verlieren, als die Konnexion.


Linkisch, schüchtern, unbeholfen, dabei voll heimlichen Trotzes auf eine große Begabung, hat Grabbe das Detmolder Gymnasium durchlaufen und damals schon im Trunke die Demütigungen zu vergessen gesucht, die ihm die Tage der Jugend verbitterten. Seine Universitätsjahre, erst in Leipzig, dann in Berlin, brachten ihn keineswegs in freiere Verhältnisse. Eben waren die Karlsbader Beschlüsse ergangen1; gewaltsam wurde die akademische Jugend in das alte Rauf- und Saufleben zurückgeschleudert. Namentlich in Berlin suchte sich Grabbe durch eine forcierte Genialität zu retten, in einem Kreise begabter Jünglinge, die heute verschollen sind, bis auf einen, der den Weltruhm gewann, zu dem der arme Grabbe nie gelangen sollte. Sein Biograph Ziegler erzählt, Grabbe sei der Mittelpunkt der tollen Gesellschaft gewesen; „er ward angestaunt, wenn er sich in seinen Sonderbarkeiten gehenließ, unter anderem gleichgültig, die Hände in den Taschen seiner blauen Hosen, die Straße hinunterschlenderte und dann und wann, wie ein alter Hexenmeister, um einen Brunnen zwei- oder dreimal herumging, oder wenn er sich von seinen borstigen Haaren einige abschnitt und schwur, er wolle mit diesen Spießen 99 Poeten und Literaten totstechen." Man spielte eine neue Sturm- und Drangperiode, die der alten doch nur glich wie der Altweibersommer dem Frühling.

Der eine, der sich daraus zu unsterblichen Leistungen aufzuraffen wusste, hieß Heinrich Heine. Aber wie unendlich schwerer gestaltete sich der Aufstieg für den Dramatiker Grabbe als für den Lyriker Heine. War die deutsche Literatur in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf einen erschrecklichen Tiefstand gesunken, so in erster Reihe das Theater, das die Houwald und Müllner und Raupach2 beherrschten. Platen machte dem deutschen Publikum dieses Jahrzehnts noch ein zu schmeichelhaftes Kompliment, wenn er es ein Publikum nannte,


Das auf seinen Schaugerüsten einen Löwen hofft zu schauen,

Aber fast nur schäbige Kater schleichen sieht und hört miauen.


Dies Publikum war seiner schäbigen Kater durchaus würdig; hätte es die Sehnsucht nach einem Löwen besessen, so hätte es ihn an Grabbe gehabt. Er besaß die Anlagen des historischen Dramatikers in höherem Maße als irgendein deutscher Dramatiker sonst, in höherem Maße selbst als Schiller, geschweige denn, dass sich Hebbel in dieser Beziehung mit ihm messen könnte. Die ideologischen Literarhistoriker sperren Grabbe und Hebbel gewöhnlich als „originelle Kunstdramatiker" zusammen; es ist eine Redensart wie andere auch, denn ihrer Begabung und ihren Schicksalen nach waren beide Dichter durchaus verschieden. Sie eingehend zu vergleichen ist hier nicht der Ort; genug, dass Hebbels größter Mangel immer Grabbes größter Vorzug gewesen ist, das freie und kräftige Ausschreiten auf dem Felde der Geschichte.

Nur die erste Tragödie Grabbes, „Herzog Theodor von Gothland", zeigt diesen historischen Sinn noch nicht. „Wer würfelte aus Löwenzähnen und aus Eselsohren ihn zusammen?" heißt ein Vers dieses Dramas, den man zu seinem Motto machen könnte. Es ist ganz zutreffend, wenn ein bürgerlicher Historiker von Grabbes dramatischem Erstling sagt: „Die Fabel ist aberwitzig, die Motivierung kindisch, die Handlung ein Opiumrauschtraum, der Held nur ein tragischer Kasperle, der alles kurz und klein haut, man weiß nicht, warum und wozu", und man muss dagegen protestieren, wenn nachsichtigere Kritiker den „Herzog von Gothland" mit Schillers „Räubern" verglichen haben. Dazu fehlt dem Drama Grabbes gerade das, was uns heute noch an den „Räubern" packt, der kräftige, revolutionäre Trotz, der sich in tyrannos! aufbäumt und der durch die Häufung unbeschreiblicher Grässlichkeiten nicht ersetzt werden kann. „Zuweilen eine Reihe fürchterlicher und hässlicher Gedanken, wie ein Zug Galeerensklaven, jeder gebrandmarkt – der Dichter führt sie an der Kette in das Bagno der Poesie", so Heine über den „Gothland". Aber geniale Geistesfunken blitzen in den wilden Gräueln doch zahlreich genug auf, so dass selbst Tieck, der Altmeister der absterbenden Romantik, dem Grabbe das Werk eingesandt hatte, dem jungen Dichter zurückschrieb, es habe ihn angezogen, sehr interessiert, abgestoßen, erschreckt und seine große Teilnahme für den Autor gewonnen.

