Franz Mehring 18950300 Freiligraths Gedicht „Kalifornien"

Franz Mehring: Freiligraths Gedicht „Kalifornien"

März 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 7, S. 10-14. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 603-607]

Auf sein Lager wirft sich lachend der Gnom:

Sakrament, ja, der Sakramentostrom!

Ha ha ha, und die Menschheit, die gecke!

Kaum dass ihrer einer den Bettel entdeckt,

Als gleich Tausende rufen: Hui, das schmeckt!

Und aber Tausende: Fort, dass es kleckt!

Und nun stehen sie alle, vergnügt und bedreckt,

Und wühlen im Dreck nach dem Drecke!


Und alle Tag' Neue! Ja, das ist ein Sporn!

Über Panama, übers Gebirg, um Kap Horn -

Sie kommen von hinten, sie kommen von vorn,

Sie kommen und wollen waschen!

Ich höre sie rutschen, ich höre sie zieh'n -

Gold, Gold, Gold! – Auf Händen und Knien!

Ja, auf allen vieren! – Und war' es bespien,

Sie steckten es froh in die Taschen!


Staub und Körner und Körner und Staub!

Der Urwald schüttelt sein ewiges Laub,

Die Sonne blitzt – sie sind blind und taub,

Ihr einzig Sinnen der blitzende Staub -

So seh' ich sie schürfen und scharren!

Die Mär El Dorados hat sich erneut:

Wie zu jenen Tagen, so ist es heut,

Wo mit lauterem Gold ihren Weg ich bestreut,

Den Cortez und den Pizarren.


O wie süß das ist, o wie wohl das tut!

O du goldner Regen, du goldne Flut!

Und klebt auch an manchem Korne schon Blut,

Es wird euch die Brust nicht verengern!

Nur zu, nur zu! So war es von je -

Nicht, o Menschheit, verwitterte Danae,

So lassest du gerne dich schwängern?


Halt auf deinen Schoß! lass ein den Zeus!

Empfange, mein Schätzchen, und nicht bereu's!

Auch der Erdgeist ist Gott und ist Schöpfer!

Wer weiß, was die seltne Umarmung uns bringt?

Ob ihr nicht ein neuer Perseus entspringt,

Der mit markigem Schwünge das Richtschwert schwingt,

Ein jüngster Medusenköpfer?


Ein Heros, dröhnend von Gang und schwer,

Der von all deinen Ufern, o stilles Meer,

Der von all deinen Palmeninseln her

Um die Erde schreitet in flammender Wehr,

Der gewaltigste Spross meiner Lenden?

Der, wo immer dräut ein umschlängelt Haupt,

Ob es Fesseln blickt, ob es Hunger schnaubt,

Die versteinernde, tötende Kraft ihm raubt,

Und die Zeiten dich lassest vollenden?


Der da spricht: du wallende Südseeflut,

Schon zu lange hast du tatlos geruht -

An dein Werk jetzt! ich hab' dich mit fröhlichem Mut

Der Geschichte, der Bildung entriegelt!

An dein Werk jetzt! du Becken, schimmernd und rein,

Sollst in meinen Händen der Spiegel sein,

Drin die Gorgo des Alten im Widerschein

Zur Enthauptung blöde sich spiegelt!


Ja, so wird es geschehn! O du künftiger Held,

O du neu anbrechender Tag der Welt,

Schon seh' ich empor dich steigen!

Aus der Felsenberge nacktem Gestein,

Auf die harrenden Meere brichst du herein,

Dem Chinesen schon dämmerst du und dem Malai'n,

Bis zum Indus schlingt sich der Völkerreih'n -

Ja, ich werd', ich werde dich zeugen!


Ich werd' es! — denn nicht an das Eskurial

Werf ich heut mich weg und den toten Ural:

Das Despotentum ist ein faul Gemahl -

Es empfängt, doch nicht mag es gebären!

O wie anders ein Schoß, der voll Lebens quillt,

Der, befruchtet, von neuen Gestaltungen schwillt:

In ein jugendlich Volk heut' ergieß ich mich wild -

Und es wird meiner Glut sich bewähren!


Drum, du närrische Menschheit, drum scharre nur zu!

Ich dein Zeus, meine Danae du!

Komm, den Perseus gezeugt ohne Rast, ohne Ruh',

Meine Lüsterne, meine Kleine!

Zwar – du wirkst dir die Zukunft nur halb bewusst,

Du denkst nur der augenblicklichen Lust -

Doch du schaffst eben doch, was du schaffen musst,

Da, mein Liebchen, wiederum Steine!"


Und er bricht sie aus seinem blitzenden Dom,

Und er wirft sie empor, der mächtige Gnom:

Tief, tief unterm Sakramentostrom,

Da macht er Geschichte, der Hehre!

Nicht lang wird es währen, dann ruft er: Ha!

Denn die Wurzeln der Berge fern und nah,

Sie erbeben, sie zucken: – durch Panama

Ineinander donnern zwei Meere!


