Franz Mehring 18940613 Literarische Parodien

Franz Mehring: Literarische Parodien

13. Juni 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 353-356. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 378-382]

Ein Zufall spielte uns vor einigen Tagen das fünfte Monatsheft vom laufenden Jahrgange der „Gartenlaube" in die Hand.1 Vom Texte zu schweigen, der aus dem üblichen Geistesfutter für den mehr oder minder „freisinnigen" Philister besteht, müssen wir doch dem Umschlage dieses Heftes eine literarische Bedeutung zuerkennen. Hier findet sich mitten unter Reklameanzeigen von Scherings Pepsin-Essenz, Erlenmayers Brom-Wasser, Hildebrands Deutschem Kakao, Christophs Fußboden-Glanzlack und dergleichen mehr eine treffliche redaktionelle Leistung: ein Bild und eine Biographie Ludwig Pfaus, ein elender Holzschnitt und ein Winkelhaken voll Text, fünfzehn ganze und etwa doppelt soviel halbe Zeilen, worin dem verewigten Dichter bescheinigt wird, dass er sich nicht ohne Lob mit ästhetischen und poetischen Arbeiten beschäftigt habe, soweit ihm seine einseitige Politik dazu Muße und Stimmung ließ.

Das ist denn doch ein zeitgenössisches Kulturbild, an dem Mutter Germania ihre helle Freude haben kann. Ludwig Pfau als Bettler, dem ein Happen abgestandenen Breies hinausgereicht wird, vor der Schwelle derselben heiligen Hallen, in denen die Dahn und die Prölß, die Wiehert und die Wilbrandt2 bei Austern und Sekt frühstücken. Und hinter dem abgestandenen Brei der mildherzigen Köchin gleich der grobe Besen des Hausknechts, der den armen Bettler von der Bildfläche dieser herrlichen Welt wischen wird. Haben sich die Leser des, teutschesten Familienblattes den Jahrgang binden lassen, so wandert der Umschlag mit Scherings Pepsin-Essenz und Ludwig Pfaus Biographie und Hildebrands Deutschem Kakao in die Papiermühle, und aus der Makulatur entstehen neue Umschläge, um abermals Bild und Biographie eines dem Joche des Kapitalismus sich nicht duckenden Dichters darauf zu produzieren. Vorausgesetzt, was ja doch aufs innigste zu wünschen ist, dass inzwischen wieder einer aus dieser absterbenden Rasse das Zeitliche gesegnet hat, derweil die Dahn und Prölß bei Austern und Sekt ein fröhliches Dasein spinnen.

Armer Ludwig Pfau oder auch glücklicher Ludwig Pfau! Könnte er's mit leiblichen Augen sehen, er wäre stolz darauf, als Bettler vor den Toren des neuen deutschen Reiches zu stehen, er, der den deutschen Bettlern so hold war und sie in einem seiner schönsten Gedichte verherrlicht hat. Und er würde besonders stolz sein auf die Bettler-Gemeinschaft mit einem anderen Bettler, der eben jetzt ohne alle Zeremonien aus den heiligen Hallen der bürgerlichen Gesellschaft spediert wird, in der seine unheilige Gegenwart bisher in unverantwortlicher Weise übersehen worden war. Wir meinen Gottfried August Bürger. Vor einiger Zeit erließ ein ganzer Haufe bürgerlicher „Notabilitäten" einen Aufruf zu Sammlungen für ein Bürger-Denkmal, dessen Grundstein an Bürgers hundertjährigem Todestage, dem 8. Juni dieses Jahres, gelegt werden sollte. Führer dieses Haufens waren in sinniger Wahl Herr v. Bennigsen, der Oberpräsident der deutschen Landschaft, in welcher der deutsche Dichter Bürger das Glück hatte zu verhungern3, und Herr Erich Schmidt, der gefeierte Literarhistoriker, der die deutschen Dichter wegen „blinder Wut" abkanzelt, weil sie die unbescheidene Gewohnheit hatten, unter der Hungerpeitsche des Despotismus zu stöhnen. Bei so besonnenen Patrioten verstand es sich von selbst, dass sie in ihrem Aufrufe von vornherein erklärten, Bürger solle nur ein ganz bescheidenes Denkmal erhalten. Denn da Bürger nie eine diplomatische Gaunerei oder eine militärische Brutalität begangen, sondern nur eine Fülle unsterblicher Lieder gesungen hat, wie hätte er Anspruch auf mehr als ein ganz, ganz kleines Denkmal?