Zu Tieck, der damals als Dramaturg in Dresden lebte, nahm Grabbe denn auch seine Zuflucht. Aber ein dauerndes Einvernehmen zwischen den beiden Poeten war ausgeschlossen, dazu gingen sie in allem und jedem zu weit auseinander; schon Tiecks hofrätliche Würde, seine olympische Stellung in dem glatten, geschniegelten Dresden konnte den Kneipengeruch nicht ertragen, der all sein Lebtag an Grabbe haftete. Doch stellte auch dieser Anforderungen an seinen Protektor, denen schwer zu genügen war. Er wollte durchaus Schauspieler werden, wogegen schon seine Gestalt protestierte: ein mächtiger Kopf auf frauenzimmerlich abfallenden Schultern, eine hohe majestätische Zeusstirn mit blitzenden Augen, darunter eine abschreckende Trinkernase, ein unschön geschnittener Mund, dessen obere Lippe über die untere herabhing, und ein zurückfliehendes Kinn: „So wohl in dieses mächt'gen Schädels Raum, Du jäh Verstummter, wie ein wüster Traum, Hat sich Befeindetes bestritten“, sang Freiligrath dem Toten nach.

Vor der Rückkehr in seine kleinstädtische Heimat hatte Grabbe ein instinktartiges Grauen. Als die Hoffnungen, die er auf Tieck gesetzt hatte, zusammenbrachen, schrieb er noch an den Kronprinzen von Preußen und bat um eine Anstellung als Schauspieler; die Leute sagten, er wäre ein Genie; was daran sei, wisse er nicht, aber eines habe er mit dem Genie gemein, nämlich den Hunger; er habe nicht einmal Geld, um eine Feder zu kaufen, und müsse diesen Brief mit einem Spane schreiben, weshalb der Kronprinz die schlechte Handschrift entschuldigen möge. Eine Antwort auf das burleske Schreiben erhielt Grabbe nicht, und so musste er nach Detmold zurück. Er bestand mit gutem Erfolg die juristische „Staatsprüfung", die zur „Staatskarriere" in diesem Zwergstaat erforderlich war, und einen Augenblick schien ihm die Sonne des Glückes zu lächeln, als ihn der Archivrat Klostermeier, der schon seiner Jugend wie auch der Jugend Freiligraths ein fördernder Beschützer gewesen war, zu seinem Gehilfen begehrte. Gab es überhaupt eine Stelle in der Bürokratie, die für Grabbe geeignet war und die er leidlich hätte ausfüllen können, so war es diese. Aber ein anderer junger Jurist wurde ihm vom Fürsten des Ländchens vorgezogen, nicht aus böser Absicht, sondern weil in solchen Liliputländchen alles verkehrt geschehen muss. Grabbe wurde vielmehr, unter Abweisung anderer Bewerber, zum Auditeur des Lippeschen Kriegsheers ernannt, das heißt einer Kompagnie oder im günstigsten Falle eines Bataillons, und in dieser lächerlichen Stellung hat er denn seine Neigung zu wunderlichen Kneipscherzen gründlich ausgetobt.

Daneben aber schuf er eine Reihe von Dramen, in denen der ungewöhnliche Reichtum seiner dichterischen Begabung ungleich klarer und reiner hervortrat als im „Gothland". Zuerst im Sommer von 1828 die Tragödie „Don Juan und Faust", dann im Jahre 1829 die beiden Hohenstaufentragödien „Friedrich Barbarossa" und „Heinrich der Sechste", endlich im Jahre 1830 „Napoleon und die hundert Tage". In der zeitlichen Reihenfolge macht sich auch eine künstlerische Steigerung bemerkbar; wir vermögen nicht dem Urteil derer zuzustimmen, die im „Don Juan und Faust" das vollendete Drama Grabbes sehen. Es ist vielmehr nur sein bühnenmöglichstes; die Vermischung der beiden Sagenkreise behält immer etwas Gezwungenes und Unnatürliches; was bleibt vom Faust übrig, wenn er zum Nebenbuhler Don Juans in der Gunst der Donna Anna degradiert wird? Nichts als das Spiel mit einem Schatten, nichts als eine hölzerne Puppe, der ein Zettel mit tiefsinnigen Sentenzen aus dem Munde hängt oder doch mit Sentenzen, die tiefsinnig sein sollen. Heißes Leben atmen nur die Don-Juan-Szenen des Dramas, wenn auch sie freilich durch den gleichzeitigen „Don Juan" Byrons verdunkelt werden. An Weltgedichte wie Goethes Tragödie oder des englischen Lords genial-humoristisches Epos konnte dieser deutsche Dichter niemals heranwachsen.

