Franz Mehring 19020806 Nikolaus Lenau

Franz Mehring: Nikolaus Lenau1

August 1902

[Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 577-581. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 371-377]

Vor hundert Jahren, am 13. August 1802, wurde Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau, der sich als deutscher Dichter Nikolaus Lenau nannte, zu Csatad, einem Dorfe unweit Temesvar in Ungarn, geboren. Seine Blüte als Dichter fällt in die Zeit zwischen Juli- und Februarrevolution, genauer in die Zeit von 1832, wo seine ersten Gedichte erschienen, bis 1844, wo ihn die Nacht des Wahnsinns umhüllte. Ohne praktischen Beruf und ohne große Erlebnisse, wenn man nicht eine Reise nach Amerika dazurechnen will, die vor siebzig Jahren mehr bedeutete als heutzutage, hat Lenau sein Leben in steter Unruhe verzehrt; wie er das Glück besungen hat, so hat es sich ihm erwiesen: als ein rätselhaft geborener und, kaum gegrüßt, verlorener, unwiederholter Augenblick.

Graf Auersperg, als Dichter bekannt unter dem Namen Anastasius Grün, schreibt in seiner biographischen Einleitung zu Lenaus gesammelten Werken, dass verschiedene Nationalitäten diesen als den ihrigen hätten beanspruchen können. „Herkunft und Name seiner Familie weisen auf slawische Voreltern, durch Geburt und erste Erziehung gehört er dem Magyarenlande, durch Bildung, Gesinnung und Herzenswahl dem Deutschtum an. Es hat sonach tiefliegende Wurzeln, dass sich sowohl in seinem persönlichen Charakter wie in dem Charakter seiner Schriften diese drei Nationalitäten abspiegeln. Das feurige Gefühl, der aristokratische Unabhängigkeitssinn, Waffenlieder und soldatischer Mut, die glühende, in orientalischer Bilderpracht schwelgende Phantasie, die Vorliebe für Kraftworte und Hyperbeln und ein Zug von Hochmut lassen die magyarische Heimat nicht verkennen; die Neigung und Anlage zur Musik, der Sinn für patriarchalisch-demokratische Ursitte, die träumerische Passivität im Druck äußerer Geschicke, die scheue Verschlossenheit und sanfte Melancholie neben Anflügen von Schlauheit und verschmitztem Trotze verraten den Tropfen slawischen Blutes in seinen Adern; der strenge Rechtssinn, die tiefe Wahrheitsliebe, die ausdauernde Treue, das gründliche Wohlwollen, die Unermüdlichkeit des Geistes in religiös-philosophischer Spekulation, die Gründlichkeit und Vielseitigkeit im Wissen und Forschen, aber auch die Ungewandtheit in weltlich-praktischen Lebensfragen, die Versenkung in die Natur und deren sinnvolle Exegese und Symbolik, der Hang zu Schwärmerei und Beschaulichkeit beurkunden entschieden den Deutschen. So sind auch in seiner Poesie die Stimmungen und Grundideen, Motive und Tendenzen, kurz das innere Leben durchaus deutsch, während Szenerie und Kolorit ihre originellen Umrisse und warmen Tinten den magyarischen Jugenderinnerungen des Dichters entnehmen, Rhythmus und Formenweichheit seiner Lieder aber nicht selten an den einförmigen Wohlklang eines auf Molltönen sich wiegenden slawischen Volksliedes uns gemahnen." In dieser Parallele ist manches schief und anderes etwas weit hergeholt, aber ein gewisser Fond von Wahrheit steckt doch darin.

Der Vater des Dichters starb schon in dessen fünftem Lebensjahre; nach allem, was wir von ihm wissen, war er ein wüster Geselle, durch den der Sohn wohl erblich belastet gewesen sein mag. Erzogen wurde Nikolaus von der Mutter, einer geborenen Deutschen, die mit aufopfernder Liebe für ihn sorgte, ihn freilich auch verzärtelte, so dass ihm alle praktischen Lebenskämpfe fern blieben, zumal da ein kleines Vermögen von den Großeltern her ihn auf einige Zeit notdürftig vor äußeren Sorgen schützte. In einem faustischen Drange ergab er sich nacheinander dem Studium der Philosophie, des ungarischen und dann des deutschen Rechts, darauf der Landwirtschaft und endlich der Medizin. Mit dreißig Jahren war Lenau noch immer ein unfertiger Student, den nun die Unrast nach Amerika trieb, nachdem er vorher seine ersten Gedichte in Cottas Verlag gegeben hatte. Das amerikanische Leben ekelte ihn im höchsten Grade an, und er kehrte alsbald nach Europa zurück, wo ihn nun an der Grenze Deutschlands ein lauter Willkomm empfing; seine inzwischen erschienenen Gedichte hatten ihn schnell zum berühmten Manne gemacht. Seitdem lebte er abwechselnd in Wien und in Stuttgart, unter den schwäbischen Dichtern, mit denen er nahe befreundet war; zur Wahl eines praktischen Berufs konnte er sich nach wie vor nicht entschließen, obgleich nun auch die äußere Not drängte, namentlich in den mancherlei Herzenskämpfen, die Lenau zu bestehen hatte. Als er sich im Jahre 1844 mit einem armen Mädchen verlobt hatte, brachte ihn die Sorge um die Kosten des neuen Haushalts, bei seiner gänzlichen praktischen Unbehilflichkeit, in die höchste Erregung, und als nun eine verheiratete Frau ältere Ansprüche an ihn nicht aufgeben wollte und ihn mit exaltierten Vorwürfen überhäufte, brach die Katastrophe herein, die erst nach sechs qualvollen, in der Zelle des Irrenhauses verbrachten Jahren den Tod des unglücklichen Mannes herbeiführte.