Diese ausgezeichneten Strophen sind im Jahre 1850 verfasst worden, als Ferdinand Freiligrath noch der Dichter des Proletariats war, was er leider nicht bis an sein Lebensende geblieben ist. Aus der von ihm veranstalteten Sammlung seiner Gedichte hat er sie später ausgeschlossen, ebenso wie sein herrliches Lied auf Marat. Wir machen sie den Arbeitern um so lieber wieder zugänglich, als Karl Marx durch eine ökonomische Betrachtung den Dichter zu seinem Zukunftsbilde angeregt hat. In der Revue der „Neuen Rheinischen Zeitung" von 1850 hatte Marx geschrieben: „Das wichtigste Faktum, das sich hier ereignet hat, wichtiger noch als die Februarrevolution, ist die Entdeckung der kalifornischen Goldgruben. Schon jetzt, nach kaum achtzehn Monaten, lässt es sich voraussehen, dass diese Entdeckung viel großartigere Resultate haben wird als selbst die Entdeckung Amerikas. Dreihundertdreißig Jahre lang ist der ganze Handel von Europa nach dem Stillen Ozean mit der rührendsten Langmut um das Kap der Guten Hoffnung oder das Kap Horn geführt worden. Alle Vorschläge zur Durchstechung des Isthmus von Panama scheiterten an der bornierten Eifersucht der handeltreibenden Völker." Marx geht dann auf die neuen Verkehrsverhältnisse ein, welche die Entdeckung der kalifornischen Goldgruben geschaffen hatte, und sagt u. a.: „Eine Küste von 30 Breitengraden Länge, eine der schönsten und fruchtbarsten der Welt, bisher so gut wie unbewohnt, verwandelt sich zusehends in ein reiches, zivilisiertes Land, dicht bevölkert von Menschen aller Stämme, vom Yankee zum Chinesen, vom Neger zum Indianer und Malaien, vom Kreolen und Mestizen zum Europäer. Das kalifornische Gold ergießt sich in Strömen über Amerika und die asiatische Küste des Stillen Ozeans und reißt die widerspenstigsten Barbarenvölker in den Welthandel, in die Zivilisation." Er sagt voraus, der Stille Ozean werde künftig dieselbe Rolle spielen wie jetzt der Atlantische, wie im Altertum und Mittelalter das Mittelländische Meer – die Rolle der großen Wasserstraße des Weltverkehrs. Der Atlantische Ozean werde herabsinken zur Rolle eines Binnensees, wie sie jetzt das Mittelmeer spielt. „Die einzige Chance, dass die europäischen zivilisierten Länder dann nicht in dieselbe industrielle, kommerzielle und politische Abhängigkeit fallen, in der Italien, Spanien und Portugal sich jetzt befinden, liegt in einer gesellschaftlichen Revolution, die, solange es noch Zeit ist, die Produktions- und Verkehrsweise nach den aus den modernen Produktivkräften hervorgehenden Bedürfnissen der Produktion selbst umwälzt und dadurch die Erzeugung neuer Produktivkräfte möglich macht, welche die Superiorität der europäischen Industrie sichern und so die Nachteile der geographischen Lage ausgleichen." Soweit Marx.1

Es gewährt nun einen höchst interessanten Einblick in dichterisches Schaffen, zu sehen, was Freiligrath aus diesem Stoffe gemacht hat. Er benutzt die altgriechische Göttersage von der Danae, die durch Zeus in einem goldenen Regen befruchtet wurde und den Perseus gebar, einen Lichtgott, der die Medusa tötete, eine der Gorgonen, welche die griechische Sage als Schreckbilder der Unterwelt, als furchtbare, geflügelte, von Schlangen umwundenen Jungfrauen schildert. Da der Blick der Gorgonen versteinerte, so sah Perseus abwärts gekehrt in einem Spiegel nach ihnen und hieb so der Medusa das Haupt ab. Der Sinn von Freiligraths Gedicht ist nun wohl hinlänglich klar. Der Gnom, der das kalifornische Gold behütet, ist ihm Zeus; die Menschheit, die gierig in diesem Golde wühlt, fasst er als Danae auf. Die ökonomische Umwälzung, die durch die Entdeckung der kalifornischen Goldgruben angebahnt wurde, versinnbildlicht er als Perseus, der einen neuen Tag des Lichts für die Völker heraufführt, der Stille Ozean ist der Spiegel, in den blickend Perseus der Gorgo einer alten und überlebten Welt das Haupt abschlägt.

Die „gesellschaftliche Revolution" in der Produktionsweise, die Marx forderte, ist freilich nicht eingetreten, und so erklärt es sich, dass die grandiose Schlussperspektive in Freiligraths Gedicht, die als mächtige Kulturtat gefeierte Durchstechung der Landenge von Panama, sich tatsächlich verwandelt hat in den schmutzigsten und riesenhaftesten Schwindel einer absterbenden Welt.

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