Franz Mehring 18960819 Georg Herwegh

Franz Mehring: Georg Herwegh

19. August 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Zweiter Band, S. 673-677. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 493-498]

Vor einigen Monaten starb Otto Roquette, ein kleines Poetlein, das im Jahre 1851 mit einem niedlichen Gedichtchen einen großen Erfolg gehabt und sich darnach einige vierzig Jahre vergebens abgequält hatte, mit einer Unzahl von Dramen und Romanen auf der Höhe dieses Erfolges zu bleiben! Die bürgerlichen Zeitungen knüpften an den Todesfall lange Abhandlungen über die „Tragik eines Dichterlebens", eine Tragik, mit der es bei Lichte besehen nicht weit her war. Roquettes einer großer Erfolg stammte daher, dass die Nation beim Erscheinen seines ersten Werkchens sich in einem heillosen Katzenjammer befand, in einem so heillosen Katzenjammer, dass ihr jede glitzernde Nichtigkeit gut genug war, um sich über ihr graues Elend hinwegzutäuschen. Roquettes erstes Werk war nicht besser und nicht schlechter als seine späteren, die nur deshalb nicht einen gleichen Erfolg hatten, weil die Nation doch niemals wieder in den tiefen Abgrund moralischer Zerknirschung geraten ist, in dem sie sich 1851 – und allerdings durch ihre eigene Schuld – befand. Roquettes Schicksal mag deshalb seine Freunde bekümmern, aber es ist nicht abzusehen, was darin von „Tragik" gesteckt haben soll.

Viel eher ließen sich solche Betrachtungen an das Schicksal Georg Herweghs knüpfen, dessen Hinterbliebene sich eben bemühen, den von ihm angeblich oder wirklich vor dem Richterstuhl der Geschichte verlorenen Prozess zu erneuern. Herwegh war kein Poetlein, sondern ein wirklicher Poet, dem es gegeben war, zu singen und sagen, was ein großes Volk im ersten taumelnden Erwachen zu historischem Leben dachte und fühlte. Und diesem Poeten hat ebendies Volk durch seinen Rückfall in die alte Knechtseligkeit die Schwingen für immer gebrochen. Das mag man ein tragisches Schicksal nennen, ein tragisches Schicksal auch insofern, als das Opfer nicht ohne eigene Schuld war. Die Audienz, die Herwegh im Herbst 1842, als er wie kein Dichter vor ihm und nach ihm eine große Triumphfahrt durch Deutschland machte, beim König von Preußen nahm, schnitt sein Leben mitten entzwei.

Es hieße die ganze damalige Zeit verkennen, wenn man Herweghs Erscheinen im Berliner Schlosse vom Standpunkt eines raubeinigen Republikanertums verurteilen wollte. Nichts lag ihm dabei ferner als ein Verrat an seinen Idealen, und so wurde die Sache von den vorgeschrittensten Zeitgenossen auch keineswegs angesehen. Aber so verzeihlich Herweghs Begegnung mit dem romantischen Könige sein mochte, so war sie doch ein falscher Schritt, dessen verhängnisvolle Konsequenzen Herwegh nur immer mehr verstrickten, je mehr er sich von ihnen zu befreien suchte. Der trotzige Brief, den er nachträglich an den König richtete, um nachzuholen, was er in der Audienz selbst versäumt hatte, führte zu einer Reihe reaktionärer Maßregelungen gegen die Presse, der eben erst ein wenig die Flügel gelüftet worden waren; als der Dichter polizeilich aus dem preußischen Staate getrieben wurde, folgte ihm das Kreuzigel derselben Massen, die ihn eben mit Hosianna! empfangen hatten. Und das hat der Dichter nie verwunden.

Legt man die beiden Bände der „Gedichte eines Lebendigen" nebeneinander, zwischen die jene Audienz fällt, so erkennt man auf den ersten Blick den klaffenden Riss. Wohl enthält auch die zweite Sammlung noch manche schönen Gedichte, aber sie stehen doch ziemlich vereinzelt zwischen angeärgerten und überpfefferten Spottliedern, die durchaus nicht zu Herweghs Art und Weise passten. Ihnen fehlt Heines weltbefreiender Witz, und es gehört nicht einmal eine besonders fein entwickelte ästhetische Empfindung dazu, um zu spüren, dass der Ärger, den der Dichter an anderen auslässt, im Grunde der Ärger über sich selbst ist. Sein Saitenspiel war und blieb zerbrochen, in allem wenigstens, was Herweghsche Eigenart war. Selbst sein bestes Gedicht aus späteren Tagen, das „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein", ist eine keineswegs talentlose, aber doch allzu sklavische Nachahmung eines bekannten Gedichts von Shelley, und schwerlich verschuldete es nur die packendere Melodie, dass Audorfs schlichte Arbeitermarseillaise ihm so schnell beim deutschen Proletariat den Rang abgelaufen hat. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass in Herweghs Leben der warme Sommer fehlt und der früchtereiche Herbst und selbst das wärmende Herdfeuer des Winters. Dies Leben war ein kurzer, strahlender Frühling, und darnach kam eine lange Nacht, arm an Arbeit und arm an Freuden.

