Franz Mehring 19060808 Eine Seeschlange

Franz Mehring: Eine Seeschlange

8. August 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 649-653. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 488-492]

In dieser stillen Sommerszeit wälzt sich wieder einmal die Seeschlange des Heine-Denkmals durch die Spalten der bürgerlichen Presse. Kürzlich veröffentlichten reaktionäre Blätter lange Auszüge aus einem Buche des Literarhistorikers Adolf Bartels, durch das bewiesen werden soll, Heine sei ein Lump und übrigens ein sehr mittelmäßiger Dichter, und sie verkündeten begeistert, dass dieser Beweis nun ein für allemal gelungen sei. Durch besonderen Eifer tat sich darin das Organ des weiland Hofpredigers Stoecker hervor, und wir wollen ihm seine Legitimation in diesem Falle auch in keiner Weise bestreiten. Sicherlich ist die Schrift des Herrn Bartels das gemeinste und unsauberste Pamphlet, das die bürgerliche Literarhistorie je verunziert hat.

Um jedoch von vornherein gerecht zu sein und einen unbefangenen Standpunkt zu gewinnen, wollen wir nicht verhehlen, dass uns die philosemitische Krebserei für Heine genau so antipathisch ist wie die antisemitische Krebserei gegen Heine. Es ist nicht das Unsterbliche an Heine, was Blätter wie das „Berliner Tageblatt" oder das „Kleine Journal" an ihm bewundern. Allein, auch wenn namhafte Dichter und Künstler, wie Max Klinger, Gerhart Hauptmann, Detlev v. Liliencron, sich für ein Heine-Denkmal ins Zeug legen, so sehen wir darin, ehrlich gestanden, auch nur eine große Krähwinkelei. Man ehrt den Genius Heines am aufrichtigsten, wenn man ihn nicht einmal in den entferntesten Zusammenhang mit der ebenso byzantinischen wie geschmacklosen Denkmalspest bringt, die augenblicklich durch Deutschland rast. Und es gibt doch kein ehrenvolleres und stärkeres Zeugnis für die immer noch andauernde, geschmack- und kulturfördernde Wirkung des Heineschen Genius, als dass alle Philister und Reaktionäre des Reiches mit Händen und Füßen um sich schlagen, sobald sie den Namen des genialen Dichters hören.

Einen Gipfelpunkt dieser Raserei bildet das Buch des Herrn Bartels.1 Wir haben uns die Überwindung auferlegt, den dicken Schmarren – er zählt nicht weniger als 375 Seiten – von A bis Z durchzulesen, und dabei immer den Eindruck gehabt, einen Tobsüchtigen gegen die Wände seiner Zelle rennen zu sehen. Bartels beginnt mit der Entdeckung, dass Heine außer seinem Vornamen Harry auch den zweiten Chajjim geführt habe, und fährt dann fort: „Ich denke mir, Chajjim ist der jüdische Hauptname und Harry der deutsche Deckname dafür. Chajjim heißt Heine nach seinem Großvater väterlicherseits, dem hannoverschen Juden Chajjim Bückeburg, der sich dann Heymann Heine nannte. Es ist sehr schade, dass die deutschen Regierungen, als sie die Juden zwangen, Familiennamen anzunehmen, nicht die Beibehaltung der schon üblich gewordenen Namen verlangt haben; dann hätte der große deutsche Dichter Heinrich Heine richtig Chajjim Bückeburg geheißen, und das wäre gewiss ein Hindernis seiner Volkstümlichkeit geworden." In diesem Stile geht es weiter bis zur letzten Seite, wo Herr Bartels sich die echte Pückleriade leistet, wenn ein Denkmal Heines mit der Inschrift errichtet würde: Heinrich Heine das deutsche Volk, so würde dies Denkmal in die Luft fliegen und vielleicht noch verschiedenes mit, auch dann, wenn sich deutsche Dichter, wie Detlev v. Liliencron und Gerhart Hauptmann, vorher auf das Denkmal gesetzt hätten. Da jedoch Herr Bartels als begeisterter Patriot die Zustände des Deutschen Reiches genau genug kennt, um zu wissen, dass er als niedrig geborener Plebejer sich nicht erlauben darf, was einem hochgeborenen Grafen freisteht, so fügt er als vorsichtiger Mann hinzu, er spräche natürlich nur bildlich.

