Franz Mehring 18960326 Das böse Gewissen

Franz Mehring: Das böse Gewissen

25. März 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 598-602]

Durch die Zeitungen läuft eine Verfügung der Regierung in Magdeburg, worin die Volksschulen bedeutet werden, Freiligraths Gedicht „Aus dem schlesischen Gebirge" sei als wenig geeignet nicht mehr zu erlernen und zu behandeln, sondern durch ein anderes zu ersetzen. Es ist das bekannte ergreifende Gedicht vom Rübezahl, den der hungernde Weberknabe anruft, die Leinwand zu kaufen, die der fleißige Vater gewebt hat, ohne einen Käufer zu finden. Seit fünfzig Jahren hat das Gedicht seinen Platz in den Volksschulen behauptet, einen bescheidenen Platz immerhin neben den Kern- und Kirchenliedern, die pädagogisch und poetisch zum großen Teil nicht einen Schuss Pulver wert sind, aber doch einen Platz, der nicht sowohl das Gedicht als die Schule ehrt. Es ist echte Poesie, frei von aller Rhetorik, die den gleichzeitigen Gedichten Freiligraths nicht immer fremd ist: aus der Tiefe des menschlichen Lebens geschöpft, einfach und schlicht vorgetragen, wie geschaffen für die erzieherischen Zwecke der Volksschule.

Trotzdem ist leicht zu erkennen, was der hochwohllöblichen Regierung in Magdeburg an dem Gedicht missfällt. Ein fleißiger Arbeiter, der gleichwohl verhungern kann, gehört nicht in das Programm der Seligkeit, welche die weise Obrigkeit aus überquellendem Füllhorn über das deutsche Volk verbreitet. Dieser Arbeiter ist zweifellos da, zu Hunderten, zu Tausenden, zu vielen Hunderttausenden da, aber er sollte nicht da sein, und weil er sich aus der Wirklichkeit nicht dekretieren lässt, so muss er wenigstens vom Papiere verschwinden. Die Regierung in Magdeburg glaubt, wenn sie den Schatten verdecke, so verschwinde auch der Körper, der den Schatten wirft. Möglich, dass dieser Glaube sie selig macht und ihr die ganze Welt in rosenfarbenem Schimmer zeigt. Wird das düster grollende Lied vom Rübezahl „durch ein anderes ersetzt", etwa durch den erquickenden Kirchengesang: „Wie groß ist des Allmächt'gen Güte, wo ist ein Mensch, dem sie nicht lacht!", dann werden die Kinder der Armen auf sanftem Pfade ins Leben geleitet, und sie sehen alles durch die himmelblaue Brille eines festen Gottvertrauens an. So denkt eine weise Obrigkeit, und wir werden uns hüten, darüber zu spotten.

Das überlassen wir gern der bürgerlichen Kritik, die allerdings manches an der Verfügung der Magdeburger Regierung auszusetzen hat. Ihr wird allmählich bange bei der fortschreitenden Ächtung aller wirklichen Poesie durch die hohe Behörde. Es gibt noch diesen oder jenen Bourgeois, der daran zweifelt, ob die deutsche Dichtung mit Wildenbruchs dröhnenden Jamben wirklich den gipfelnden Höhepunkt erreicht habe, der ihr gestatte, alle früheren Poeten nach dem geschmackvollen Ausdrucke des Kriegsministers als „Schmierfinken" abzutun. Traurig, aber wahr, dass in der bürgerlichen Gesellschaft nicht überall jener berechtigte neudeutsche Patriotenstolz verbreitet ist, der im Jahre 1871 einem Leipziger Philister bei irgendeinem Festschmause die begeisterten Worte einflößte: Nun soll mal einer kommen und uns das „Volk der Denker und Dichter" schimpfen. Nie hat eine Kassandra richtiger prophezeit, und wer seit fünfundzwanzig Jahren die herrschenden Klassen in Deutschland so geschimpft hat, der hat ihnen einen unverzeihlichen Tort angetan. Trotzdem gibt es einige Nörgler, die mit diesem herrlichen Zustande der Dinge unzufrieden sind und allerlei daran auszusetzen haben, dass die Regierung in Magdeburg das schöne Gedicht Freiligraths auf den Index gesetzt hat.