Im einzelnen zu unterscheiden, wie viel von diesem freudlosen Schicksal auf eigene Torheit, wie viel auf fremde Schuld fiel, das wäre eine wahrscheinlich nicht sehr erquickende, aber vielleicht doch lehrreiche Aufgabe, deren Lösung je nachdem auch dem Andenken des Dichters geschuldet wäre. Irgendein unparteiischer Versuch dazu ist bisher noch von keiner Seite unternommen worden. Die Feinde haben sich begnügt, die Schattenseiten Herweghs ins Ungeheuerliche zu übertreiben und selbst die infamsten Verleumdungen über ihn zu verbreiten, wie jene Spritzledergeschichte, die zehnmal widerlegt, doch immer wieder selbst in den gelehrtesten Werken königlich preußischer Geschichtsschreiber auftaucht. Die Freunde haben sich an das gehalten, was keine Verleumdung diesem Dichterleben rauben kann. Herweghs Name steht leuchtend an der Schwelle der modernen deutschen Geschichte; mehr als eines seiner Gedichte kann nur mit der deutschen Sprache untergehen; sein Lied auf den Lippen, ist manch tapferer Kämpfer für die Freiheit gefallen, und mit langen Jahrzehnten tatloser Verstimmung versöhnt die Tatsache, dass der Dichter nie den Tag von Damaskus gesehen hat, den ihm der romantische König in der berufenen Audienz prophezeit hatte. So mag der Wanderer dankbar im Schatten eines Baumes ruhen, ohne viel zu fragen, ob dieser Baum alle Früchte gereift hat, die er hätte reifen können.

Der erste Versuch, den Schleier zu zerstreuen, der vom Jahre 1843 bis zum Jahre 1876 über Herweghs, Leben liegt, geht von seiner Familie aus. Und er fängt leider die Sache am verkehrten Ende an. Soweit Herweghs Witwe, die noch als hochbetagte Matrone lebt, daran beteiligt ist, wäre es unrecht, mit ihr zu rechten. Sie ist ihrem Gatten stets die treueste Beraterin gewesen, man darf sie seinen guten Genius nennen, und die Treue, die sie seinem Andenken bewahrt, entwaffnet jede Kritik. Dagegen wäre es auch unrecht zu verschweigen, dass Herr Marcel Herwegh seinem Vater gefährlicher wird, als die schlimmsten reaktionären Verleumder ihm je geworden sind: nämlich durch die Art, wie er den brieflichen Nachlass Georg Herweghs schriftstellerisch oder vielmehr büchermacherisch ausschlachtet. Ohne jede Ahnung von dem psychologischen Problem, um das es sich bei dem endgültigen Urteil über den Dichter handelt, glaubt Herr Marcel Herwegh die Sache seines Vaters siegreich durchsetzen zu können, indem er kunterbunt Briefe aus dessen Nachlass herausreißt und sie, gewürzt mit hämischen Bemerkungen über Männer, denen es vergönnt gewesen ist, mehr zu leisten, als sein Vater geleistet hat, in die Öffentlichkeit wirft.

Die erste dieser Veröffentlichungen, die Briefe Lassalles an Herwegh, ist kürzlich schon von Bernstein in der „Neuen Zeit“ besprochen worden. Sie ist die weitaus erträglichere, freilich nur, weil sie sich weit mehr um Lassalle als um Herwegh dreht, und wir erkennen vollkommen die Gründe an, aus denen Bernstein, trotz manchen scharfen Tadels, über die Herausgebertätigkeit des Herrn Marcel Herwegh so mild und schonend urteilt, wie sich nur immer mit der Wahrheit verträgt. Wir würden ebenso gern über alle formellen Unzuträglichkeiten in der zweiten Veröffentlichung des Herrn Marcel Herwegh hinwegsehen, wenn die Sache hier nicht doch wesentlich anders läge. Das bei Albert Langen in München erschienene Buch ist ein ziemlich starker Band von nahe an vierhundert Seiten, der auf dem Umschlage den breit und fett und rot gedruckten Titel „1848" trägt und in einem kleineren Nebentitel Briefe von und an Herwegh verheißt. Diese Briefe beschränken sich aber keineswegs auf das Jahr 1848, sondern reichen von 1843 bis 1882, also in eine Zeit, wo Herwegh längst tot war. Der letzte mitgeteilte Brief vom 12. März 1882 bezieht sich nicht einmal auf Georg Herwegh und enthält außer Freundschaftsversicherungen des Verfassers für die Familie Herwegh an Tatsächlichem nur eine Bemerkung über „Triumphe" des Herrn Marcel Herwegh in einer Kunst. Die Kunst selbst ist nicht genannt, aber unmöglich kann es die Kunst des Schriftstellers sein.