Umso glücklicher rivalisierte er in seinen beiden Hohenstaufentragödien mit Shakespeares englischen Königsdramen. Schon in seiner Universitätszeit hatte Grabbe einen Aufsatz über die Shakespeareomanie geschrieben, der, gegen die Übertreibungen des romantischen Shakespearekultus gerichtet, den Eifer und Ernst bezeugt, womit er den Gesetzen seiner Kunst nachspürte. Er sagt darin über Shakespeares historische Dramen: „Es ist wahr, dass alle seine Vorzüge in ihnen strahlen und dass da, wo er eigentümlich ist, kaum Goethe (zum Beispiel im ,Egmont'), noch weniger Schiller mit ihm wetteifern kann. Aber vom Poeten verlange ich, sobald er Historie dramatisch darstellt, auch eine dramatische, konzentrische und dabei die Idee der Geschichte wiedergebende Behandlung. Hiernach strebte Schiller, und der gesunde deutsche Sinn leitete ihn, keines seiner historischen Schauspiele ist ohne dramatischen Mittelpunkt und ohne eine konzentrische Idee. Sei nun Shakespeare objektiver als Schiller, so sind doch seine historischen Dramen weiter nichts als poetisch verzierte Chroniken. Kein Mittelpunkt, kein politisches Endziel lässt sich in der Mehrzahl derselben erblicken." Es ist nun zwar unbestreitbar, dass Grabbe in seinen Hohenstaufentragödien nicht alles vermieden hat, was er an Shakespeares Königsdramen tadelt, weder das „Streben nach Bizarrem" noch „das Schweben in Extremen", noch die „hinkende Prosa der Verse", aber über den Rang „poetisch verzierter Chroniken" hat er sie hoch emporgehoben, und sie überragen weitaus alles, was vor wie nach Grabbe in dieser Art national-historischer Dramatik geleistet worden ist. Es liegt in erster Reihe an dem Widerstreben des künstlerisch unbezwingbaren Stoffes, wenn diese Dramen nicht zu klassischen Kunstwerken geworden sind; der mächtig anschwellende und fortreißende Strom der Handlung wird in einem Augenblick vom Sande verschluckt, wenn in „Heinrich der Sechste" der Held, eine Tyrannengestalt von unheimlicher Größe, plötzlich vom Schlaflos getroffen dahinsinkt. Aber in vielen einzelnen Szenen legen diese Tragödien glänzendes Zeugnis ab für Grabbes unvergleichliche Fähigkeit, historische Massen in dramatische Aktion zu setzen.

Am glänzendsten jedoch entfaltet sich diese Fähigkeit in dem Drama „Napoleon". In ihm steht Grabbe auf dem Höhepunkt seines dichterischen Schaffens, auf einem Höhepunkt, der sich freilich schon wieder zum Abgrund neigt. Denn Grabbe verzichtet in diesem Drama auf jede Möglichkeit szenischer Aufführung; in den letzten Akten treten ganze Bataillone, Schwadronen, Batterien des deutschen, englischen und französischen Heeres auf die Bühne. Nimmt man jedoch die dialogisierte Historie als eine Kunstform mit in den Kauf, dann kann man nur die aufrichtigste Bewunderung empfinden vor der dämonischen Sehergabe, womit der Dichter das historische Leben der hundert Tage in einer Fülle charakteristischer Gestalten heraufzubeschwören gewusst hat. Die Bewunderung steigt umso höher, wenn man erwägt, wie frisch und wie verzerrt von der Parteien Gunst und Hass die Erinnerung an diese Zeit damals noch war. Heute, wo wir durch eine Unzahl von Geschichtswerken darüber in allen Einzelheiten unterrichtet sind, liest man Grabbes Drama mit seiner wundervollen Plastik, als sähe man eine tote Welt wieder zu greifbarem Leben erwachen; die ästhetische Täuschung ist hier zu einer Vollendung gebracht, die in der künstlerischen Bewältigung historischer Massenbewegungen immer zu den Seltenheiten gehören wird. In der dichterischen Napoleonliteratur behauptet Grabbes Drama den ersten Platz, wovon wir selbst Manzonis „Fünften Mai" nicht ausnehmen möchten.