Die erste und verlässlichste Vorbedingung einer Dichterbiographie, nämlich den Dichter und sein Werk aus seiner Zeit heraus zu verstehen, schenkt sich Herr Bartels natürlich. Nicht einmal den leisesten Anlauf nimmt er dazu, selbst wenn er geradezu mit der Nase darauf gestoßen wird. Die Begeisterung, die Heine in seinen jungen Jahren für Napoleon bekundete, erklärt sich aus den Zuständen, in denen er aufwuchs; Heine hätte ein vollkommener Narr sein müssen, wenn er sich nicht für den Erben der bürgerlichen Revolution, der den rheinischen Juden menschenwürdige Zustände schuf, begeistert hätte, sondern für die preußischen Friedrich Wilhelme und die ostelbischen Junker. Aber dies verlangt Herr Bartels als famoser Geschichtskenner und reichsdeutscher Patriot allerdings; er meint: „Preußen ist trotz aller seiner adeligen Offiziere und Beamten geradezu der Staat des Bürgertums, und zwar, weil seine Ideale bürgerliche waren", noch dazu „von jeher", wie Herr Bartels hinzufügt, worüber sich der alte Fritz noch im Grabe umdrehen wird. Dagegen war an der Begeisterung für Napoleon nach Herr Bartels „verdammt wenig Echtes. Napoleonbewunderung lässt man sich gefallen, aber das Herz kann doch an dem Mann keinen Anteil nehmen." Mit dieser blöden Philisterei verdonnert Herr Bartels die jugendliche Begeisterung Heines für Napoleon.

Doch das wäre noch das wenigste. Wie Herr Bartels uns weiter erzählt, sei Heine kein „unbedingter Bonapartist" geblieben, dagegen habe er sich zu einem großen Lobredner des Zaren Nikolaus umgewandelt – „unser August Bebel sollte sich diese Stelle einmal ansehen, vielleicht ginge ihm dann ein Licht auf". Wenn man sich die Stelle wirklich ansieht, so findet man sie in den politischen Träumereien, in denen sich Heine erging, als er im Jahre 1828 das Schlachtfeld von Marengo besuchte. Er gedachte dabei des russisch-türkischen Krieges, der damals entbrannt war; er sagte, dass „Wellington, der Großmufti, der Papst, Rothschild I., Metternich und ein großer Tross von Ritterlingen, Stockjobbern, Pfaffen und Türken für das Heil des Halbmondes bete", und im Gegensatz dazu nennt er den Zaren Nikolaus, der damals beiläufig erst ein paar Jahre regierte, „den Gonfaloniere der Freiheit", den „Ritter von Europa, der die griechischen Witwen und Waisen schützte gegen asiatische Barbareien und in solchem guten Kampfe seine Sporen verdiente". Heine lässt sich hier also von dem damaligen Philhellenismus, einer in ihrem Kern oppositionellen Bewegung, zu seinem Urteil über den Zaren Nikolaus bestimmen. Mag nun dies Urteil noch sosehr den staatsmännischen Groll des Herrn Bartels herausfordern, so musste er doch sagen, wie Heine zu ihm gekommen sei. Statt dessen schreibt er: „Ob Heine Diplomat in St. Petersburg werden wollte?" Und da ihm diese Niedertracht noch nicht genügt, kommt er noch einmal auf dieselbe Stelle zu sprechen und verübt nun die andere Niedertracht, zu schreiben: „Wahrscheinlich war das Bankhaus Salomon Heine für die Russen gegen den auf türkischer Seite stehenden Rothschild und die Engländer engagiert." Auf diese und ähnliche Weise macht Herr Bartels aus Heine einen ausgesuchten Lumpen.