Die Schnitzer des Herrn Marcel Herwegh treten in dieser zweiten Veröffentlichung viel aufdringlicher auf als in der ersten, und schon deshalb können sie um so weniger übersehen werden. Er weiß in der dichterischen Tätigkeit seines eigenen Vaters so wenig Bescheid, dass er Georg Herweghs bekanntes, 1844 in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" abgedrucktes Gedicht „Verrat" als ein ungedrucktes Gedicht aus dem Jahre 1848 mitteilt. Seine erläuternde Herausgebertätigkeit besteht zum großen Teile darin, dass er, sobald ihm ein Name in den Briefen aufstößt, das Konversationslexikon wählt, um die biographischen Skizzen über den Träger dieses Namens abzuschreiben. Zum Unglück für Herrn Marcel Herwegh erbt sich in mancher Familie, wenn auch nicht in jeder, der Geist des Vaters auf den Sohn fort, und in solchen Fällen ist für ihn guter Rat teuer. Er beglückt beispielsweise den Leser seines Buches mit einer Biographie des Sohnes Savigny, weil in einem Briefe aus dem Jahre 1847 beiläufig der Vater Savigny erwähnt wird. Doch ist es unmöglich, diese schulknabenhaften Schnitzer, von denen das Buch wimmelt, im Einzelnen aufzuzählen.

In einem anderen Teile seiner erläuternden Anmerkungen verrät Herr Marcel Herwegh allerdings ein nicht ganz unbeträchtliches literarisches Talent. Er schneidet sie nämlich geschickt auf die literarischen Bedürfnisse der kapitalistischen Presse zu, und auch nicht ohne Erfolg, wie die lauten Trompetenstöße beweisen, womit bürgerliche und selbst reaktionäre Blätter, wie die „Post", das Organ König Stumms, sein Buch angekündigt haben. Georg Herwegh freilich könnte sich über diesen Erfolg im Grabe umdrehen, und er hätte auch allen Grund dazu. Bewiesen wird dadurch nämlich nichts, als dass die reaktionäre Presse den Dichter Herwegh gar nicht mehr, um so mehr aber andere Leute fürchtet, die Herr Marcel Herwegh zu Ehren seines Vaters herunterzureißen bemüht ist. Wir machen ihm daraus keinen Vorwurf, dass er in Bakunins Briefen an seine Eltern, die er sonst nicht ohne Lücken mitteilt, eine öde Schimpferei über Marx hat stehenlassen; wohl aber ist es nicht schicklich, dass er sonstige Mitteilungen, die sich in dem Briefwechsel seiner Eltern über Marx finden, auf einen selbstfabrizierten Waschzettel zusammendrängt, der sofort in seiner ganzen Ungewaschenheit in die kapitalistische Presse übergehen konnte und auch übergegangen ist. Herr Marcel Herwegh erzählt uns: „Marx eignete sich vortrefflich, den letzten Scholastiker vorzustellen", eine historisch sehr geistreiche Charakteristik, wenn wir nur sicher wären, dass ihr Urheber im Konversationslexikon richtig nachgeschlagen hat, was ein Scholastiker ist. Herr Marcel Herwegh beklagt dann, dass Marx in seinem Herzen zwei schlechte Ratgeber: die Eifersucht und den Neid, niemals vollständig zum Schweigen gebracht, und erzählt eine Schnurre, wonach Ruge im Jahre 1843 den Familien Marx und Herwegh den Vorschlag gemacht habe, gemeinsam ein Phalanstere zu gründen. Die Familie Herwegh „durchschaute auf den ersten Blick die Sachlage", aber die Familien Ruge und Marx ließen sich auf das Abenteuer ein, und die Folge? „Vierzehn Tage später waren die Familien entzweit; Herwegh und Frau aber blieben mit Marx' und Ruges im besten Einvernehmen." Die Geschicklichkeit, womit Herr Marcel Herwegh diesen ganzen Quatsch auf wenig mehr als eine Seite zusammenzudrängen weiß, verdient reichlich die Anerkennung, welche sie in der kapitalistischen Presse gefunden hat.