Was uns anbetrifft, so gehören wir nicht zu ihnen. Uns bereiten derartige Verfügungen stets die größte Genugtuung. Der Krieg, den die Regierung gegen unsere klassischen Dichter führt, fügt ihnen kein Leid zu. Er prägt den Massen nachdrücklich ein, was sie an diesen Dichtern besitzen. Wenn die Regierung Freiligraths Gedicht aus der Volksschule verbannt, so drängt sie es um so tiefer in das Herz des Proletariats, wo es ehrenvoller und sicherer aufbewahrt ist als unter dem Protektorat der Schulräte. Solche Verfügungen beweisen, dass die Regierung nichts gemein hat mit dem Denken und Fühlen der Massen; verbreitern die Kluft zwischen den unterdrückenden und unterdrückten Klassen, und was kann der Arbeiterklasse Besseres passieren, als dass bei dieser Scheidung des nationalen Erbes auf ihr Teil alles fällt, was bisher die Ehre und den Stolz des deutschen Namens ausgemacht hat. Die Gedichte des „Schmierfinken" Freiligrath werden Menschenherzen noch ergreifen in jener glücklichen und auch nicht mehr fernen Zukunft, wo eine gesittetere Menschheit auf den alten Fritz etwa wie auf einen komischen Nussknacker zurückblicken wird. Je mehr echte Dichter von der hohen Obrigkeit geächtet werden, um so besser! Die Arbeiterklasse ist dann der Mühe überhoben, erst einen weitläufigen Beweis zu führen für ihre alte und wahre Behauptung, dass sie die Vertreterin der Bildung und Kultur sei und die „modernen Barbaren" ganz woanders hausen als in ihrem Schoße.

Eine noch weit erfreulichere Erscheinung an dem von der Magdeburger Regierung erlassenen Verbote ist das böse Gewissen, das daraus hervor lugt. Die armen Weber, die vor fünfzig Jahren in den schlesischen Bergen starben und verdarben, waren sehr ungelehrte Leute, deren keiner jemals etwas gehört hatte von dem Exoriare aliquis des römischen Dichters. Aber aus ihren längst versunkenen Gräbern erhebt sich der Rächer, ein drohendes Gespenst, vor dem das mächtige Deutsche Reich, gewaffnet bis an die Zähne, wie es ist, im Innersten erbebt. Wo der Schatten auftaucht, fährt es zu mit den Spießen und Stangen der Polizei. Zuerst wurde vor einigen Jahren der Abdruck von Heines „Weberlied" auf irgendeinen Kautschukparagraphen des Strafgesetzbuches hin als Verbrechen konstruiert. Und dies Lied war wenigstens sehr frech; sein dreifacher Fluch auf den Götzen im Himmel, auf den König der Reichen, auf das falsche Vaterland konnte die Herzen von Polizeileutnants und Staatsanwälten im tiefsten Innern empören. Dann kam Hauptmanns Schauspiel und entfesselte eine Haupt-und Staatsaktion, als stünde das Vaterland schon in lichterlohen Flammen.1 Immerhin schildert diese Dichtung den Aufstand mit packender Naturwahrheit. Nun aber wird auch schon Freiligraths „Rübezahl" verfemt, er soll nicht mehr in den Schulen gelesen werden, weil – ja weil!

Das Gedicht ist im März 1844 verfasst, also einige Monate vor dem Hungeraufstande in Peterswaldau und Langenbielau. Keine Silbe darin deutet an, dass die leidenden Weber jemals daran denken konnten, sich selbst zu helfen. Es will nichts als Mitleid erwecken mit den Armen und Elenden, deren unverschuldete Not es eindringlich schildert, eindringlich, aber keineswegs mit zu grellen, eher mit zu schwachen Farben. Die Zustände der Weber spiegeln sich in dem Gedichte nicht entfernt so grausig wider, wie sie nach den urkundlichen Zeugnissen in der Wirklichkeit waren. Freiligrath verfasste das Gedicht in den Tagen, als der herzzerreißende Hungerschrei aus dem schlesischen Gebirge über ganz Deutschland klang, vielleicht wollte er die milden Sammlungen für die Weber fördern, und gewiss sind sie von ihm gefördert worden! Eher als an den Aufstand der Weber erinnert das Gedicht daran, dass die herrschenden Klassen damals einiges von ihrem Überflusse geopfert haben, um die schauerlichen Konsequenzen ihrer herrlichen Gesellschaftsordnung zu mildern. Und trotzdem wird es geächtet! In der Tat aber ist es die Art des bösen Gewissens, sich selbst immer zu steigern. Je vergeblicher es mit dem Bewusstsein seiner Untaten ringt, um so empfindlicher wird es gegen den leisesten Luftzug, der es daran mahnt; je krampfhafter es sich gegen die Gespenster absperrt, die es bedrohen, um so ängstlicher wird es gegen jeden Lichtstrahl. Es schlägt um so wütender um sich, je sicherer es weiß, dass ihm keine, keine Rettung mehr blüht.