Indessen, als der 8. Juni herankam, stellte es sich heraus, dass die deutsche Bourgeoisie sich nicht einmal so viel an ihren Austern- und Sektfrühstücken abzusparen vermocht hatte, dass der kleine Grundstein des ganz kleinen Denkmals für Bürger gelegt werden konnte. Wie viel eigentlich eingekommen ist, wissen wir nicht, aber falls etwa doch ein paar Pfennig eingelaufen sein sollten, möchten wir den Herren v. Bennigsen und Erich Schmidt einen submissen Vorschlag unterbreiten. Wäre es nicht das würdigste Denkmal Bürgers, für diese Pfennige auf dem Umschlage des nächsten Monatsheftes der „Gartenlaube" zwischen den Reklamen für Erlenmayers Brom-Wasser und Christophs Fußboden-Glanzlack ein elendes Porträt des Dichters und einen Winkelhaken voll Text zu inserieren, etwa fünfzehn ganze und doppelt soviel halbe Zeilen, worin dem Gottfried August Bürger bescheinigt wird, dass er sich nicht ohne Lob mit ästhetischen und politischen Arbeiten beschäftigt habe, soweit ihm seine „blinde Wut" gegen den deutschen Despotismus Stimmung und Muße ließ? Bürger und Pfau würden sich ausgezeichnet vertragen, während Bennigsen und Erich Schmidt in ebenso ungetrübter Geistesgemeinschaft mit den Wilbrandt und Wiehert bei Austern und Sekt auf des neuen deutschen Reiches Herrlichkeit toastieren könnten.

Sollte es aber auch nicht einmal dazu langen, so müsste man aus der Not eine Tugend machen, und da gestehen wir gern, dass uns die edle Bourgeoisie, die sich nicht einen Pfifferling um Bürger und Pfau schert, zehnmal ehrlicher erscheint als die Sorte von „Notabilitäten", die ein Denkmälchen für Bürger errichten will oder Pfau auf dem Umschlage der „Gartenlaube" feiert. Hat nicht Pfau die Grenze zwischen sich und den Gelehrten der „Gartenlaube" schon mit tiefem Striche gezogen in seinem „Alten Studenten", von dem wir hier nur die eine Strophe wiederholen wollen:


Wo sind jene, die mit mir geschworen,

Treu in dem schweren Dienste zu stehn?

Leise hat sich der eine verloren,

Still sah den andern beiseite ich gehn.

Wie geschmeidig sind nun ihre Rücken,

Wo ich erscheine, da weichen sie scheu.

Helfet nur Freiheit und Volk unterdrücken,

Alter Student, ich blieb arm und blieb treu.


Oder hat nicht schon Bürger dem Herrn v. Bennigsen, dem Befürworter des Sozialistengesetzes, den trefflichen Vers ins Stammbuch geschrieben:


Mein Gott! Was für Geschrei erhuben

Nicht da so manches erzdummen Buben

Erzdummer Papa,

Erzdumme Mama,

Erzdumme Leibs- und Seelenamme!

Welch Gänsegeschnatter die Klerisei,

Welch Truthahngekoller die Polizei!

Ist's weise, dass man dich verdamme,

Gebenedeite Gottesflamme,

Allfreie Denk- und Druckerei?


Oder hat nicht schon Bürger die Literaturgeschichte der Bourgeoisie in ihres untertänigen Wesens Wesenheit getroffen, als er den geschundenen Bauern die von Herrn Erich Schmidt so überschwänglich gefeierten Friedriche und Ferdinande in den erzenen Rhythmen brandmarken ließ:


Du Fürst hast nicht bei Egg' und Pflug,

Hast nicht den Erntetag durchschwitzt,

Mein, mein ist Fleiß und Brot.

Ha! Du wärst Obrigkeit von Gott?

Gott spendet Segen aus, du raubst!

Du nicht von Gott, Tyrann!


Herr Erich Schmidt hat längst bewiesen, dass er keine Literaturgeschichte schreiben kann, aber damit ist doch noch nicht die Notwendigkeit gegeben, dass er solche literarischen Parodien in die Welt setzt wie den Aufruf für das ganz, ganz kleine Bürger-Denkmal.