Ergötzlicher ist, wie er ihn zu einem mittelmäßigen Dichter herabzudrücken sucht. Zunächst ist Heine ein Plagiator comme il faut, was Herr Bartels in äußerst sinnreicher Weise erhärtet, einzig gestützt auf die triviale Tatsache, dass die Dichtung und überhaupt die Kunst einer bestimmten Geschichtsperiode immer eine gewisse Familienähnlichkeit hat. Man streitet über dies oder jenes Lied, ob es von Goethe oder Lenz verfasst sei, und von mancher Tragödie, die unter Shakespeares Namen läuft, weiß man noch immer nicht, ob sie nicht vielmehr von einem seiner dichtenden Zeitgenossen herrührt. Mit einem Eifer, der in seiner Art wirklich etwas Rührendes hat, vergleicht nun Herr Bartels Heines Gedichte mit den Gedichten Brentanos, Eichendorffs, Wilhelm Müllers und aller sonstigen zeitgenössischen Poeten, und wo er auf jene allgemeine Familienähnlichkeit in der Form oder dem Gedanken oder der Stimmung stößt, da bricht er in den jubelnden Ruf aus: Sehet da den verdammten Juden, wie er unsere braven deutschen Dichter bestiehlt.

Was dann noch von Heines Poesie übrigbleibt, haut Herr Bartels aus eigener Machtvollkommenheit zusammen. Um das „Lyrische Intermezzo" abzutun, braucht er nur gerade drei Seiten. Er ist so gnädig, zuzugeben, dass sich unter den neunundsechzig Gedichten reichlich ein Dutzend wertvolle befänden, wenn auch kaum etwas wirklich ersten Ranges. Das Gros der Gedichte aber sei nicht echt-lyrisch, sondern räsonierend, vielfach rein spielerisch und lächerlich dünn. Davon, wie Herr Bartels diese Behauptung beweist, seien einige Proben gegeben: „Nr. 1 ist ein Liedbruchstück, ein Lied, das nicht weitergeht, natürlich aus Raffinement, Nr. 2 liedartig, rund, aber süßlich-sentimental und gänzlich unnatürlich, Nr. 3 ein Spruch ganz orientalischen Charakters, geziert dabei. Völlig gemacht, antithetisch, sentimental sind 4 und 6 … Nr. 7 ist gemachtes Zeug, Nr. 8 spielerisches Räsonnement… Nr. 11 ist Referat mit Points, 12 poetische Spielerei, 14 bringt zwei prosaische Epigramme, 15 ist eine ganz niedliche Spielerei, 16 gewöhnliches Räsoniergedicht, 18 Wortkram, äußerst dünn und schwach, 21 und 22 sind nichts, 23 und 24 beide pathetisch in der Form, auch sentimental, aber doch geschlossen und wirksam (das Motiv des letzteren soll von Tieck stammen), 28 gewöhnliches Räsoniergedicht mit unglaublich holpriger zweiter Strophe, 29 dasselbe, unklar, 30 dito, nichtsnutziges Zeug, 31 ebenso, 32 gezierte Kleinigkeit" usw., denn die andere Hälfte dieses Massenmassakers wird uns der Leser wohl gern schenken. In derselben Weise werden dann auch die späteren Gedichte Heines vermöbelt, das „Wintermärchen" ist das „hohe Lied der Schnoddrigkeit", die satirischen Gedichte auf den preußischen und bayrischen König können nur „verhetzten Sozialdemokraten oder dummen Jungen" gefallen, und was des ewigen Geschimpfes mehr ist.

