Franz Mehring 19010800 Herwegh, Marx und die „Freien"

Franz Mehring: Herwegh, Marx und die „Freien"

1902

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Erster Band, Stuttgart 1902, S. 192-196, 203/204. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 499-503]

[…]

Will man den „Freien" gerecht werden, so muss man an Ruges grobes, aber nicht unwahres Wort erinnern, wonach ihr hohles, eitles, dummes, geniales, renommistisches, blasiertes, von allem honetten Pathos entblößtes Unwesen in der allgemeinen Niederträchtigkeit und Aberweisheit des Berliner Lebens wurzele. In der Tat fehlte in Berlin so gut wie ganz der kräftige Rückhalt, den die reich entwickelte Industrie der Rheinlande dem bürgerlichen Selbstbewusstsein bot. Sobald der Kampf der Zeit praktisch zu werden begann, trat Berlin hinter Köln, Leipzig und selbst Königsberg zurück. Der Stadt fehlten alle historischen Überlieferungen, die kurze Zeit ihrer Selbständigkeit lag um vier Jahrhunderte zurück; seitdem war sie von einem harten Despotismus ausgesogen und geknechtet worden, eine Militär- und Residenzstadt, deren kleinbürgerliche Bevölkerungsmasse sich wohl durch ein boshaftes Mundwerk an ihren Drängern rächte, aber sofort in untertänigster Ehrfurcht erstarb, wenn es einmal die Faust außerhalb der Tasche zu ballen galt. Ein rechter Typus dieser Opposition war der Klatschsalon Varnhagens. Frei denkende Köpfe, wie Bruno Bauer gewiss einer war, konnten mit solchem Material nichts Rechtes anfangen. Den paar Philisterblättern, die in Berlin von alters her erschienen, der „Vossischen" und „Spenerschen Zeitung", ließ sich kein frischer Geist einhauchen, und ein neues Blatt, das Buhl zu gründen versuchte, wurde von der Regierung schnell unterdrückt. Die Philosophie, die aus den Wolken herabstieg, traf in Berlin auf keinen festen Boden, worauf sie gehen lernen, keine wichtigen Interessen, woran sie sich zurecht tasten konnte; sie geriet vielmehr in einen bodenlosen Sumpf, über dem sie nur wie ein unwirsches Irrlicht gaukelte.

Diese Verhältnisse erklären das Wesen der „Freien", wenn sie es auch nicht rechtfertigen. Es wird bei alledem immer ein psychologisches Rätsel bleiben, wie ein Mann von Bruno Bauers geistiger Bedeutung sich in den, gelinde gesagt, Eulenspiegeleien gefallen konnte, die der bewundernde Historiker der „Freien" von ihnen erzählt. Am Tage hausten sie im roten Zimmer bei Stehely am Gendarmenmarkte, trugen den Tagesklatsch zusammen und vertrieben ihn an auswärtige Zeitungen; am Abend trafen sie sich bei Walburg in der Post- und namentlich bei Hippel in der Friedrichstraße, kartelten, rauchten, tranken, zankten, uzten fremde Gäste und vernichteten kritisch alles Bestehende – am Kneiptische. Ging ihnen der Kredit beim Wirt aus, so marschierten sie fechtend durch die Straßen und bettelten mit abgezogenen Hüten die Leute an, die ihnen darnach aussahen, dass sie einen Taler springen lassen könnten, oder sie zogen auch in hellem Häuf, Männlein und Weiblein, diese in Männerkleidern, in die Bordelle an der Königsmauer und ulkten so lange, bis sie hinausgeworfen wurden. Ihre Hauptleistung in diesem Genre war die Trauung Stirners im Herbste 1843. Ein ahnungsloser Geistlicher wurde in Stirners Wohnung geladen, wo ihn die Elite der „Freien" kartenspielend empfing und kaum bei seinem Eintritt aus ihren Hemdsärmeln in ihre schäbigen Alltagsrocke fuhr. Dann trat die Braut ohne jeden bräutlichen Schmuck ein; die Trauzeugen lehnten sich während der religiösen Zeremonie zum Fenster hinaus, auf seine Frage nach einer Bibel erhielt der Geistliche den Bescheid, es sei keine da, ebenso fehlten die Ringe, als sie gewechselt werden sollten; Bruno Bauer zog dann die Messingringe von seiner gehäkelten Geldbörse und händigte sie dem Geistlichen mit dem Bemerken ein, für den Zweck seien sie gut genug. Dies alberne Hänseln eines wehrlosen Pfäffleins wurde von den Berliner Spießbürgern halb bewundernd, halb gruselnd angestaunt, so wie der zahme Philister den wildgewordenen Philister anzustaunen pflegt.