Aber nicht bloß ehrlicher, sondern auch schlauer als ihre „Notabilitäten" ist die Masse der Bourgeoisie, wenn sie nichts übrig hat für Gottfried August Bürger, für so ein Subjekt, das noch zu mucksen wagte, wenn es unter irgendeiner Hungerpeitsche verhungern sollte. Die deutsche Bourgeoisie ist nicht so dumm wie jenes Mädchen, das noch eine Jungfer sein wollte, weil es nur ein ganz, ganz kleines Kind geboren hatte. Sie will ihr dickes Banausentum in jungfräulicher Reinheit erhalten, und der Himmel bewahre uns davor, dass wir diesem schönen Streben etwas in den Weg legen sollten! Sie will nicht den gefährlichen Präzedenzfall aufkommen lassen, dass ein Hungerleider, der gern oder ungern verhungern musste, überhaupt wert sein kann, die Gedanken der Nachwelt zu beschäftigen. Deshalb gönnt sie dem armen Bürger, der bei Lebzeiten kein Brot hatte, nach seinem Tode nicht einmal einen Stein. Und das ist von ihrem Standpunkt, wie wir nur wiederholen können, ganz ehrlich und schlau gedacht.

Herr v. Bennigsen aber und seinesgleichen scheinen in Denkmalsfragen noch nicht zur reinen Klarheit des „vollen und ganzen" Patriotismus vorgedrungen zu sein. Als in der letzten Reichstagssession vier oder wie viel Millionen für ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal bewilligt wurden und die parlamentarischen Vertreter der Sozialdemokratie selbstverständlich dagegen stimmten, flammte Herr v. Bennigsen in sittlicher Entrüstung und peinlicher Überraschung auf, was sich beiläufig um so ehrwürdiger ausnahm, als derselbe ausgezeichnete Politiker vor sechzehn Jahren – das Sozialistengesetz auch wegen der antimonarchischen Gesinnung der Sozialdemokratie bewilligt hatte. Indessen, je ungeschmälerter wir ihm und seinesgleichen den Ruhm aller Kaiser- und Bismarck-Denkmäler lassen, um so eher sollten sie sich hüten, ihre kostbare Kraft noch in der Sorge um das Andenken von Bürger und Pfau zu zersplittern. Was haben ihnen diese armen Kerle denn eigentlich getan? Sie waren Bettler, gewiss, und haben sich selbst so genannt, aber sie waren edle, stolze, trotzige Bettler, und wenn sie vom Olymp herabsehen, so werden sie vollauf zufrieden sein, dass ihr Geist, ihr edler, stolzer, trotziger Geist in der Arbeiterklasse unsterblich fortlebt. Den Königen ihre Schranzen, und keine Revolution wird jemals dies fürstliche Besitztum antasten, aber dafür auch den Bettlern ihre Bettler!

Wir meinen, dass in dieser Frage eine Einigung zwischen Bourgeoisie und Proletariat doch recht leicht sei. Um so leichter, als der größere Vorteil bei solcher ehrlichen Scheidung immer noch auf die Seite der Bourgeoisie fiele. Und zwar keineswegs nur, was Kreuze, Orden, Sterne und sonstiges zeitliches Gut anbetrifft, sondern namentlich deshalb, weil sie sich dann nicht vor dem zivilisierten Auslande, wo die herrschenden Klassen im allgemeinen noch nicht das geistige Erbe der Nation an den baren Profit aufgelassen haben, so zu blamieren braucht, dass sie einem Dichter wie Bürger keinen Grabstein zu setzen weiß oder einen Dichter wie Pfau in die Papiermühle schickt.

1 „Die Gartenlaube" – von 1853 bis 1918 wöchentlich in Berlin erscheinende illustrierte Familienzeitschrift. Mehring wurde auf die betreffende Nummer von H. Dietz aufmerksam gemacht und verwandte in seinem Artikel eine Reihe von Formulierungen Dietz'.

2 Felix Dahn – vielgelesener, reaktionärer Schriftsteller, bekannt durch „Ein Kampf um Rom". Prölß war Schriftleiter der „Gartenlaube". Der reaktionäre Vielschreiber A. Wilbrandt wurde geadelt. Ernst Wiehert verfasste eine Serie von Romanen und Novellen, historischen Dramen und Lustspielen, wurde vor allem bekannt durch „Der Große Kurfürst in Preußen".

3 Gemeint ist Hessen.

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