In demselben Jahre, wo Grabbe dies Drama schrieb, brach in demselben Paris, dessen Volksbewegungen er so intim verstand wie kein anderer deutscher Dichter, die Julirevolution aus. Sie riss die deutsche Literatur aus der trüben Stagnation der zwanziger Jahre, sie gab der Dichtung eines Heine und Platen einen erhöhten Schwung, sie rief das Junge Deutschland hervor, aber merkwürdig! an Grabbe ist sie spurlos vorübergegangen. Wohl besaß er ein starkes Maß der nationalen Gesinnung, ohne die kein nationaler Dramatiker denkbar ist, aber sie äußerte sich nicht in revolutionärer Kraft, nicht einmal in den grandios-grotesken Hyperbeln, die ihm sonst nur allzu geläufig waren, sondern vielmehr in einer elegischen Stimmung, so spärlich ihm sonst die lyrische Ader floss:


O, kein Donner an

Dem Himmel und kein Laut auf Erden, quöll'

Er auch von schönster, süßester Lippe, gleicht

An Macht dem Worte: Vaterland!


Von dem Hasse gegen den Despotismus, der dies Vaterland schändete und zertrat, keine Spur. So hat denn auch der gallische Hahn, der im Jahre 1830 so munter krähte, kein Echo in Grabbes Brust erweckt. Wir sehen hierin das eigentlich tragische Problem seines verfehlten Lebens, von dem freilich seine Biographen nichts ahnen, so dass die Möglichkeit seiner psychologischen Gliederung vollkommen fehlt. Wir können nur annehmen, dass die elenden Umstände, unter denen Grabbe sein Dasein hinzuschleppen gezwungen war, jede revolutionäre Schwungkraft in ihm getötet haben.

Von nun an ging es schnell bergab mit ihm. Wieder bewährte die Kleinstädterei gerade da ihren schlimmsten Fluch, wo sie sich am freundlichsten zeigen wollte: Die wohlwollende Gönnerschaft Klostermeiers veranlasste den Dichter, um die Tochter des Archivrats zu werben. Sie wies erst hochmütig den Sohn des Zuchthausvogtes als ihrer Honoratiorenstellung nicht würdig ab, aber erhörte ihn schließlich, als sich kein anderer Bewerber fand, sie vor der Altjungfernschaft zu bewahren. Die Ehe erwies sich der Auspizien würdig, unter denen sie geschlossen war. Das häusliche Elend trieb Grabbe nun rettungslos in die Kneipe; er verlor dann auch sein Amt, da er es gar zu arg mit seinen Eulenspiegeleien trieb, so nachsichtig sonst die Regierung der Weltmacht Lippe, in ihrem Stolze auf „unser Genie", gegen ihn war; endlich machte er sich auf eine letzte Irrfahrt, erst nach Frankfurt a. M., dann nach Düsseldorf, an die Musterbühne, die Immermann in der kleinen rheinischen Stadt eingerichtet hatte.

Immermann war kein romantischer Greis, der vom delphischen Stuhle seine Orakel austeilte, aber in seiner philiströs-soliden und preußisch-strammen Weise so wenig zum Protektor Grabbes geschaffen wie Tieck. Man hat ihm wohl mit Recht zum Vorwurf gemacht, dass er nicht einmal versucht hat, auf seiner vielfach experimentierenden Musterbühne eines von Grabbes Dramen darzustellen, doch Grabbe selbst verzichtete, wie seine Stücke aus dieser letzten Zeit zeigen, mehr und mehr auf die Erfüllung der dramatisch-künstlerischen Notwendigkeiten. Sein „Hannibal" und seine „Hermannsschlacht" sind dialogisierte Historien, wie schon der „Napoleon" war, aber noch abgebrochener und skizzenhafter hingeworfen, wenn sie auch immer noch reich genug an großen historischen Blicken und markiger Psychologie sind. Bald war das unheilbare Zerwürfnis mit Immermann da. Nun dachte Grabbe erst an einen Sprung an den Rhein, dann ließ er sich doch noch von einem Freunde das Reisegeld zur Rückkehr nach Detmold schicken, in der sicheren Erwartung seines baldigen Todes, der dann auch am 12. September 1836 eintrat.

So ist ihm der Dichtung Flamme zum Fluche geworden, dank den unsinnigen Zuständen, in die er vom Tage seiner Geburt an gebannt war. Sein Leben und Sterben ist ein erschütternder Protest gegen die armselige Philisterweisheit, dass sich das Genie in dieser besten der Welten immer durchzuringen wisse.

1 Karlsbader Beschlüsse – auf Betreiben Metternichs von einer Konferenz deutscher Minister 1819 beschlossene und vom Deutschen Bundestag bestätigte Maßnahmen, die bis 1848 zur Unterdrückung revolutionärer Bestrebungen, nationaler und demokratischer Bewegungen dienten und eine strenge Pressezensur und die Beaufsichtigung der Universitäten einleiteten.

2 Müllner und Houwald – Hauptvertreter der Schicksals- und Schauerdramatik. Raupach – Verfasser von reaktionären Sensations- und Rührstücken, schrieb 117 Dramen.

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