Kein Wunder, dass diese wildgewordenen Philister den Vertretern der bürgerlichen Opposition, die von auswärts kamen, durchaus nicht zu imponieren vermochten. Die Sache kam zum Klappen, als Herwegh auf seiner Triumphfahrt durch Deutschland im November 1842 in Berlin erschien, wohin ihn Ruge von Dresden aus begleitet hatte. Beide waren über das Treiben der „Freien" empört; Ruge führte bei Walburg eine heftige Szene herbei, indem er meinte, mit Schweinereien befreie man keine Menschen und Völker. Herwegh seinerseits ist nicht persönlich mit den „Freien" zusammengetroffen, wie Mackay irrtümlich angibt, aber als Freund Ruges war er ihnen verdächtig, und durch seine Audienz beim Könige gab er ihnen einen willkommenen Anlass, ihn im Stile des „Alles Verungenierens" durchzuhecheln. Die Audienz war wirklich ein verhängnisvoller Fehler, den Herwegh sein ganzes Leben lang schwer gebüßt hat, obschon sie menschlich und politisch ungleich verzeihlicher war als die menscheitbefreienden Aktionen der „Freien" an der Königsmauer. Jedenfalls nahm Marx die entschiedenste Partei für Ruge und Herwegh gegen Bruno Bauer und die „Freien".

In welchem Umfang er von ihrem Treiben unterrichtet worden ist, lässt sich nicht genau feststellen. Was er aber immer davon hören mochte, musste ihn abstoßen. Obgleich oder vielmehr weil Marx kein Philister war, so hat er nie im Zigeuner den geborenen Vorkämpfer der menschlichen Kultur erblickt. Durch seine Tätigkeit für die „Rheinische Zeitung" war er mitten ins praktische Leben geführt worden und wurde dadurch schon unwillkürlich von Bruno Bauer abgedrängt, der in der reinen Ideologie hängenblieb. Es fehlt nicht an Anzeichen dafür, dass die Beschäftigung der „Rheinischen Zeitung" mit ökonomischen und politischen Fragen von den „Freien" unliebsam bemerkt wurde; mit ihren philosophischen Phrasen räumten sie freilich bequemer alles Unbequeme weg.

In dem Konflikte der „Freien" mit Ruge und Herwegh wandten sich nun beide streitenden Teile an Marx, die „Freien" durch Meyens Hand in „förmlichen Drohungen", wie Marx an Ruge schrieb1, Herwegh zweifellos in angemessenerem Tone. Wie sich Marx zu Herweghs Audienz beim Könige gestellt hat, ist aus der „Rheinischen Zeitung" nicht zu ersehen; erbaut ist er schwerlich davon gewesen, aber er hatte für echte Dichter immer sehr viel übrig, und wenn je, so ließ er ihnen gegenüber wohl einmal fünf gerade sein.

Gestützt auf Herweghs Mitteilungen, schrieb Marx am 29. November in der „Rheinischen Zeitung": „ + Berlin, 25. Nov. Die ,Elberfelder Zeitung' und aus ihr die ,Didaskalia' enthalten die Nachricht, dass Herwegh die Gesellschaft der ,Freien besucht, dieselbe aber unter aller Kritik befunden habe. Herwegh hat diese Gesellschaft nicht besucht, sie also weder unter noch über der Kritik finden können. Herwegh und Ruge fanden, dass die ,Freien' durch ihre politische Romantik, Geniesucht und Renommage die Sache und die Partei der Freiheit kompromittieren, was auch offen erklärt wurde und vielleicht Anstoß gegeben haben mag. Wenn Herwegh also die Gesellschaft der Freien, die einzeln meistens treffliche Leute sind, nicht besucht hat, so geschah es nicht, weil er etwa eine andere Sache verficht, sondern es geschah lediglich darum, weil er die Frivolität, die Berlinerei in der Art des Auftretens, die platte Nachäfferei der franz. Klubs, als ein Mann, der auch von franz. Autoritäten frei sein will, hasst und lächerlich findet. Der Skandal, die Polissonnerie müssen laut und entschlossen in einer Zeit desavouiert werden, die ernste, männliche und gehaltene Charaktere für die Erkämpfung ihrer erhabenen Zwecke verlangt."2 Weder die Form noch der Inhalt dieser Notiz lässt einen berechtigten Tadel zu; unter aller Schonung der Personen wird in den Verhältnissen selbst, in der „Berlinerei" die Ursache der schlechten Form gesucht, worin eine gute Sache vertreten werden sollte.