Dies ist der große Unterschied zwischen dem Untergang der bürgerlichen und dem Untergang der feudalen Welt. Eine so kindische Angst vor dem Geiste, vor dem leisen Wehen der Gedanken wie heute die bürgerliche, hat die feudale Welt vor hundert Jahren nicht gehabt. Wir wollen gar nicht einmal von Frankreich sprechen, dessen Aristokratie die Guillotine, unter deren Messer ihr schuldiges Haupt fallen sollte, mit Blumen bekränzte. Aber selbst in Deutschland, dessen Aristokratie unendlich viel eingebildeter, verkommener und verlotterter war, dessen Zwergdespotismus auf noch viel tönerneren Füßen ruhte! Was sind Hauptmanns „Weber", gemessen an dem Maßstabe revolutionärer Auflehnung gegen die bestehenden Zustände, im Vergleich mit Lessings „Emilia Galotti" und Schillers „Kabale und Liebe"! Diese Dramen läuteten Sturm gegen den Despotismus der Fürsten, auf deren Bühnen sie aufgeführt wurden. Aber keine Zensur kürzte ihren revolutionären Flügelschlag. Der gute Marquis Posa wusste nicht, was er tat, als er nach der bürgerlichen Gedankenfreiheit verlangte; sie erst hat jene Ruhe des Friedhofs geschaffen, die er so pathetisch schilderte. Wollte ein dramatischer Dichter die Untugenden der heutigen Fürsten so drastisch schildern, wie Lessing und Schiller in ihren Dramen die Untugenden der damaligen Fürsten geschildert haben, er würde begraben werden unter einem Steinregen der sittlichen Entrüstung, und nicht nur von den Fürsten und ihren Dienern, sondern auch von dem ganzen Tross der bürgerlichen Gedankenfreiheit.

Der Unterschied erklärt sich daraus, dass die herrschenden Klassen der feudalen Gesellschaft noch den Glauben hatten und auch haben durften. Die Umwandlung des feudalen in bürgerliches Eigentum war ein ungemein langwieriger und schwieriger Prozess, der sehr viele Köpfe kostete und sehr viele Herrlichkeiten zertrümmerte, aber die gemeinsame Grundlage des feudalen und bürgerlichen Eigentums, das Privateigentum, nicht erschütterte. Im Gegenteil: das Privateigentum trat durch diesen Prozess erst in seine höchste und reinste Form,; es handelte sich um eine aufwärts-und vorwärtsschreitende Bewegung der besitzenden Klassen, um eine Bewegung, die als solche begeisternd auf diese Klasse wirkte, in gewissem Sinne begeisternd auch noch auf diejenigen ihrer Angehörigen, welche ihr persönlich zum Opfer fielen. Ein Funke von elterlicher Liebe lebte in dem Zorne des feudalen auf das bürgerliche Eigentum: dieser nichtsnutzige, ungebärdige Range verleugnete schließlich die Rasse nicht, um wie viel größer, klüger und kräftiger war er als sein Erzeuger!

Ganz anders der Erbe des bürgerlichen Eigentums, der völlig aus der Art schlägt. Das bürgerliche Eigentum weiß, dass es zwar die höchste und reinste, aber auch die letzte Form des Privateigentums ist. Mit ihm stirbt die Rasse aus, und eine Klasse, die für immer vom Erdboden verschwinden muss, ist von viel grauenhafterer Angst geplagt als eine Klasse, die sich, sei es auch durch schwere Krisen hindurch, nur in eine andere und höhere Form des Daseins ringt. Deshalb ist der Bourgeois am Ende des neunzehnten Jahrhunderts so ganz frei von dem halbwegs ritterlichen Anstande, mit dem der Aristokrat am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu sterben verstand. In haltloser und kleinlicher Angst sucht er alles auszurotten, was ihn an seinen Tod erinnern könnte, und mit besonderer Wollust zerschmeißt er die Kreuze des Friedhofs, auf dem seine Opfer ruhen.

Solch ein Kreuz ist Freiligraths Gedicht von Rübezahl, das dem patriotischen Unwillen einer königlich preußischen Regierung zum Opfer gefallen ist Je kleiner die Objekte werden, nach denen das böse Gewissen zielt, um so unzweideutiger ist der Beweis, dass die herrschenden Klassen den Glauben an sich selbst verloren haben. Und diesen Glauben können ihnen keine Kleinkalibrigen, keine Kanonen, keine Panzerschiffe ersetzen.

1 Siehe die Artikel über Gerhart Hauptmanns „Weber" im Band 11 der „Gesammelten Schriften".

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