Franz Mehring 18930900 Ein Dichter des Proletariats1

Franz Mehring: Ein Dichter des Proletariats1

September 1893

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 1, S. 8-10. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 608 f.]

Gemeiniglich gilt Ferdinand Freiligrath als der – nach Bedeutung und Zeit – erste Dichter des deutschen Proletariats; kein Geringerer indes als Friedrich Engels macht ihm diese Stelle streitig zugunsten eines engeren Landsmannes von Freiligrath, zugunsten von Georg Weerth. Er wird hoffentlich nicht immer so vergessen bleiben, wie er heute ist, und einstweilen mag hier auf beschränktem Raum sein Andenken ein wenig auf gefrischt werden.

Wie Freiligrath war Georg Weerth in Detmold geboren, und wie Freiligrath widmete er sich dem kaufmännischen Berufe. Als Kommis seiner deutschen Firma kam Weerth 1843 nach Bradford, wo er mit Engels bekannt und befreundet wurde. Als Marx und Engels dann 1845 in Brüssel wohnten, übernahm Weerth die kontinentale Agentur seines Handlungshauses und richtete es so ein, dass er sein Hauptquartier ebenfalls in Brüssel nehmen konnte. Nach der Märzrevolution von 1848 finden sich alle drei in Köln in der Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung" zusammen. Weerth übernahm das Feuilleton, und vielleicht hat nie eine deutsche Zeitung ein gleich glänzendes und lustiges Feuilleton gehabt. Eine Hauptarbeit Weerths war: „Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski"; sie schilderte die Abenteuer des von Heine im „Atta Troll" so benamsten Fürsten Lichnowsky. Diese Schnapphahnski-Feuilletons sind 1849 bei Hoffmann und Campe in Hamburg auch als Buch gesammelt erschienen und noch heute äußerst erheiternd zu lesen. Da aber Lichnowsky bekanntlich im September 1848 gelegentlich der Frankfurter Straßenkämpfe getötet worden war, so richtete die deutsche Reichsverweserschaft eine Anklage gegen Weerth wegen Beleidigung des toten Lichnowsky, und Weerth, der längst in England war, bekam drei Monate Gefängnis, lange nachdem die Reaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung" ein Ende gemacht hatte. Diese drei Monate hat er denn auch richtig abgesessen, weil seine Geschäfte ihn nötigten, Deutschland von Zeit zu Zeit zu besuchen.

Im Anfange der fünfziger Jahre reiste Weerth im Interesse einer Bradforder Firma nach Spanien, dann nach Westindien und über fast ganz Südamerika. Nach einem kurzen Besuch in Europa kehrte er nach seinem geliebten Westindien zurück. Dort wollte er sich das Vergnügen nicht versagen, das wirkliche Original des Louis Napoleon, den Negerkönig Soulouque auf Haiti, einmal anzusehen. Aber er bekam Schwierigkeiten mit den Quarantäne-Behörden, musste seinen Plan aufgeben und sammelte auf der Tour die Keime zu dem gelben Fieber, das er mit nach Havanna brachte. Er legte sich nieder, eine Gehirnentzündung trat hinzu, und am 30. Juli 1856 starb Georg Weerth in Havanna.

Engels nennt Weerth, wie gesagt, den ersten und bedeutendsten Dichter des Proletariats. In der Tat sind seine sozialistischen und politischen Gedichte denen Freiligraths an Originalität, Witz und namentlich an sinnlichem Feuer weit überlegen. Weerth wandte oft Heinesche Formen an, aber nur, um sie mit einem ganz originellen, selbständigen Inhalt zu erfüllen. Dabei unterschied er sich von den meisten Poeten dadurch, dass ihm seine Gedichte, einmal hingeschrieben, völlig gleichgültig waren. Worin Weerth Meister war, worin er Heine übertraf, weil er gesunder und unverfälschter war, und worin er nur von Goethe übertroffen wurde, das war der Ausdruck natürlicher, robuster Sinnlichkeit und Fleischeslust. Es muss doch einmal der Augenblick kommen, wo das letzte deutsche Philistervorurteil, die verlogene, spießbürgerliche Moralprüderie, die ohnehin nur als Deckmantel für verstohlene Zotenreißerei dient, offen über Bord geworfen wird. Wir können Engels nur darin beistimmen, wenn er es an der Zeit findet, dass wenigstens die deutschen Arbeiter sich gewöhnen, von Dingen, die sie täglich oder nächtlich selbst treiben, von natürlichen, unentbehrlichen und äußerst vergnüglichen Dingen, ebenso unbefangen zu sprechen wie die romanischen Völker, wie Homer und Plato, wie Horaz und Juvenal, wie das Alte Testament und die „Neue Rheinische Zeitung".2

Übrigens – und selbstverständlich – hat Weerth auch durchaus unanstößige Verse geschrieben, so die „Lieder aus Lancashire". […]

1 Siehe auch „,Kaiser Karl' von Georg Weerth“ (7. 2. 1908).

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