Es ist denn auch ganz irrtümlich, wenn Mackay erzählt, die „Freien" seien über Ruge und Herwegh mit ungeheuerster Heiterkeit zur Tagesordnung übergegangen; viel eher ist es richtig, wenn Ruge meinte, die Korrespondenz der „Rheinischen Zeitung" sei wie ein Donnerschlag unter sie gefahren. Den besten Beweis dafür bietet der betretene und verlegene Brief, den Bruno Bauer am 13. Dezember an Marx richtete. Er halte es unter seiner Würde, eine Berichtigungsbude aufzuschlagen. Marx habe den Widerspruch in „Herweghs Korrespondenz" übersehen: Herwegh schildere die „Hiesigen", während er doch selbst sage, dass er sie nie in corpore gesehen habe. Ob es eine Clique in Berlin gebe und ob er, Bauer, einer Clique angehören könne, hätte Marx besser wissen sollen. Das Recht der „Hiesigen" sei unbestreitbar. „Lieber Marx, das Recht Berlins ist so groß, die Berliner haben so wenig durch falsche Schritte die Übereilungen anderer hervorgerufen, dass ich über diese Sache gar nicht weiter sprechen mag, da ich zu viel Unangenehmes, woran hier niemand schuldig ist, berühren müsste. Ich will Dir lieber ein andermal über Sachen schreiben, die uns angenehmer und näher sind. Lebe wohl!" Er hat nicht wieder an Marx geschrieben.

Vielmehr ist er den „Freien" treu geblieben, die ihr Unwesen bis in die Tage der Revolution fortsetzten. Auf dies Unwesen, auf die geflissentliche Verlotterung der bürgerlichen Intelligenz, fällt ein großer Teil der Schuld dafür, dass die Berliner Bewegung im Frühjahr und Sommer 1848, gleich nach dem heldenmütigen Barrikadenkampfe des Berliner Proletariats, so unglaublich zerfahren und in die Hände von Demagogen des allergeringsten Kalibers geraten konnte. […]

Gleich nach Herweghs Audienz beim Könige war eine Zeitschrift, die er in der Schweiz herauszugeben gedachte, im Voraus für die preußischen Staaten verboten worden. Daraufhin schrieb der Dichter an den König, nicht um die Aufhebung des Verbots zu erbitten – „ich darf um Nichts bitten in einem Lande, das ich verlassen will. Ich bin nach Notwendigkeit meiner Natur Republikaner und vielleicht in diesem Augenblicke Bürger einer Republik" –, sondern um seine Klage vor den Thron zu bringen, „ohne eine Devotion zu heucheln, die ich nicht kenne, oder Gefühle, die ich nicht empfinde und nie empfinden werde". Der König möge entscheiden, was Rechtens sei; der Dichter will nur dem „alternden Bewusstsein" der Minister seinen „beschränkten Untertanenverstand", sein „Bewusstsein einer neuen Zeit" entgegenstellen. Der Brief wurde am 24. Dezember in der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" abgedruckt, wider Willen des Verfassers, der ihn dem Könige gegenüber als „ein Wort unter vier Augen" bezeichnet hatte. Doch hatte ihn Herwegh den Königsberger Liberalen mitgeteilt, und er hätte vorhersehen können, worüber er sich nunmehr beklagte: die „unverantwortliche Indiskretion eines Freundes" und die „unselige Klatschsucht", die stehenden Fußes alles unter die Leute bringe.

Gereizt durch die Sticheleien der „Freien", hatte Herwegh den Fehler der Audienz gutmachen wollen, aber, einmal auf der schiefen Ebene, beging er nur neue Fehler. Doch was ihm nun widerfuhr, konnte seine jugendlichen Übereilungen vergessen machen. Bereits am 26. Dezember hatte er in Stettin, wo er seinen Freund Prutz besuchte, den Ausweisungsbefehl aus den preußischen Staaten in den Händen, und dieselbe Presse, die ihn eben überschwänglich verherrlicht hatte, fiel mit lakaienhaftem Gezeter über ihn her. Selbst Freiligrath veröffentlichte in der „Kölnischen Zeitung" einen unschönen „Brief" an Herwegh -


Dir folgt, wie plumpen Schnittern,

Ein Rauschen, hörbar kaum;

Das ist der Triebe Zittern

Am jungen Freiheitsbaum!

Der Knospen und der Triebe,

Die freudig ihn geschmückt!

Die ach! mit Einem Hiebe

Du alle fast geknickt!


Gerechter urteilte die „Rheinische Zeitung". Sie trat nun doch aus der nicht unfreundlichen Reserve heraus, die sie gegenüber der Audienz Herweghs beim Könige eingenommen hatte, indem sie meinte, der Dichter habe sich in seinem Briefe ein wenig à la Marquis Posa benommen, aber sie fügte hinzu, das liege so sehr im unpraktischen Wesen Deutschlands, dass ihn deswegen anzugreifen nur deutschen Zeitungen einfallen könne.

[…]

1 Siehe Marx an Arnold Ruge, 30. November 1842. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 27, S. 411-413.

2 Herweghs und Ruges Verhältnis zu den Freien. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Historisch-kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 1, Erster Halbband, Berlin 1929, S. 309.

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