Will man die Sache einen Augenblick ernsthaft nehmen, so liegt es auf der Hand, dass man auf diese einfache Weise die Gedichte jedes Poeten, auch eines Goethe oder, um besondere Lieblinge des Herrn Bartels zu nennen, eines Hebbel und eines Mörike zusammendreschen kann. Man braucht dazu nur etwa sechs Worte (süßlich, sentimental, antithetisch, gemachtes Zeug, Räsoniergedicht, niedliche Kleinigkeit) und die gehörige Portion Frechheit. Ja noch mehr: Herr Bartels soll uns einmal den Dichter nennen, aus dem man mit seiner Methode nicht ebensolchen Lumpen machen könnte, wie er aus Heine machen will. Wer sonst nach solchen herostratischen Lorbeeren trachtete, brauchte nur die Hälfte von der angeborenen Philisterhaftigkeit des Herrn Bartels und sogar nur ein Viertel seiner anerzogenen Unwahrhaftigkeit, um aus seinem bewunderten und geliebten Hebbel einen dreifach so potenzierten Lumpen zu destillieren, wie er aus Heine destillieren möchte.

Doch Herr Bartels ist sehr sicher davor, dass ihm die Steine, die er aus seinem Glashaus wirft, nicht zurückgeworfen werden. Sein Pamphlet ist nicht anziehend genug, um irgendwen, der von Heine Geschmack und Takt gelernt hat, zu einem Kampfe auf gleichem Niveau zu verlocken. Auch der tosende Beifall, den es in der reaktionären Presse gefunden hat, hätte uns kaum veranlasst, nähere Notiz davon zu nehmen. Aber Herr Bartels ist bei alledem nicht der erste beste. Er hat früher ganz beachtenswerte literarhistorische Arbeiten veröffentlicht, die dadurch nicht schlechter geworden sind, dass ihrem Verfasser wegen des patriotischen Geistes, den sie atmen, von irgendeiner deutschen Regierung, vielleicht sogar von der preußischen, der Professortitel verliehen worden ist. Herr Bartels war oder ist noch der literarische Kritiker des „Kunstwart", und namentlich sein Buch über die deutsche Dichtung der Gegenwart ist wohl immer das verhältnismäßig beste von allen, die den gleichen Gegenstand behandeln.

Wie hat nun ein Mann von dieser Vergangenheit so tief sinken können wie in dem Pamphlet, das wir eben skizziert haben? Unseres Erachtens ist sein Verhängnis die einseitig ästhetische Betrachtung der Dinge geworden, die völlige Verachtung des Zusammenhangs, worin die Literatur eines bestimmten Zeitalters mit dessen Ökonomie und Politik und sonstigen Lebensbedingungen steht.2 Es gab eine Zeit, und es gibt sie an manchen Orten vielleicht noch, wo man schon für einen Banausen galt, wenn man in Herwegh und Freiligrath überhaupt noch Dichter erblickte, und es gab auch eine Zeit, wenn es sie hoffentlich auch nicht mehr gibt, wo diese „reine Ästhetik" in Arbeiterkreise einzudringen und ihren Geschmack zu „veredeln" und zu „reinigen" versuchte. In dieser Beziehung ist die Schmähschrift, die Herr Bartels gegen Heine gerichtet hat, nicht ohne eine gewisse zeitgeschichtliche Bedeutung; sie ist nicht das erste, aber bisher krasseste Beispiel dafür, dass die „reine Ästhetik", der angebliche Gipfelpunkt des feinsten Geschmacks, in ihren Konsequenzen in einen Abgrund der ästhetischen sowohl wie moralischen Geschmacklosigkeit führt.

Und damit wollen wir die Seeschlange des Heine-Denkmals sich durch die Spalten der bürgerlichen Presse weiter wälzen lassen.

1 Adolf Bartels: Heinrich Heine. Auch ein Denkmal, Dresden-Leipzig 1906.

2 Mehring beurteilt auch hier die Auffassungen des „völkischen" Adolf Bartels, der später zum „Klassiker" der faschistischen Literaturgeschichtsschreibung avancierte, viel zu mild. Siehe dazu auch Mehrings Aufsatz „Literarhistorische Streifzüge" im Band 11 der „Gesammelten Schriften".

Kommentare