Wo Herr Marcel Herwegh alle diese Albernheiten aufgegabelt hat, wissen wir nicht. Über die Phalanstere-Schnurre, deren winziger Kern darin besteht, dass Marx und Ruge in demselben Hause wohnten, lohnt es sich nicht, weiter zu reden. Tatsächlich kam zuerst nicht Marx mit Ruge, sondern Ruge mit Herwegh auseinander. Ruge skandalisierte sich über gewisse Abenteuer Herweghs und erklärte ihn deshalb für einen „Lumpen". Marx bewunderte diese Abenteuer zwar auch nicht, wie sie denn nichts weniger als bewundernswert waren, aber er wollte Herwegh deshalb nicht gleich einen „Lumpen" genannt wissen und sprach die Hoffnung aus, dass Herwegh sich trotz alledem zu einer „großen Zukunft" durcharbeiten werde. Dieser Streit über Herwegh gab dem – innerlich allerdings schon aus prinzipiellen Gründen zerfallenen – Freundschaftsverhältnis zwischen Marx und Ruge den letzten Stoß. Marx schneidet dabei nur insofern schlecht ab, als Herwegh allerdings keine „große Zukunft" gehabt hat. In diesem Falle hat der Philister einmal richtiger gesehen als das Genie. Die Frage, ob das ein Triumph für den Philister oder das Genie ist, mag man je nachdem beantworten: in keinem Falle war es für Herwegh ein Triumph, von dem Philister richtiger erkannt zu werden als von dem Genie. Und muss denn Herr Marcel Herwegh wirklich noch im Jahre 1896 die ganze Wucht seiner geistigen Überlegenheit auf Marx herab schmettern, weil dieser arme „Scholastiker" im Jahre 1844 so gutmütig war, an eine „große Zukunft" Georg Herweghs zu glauben?

Schneidet man das ganze Brimborium des Herrn Marcel Herwegh von seiner Veröffentlichung weg und wirft man es in den Papierkorb, wohin es gehört, so bleibt schließlich auch nur ein ziemlich magerer Rest. Herwegh hat in den Revolutionsjahren mit einer ziemlichen Anzahl von Persönlichkeiten korrespondiert, die damals im politischen Vordergrunde standen, dazu mit Leuten ganz verschiedenen Charakters, mit Bakunin, Marx, Robert Blum, Julius Fröbel, Struve, Hecker, aber die Briefe sind so gut wie durchweg flüchtige Gelegenheitsbriefe ohne besondere politische Bedeutung, und das beweist eben doch nur, dass Herwegh damals schon ganz außerhalb der aktuellen Bewegung stand. Psychologisch am interessantesten ist der Briefwechsel zwischen Herwegh und seiner Gattin bei ihren jeweiligen Trennungen. Wenn man ihn liest, so freut man sich über das Geschick, womit eine kluge und tapfere Frau den geliebten Mann aus dem herausreißen möchte, was wir seine tatlose Verstimmung nannten und was Herweghs Feinde freilich mit schärferen Worten kennzeichneten, aber man empfängt auch den niederschlagenden Eindruck, dass aller Liebe Müh' umsonst war. Historisch am interessantesten ist an dem Buche der Wiederabdruck einer Schrift, die Frau Emma Herwegh ihrerzeit „Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris" veröffentlicht hat; der wesentliche Inhalt daraus ist vor einiger Zeit im Feuilleton der „Neuen Zeit“ veröffentlicht worden.

Nach dem Tode Georg Herweghs wurde von berufener Seite mitgeteilt, dass Ferdinand Freiligrath und Ludwig Pfau sich seines schriftlichen Nachlasses annehmen würden. Ist die Nachricht richtig gewesen, so könnten wir nach den von Herrn Marcel Herwegh in seiner zweiten Veröffentlichung mitgeteilten Proben vollkommen wohl begreifen, weshalb jene geeigneten Männer die Hand davon gelassen haben. Möglich, dass diese Proben schlecht ausgewählt sind und dass sich in Herweghs Nachlass noch manches findet, das der Veröffentlichung wert wäre. Aber dann sollte die Familie für einen Herausgeber sorgen, der seiner Aufgabe gewachsen ist. Für eine leidige Buchmacherei steht Georg Herweghs Andenken zu hoch.

Kommentare