Diese flüchtige Skizze zeigt zur Genüge, dass rein persönliche Komplikationen auf das Leben und somit auch auf das Dichten Lenaus einen verhängnisvollen Einfluss gehabt haben. Aber die Mischung der Nationalitäten in ihm bestimmt seine Stellung in der deutschen Literatur allerdings in hohem Maße. Schon rein äußerlich spürt man, ähnlich wie bei Chamisso, mit dem Lenau sonst keine Ähnlichkeit hat, dass er kein geborener Deutscher ist. In seinen Gedichten finden sich, und oft gerade in den ausgezeichnetsten und sozusagen von Wohllaut überquellenden, gewisse Geschmacklosigkeiten und Härten, die auf einen fremdartigen Ursprung deuten. Wenn Lenau in einem Gedichte sagt: „Die Unschuld saß am Dache fromm in stillen weißen Tauben" oder in demselben Gedichte „einen Jägersmann mit nachgesprengten Hunden" erscheinen lässt, wenn er in einem andern Liede den Frühling „seine Singraketen, die Lerchen, in die Luft" schleudern oder in einem dritten Liede „die Lerche an ihren bunten Liedern selig in die Luft klettern" lässt, so sind das alles Wendungen, die sich an einem so geschmackvollen Poeten, wie Lenau war, nur daraus erklären lassen, dass er die deutsche Sprache eben doch nicht schon mit der Muttermilch eingesogen hatte.

Doch insoweit würde es sich nur um Äußerlichkeiten handeln. Wichtiger und für sein Dichterlos entscheidender war, dass Lenau sich nie völlig das deutsche Geistesleben zu Eigen gemacht hat. In dieser Beziehung befremdet schon die intime Freundschaft, die er Zeit seines Lebens mit der schwäbischen Dichterschule gehalten hat, das heißt mit derjenigen Dichterschule, die in den dreißiger und vierziger Jahren die reaktionäre oder doch die spießbürgerliche Richtung in der deutschen Literatur vertrat. Zudem war Lenau nicht sowohl mit ihren paar wirklichen Talenten, mit Uhland oder Mörike, befreundet als vielmehr mit ihrem Tross, den Schwab, Kerner, Pfizer, Mayer, braven Philistern, die schon früh zu raunen wussten, dass es mit diesem unheimlichen Fremdling kein gutes Ende nehmen werde. Freilich berief sich die schwäbische Dichterschule auf die Natur als ihre Muse, aber wie tief standen die Kinder dieser Muse unter Lenaus unvergleichlichen Schilf- und Waldliedern, unter seinen Zigeunerliedern aus der ungarischen Puszta, unter seinen Echos aus den amerikanischen Urwäldern. Sie hatten soviel miteinander zu schaffen wie matte Limonade und feuriger Tokaier.

Die Erklärung der auffallenden Erscheinung ergibt sich daraus, dass Lenaus Freiheitsbewusstsein einen feudal-magyarischen Ursprung und somit eine innere Wahlverwandtschaft mit der liberalen Romantik eines Uhland hatte, der als das gefeiertste Haupt der schwäbischen Dichterschule galt. Lenaus Vorliebe für diese Schule harmoniert vollkommen mit seinem Abscheu vor dem amerikanischen Leben, wo ihm die bürgerliche Demokratie in aller Ungebärdigkeit ihrer Flegeljahre entgegengetreten war. Er war mit einem Fluche von Deutschland geschieden, das feige und dumm die Fersen des Despoten küsse:


Fleug, Schiff, wie Wolken durch die Luft,

Hin, wo die Götterflamme brennt!

Meer, spüle mir hinweg die Kluft,

Die von der Freiheit mich noch trennt!

Du neue Welt, du freie Welt,

An deren blütenreichem Strand

Die Flut der Tyrannei zerschellt,

Ich grüße dich, ein Vaterland!


Aber kaum hatte Lenau den amerikanischen Boden betreten, als seine Stimmung völlig umschlug:


Es ist ein Land voll träumerischem Trug,

Auf das die Freiheit im Vorüberflug

Bezaubernd ihren Schatten fallen lässt,

Und das ihn hält in tausend Bildern fest,

Wohin das Unglück flüchtet ferne her,

Und das Verbrechen zittert übers Meer;

Das Land, bei dessen lockendem Verheißen

Die Hoffnung oft vom Sterbelager sprang

Und ihr Panier durch alle Stürme schwang,

Um es am fremden Strande zu zerreißen,

Und dort den zwiefach bittern Tod zu haben;

Die Heimat hätte weicher sie begraben.


Härter noch als in diesem poetischen Fluch sprach der Dichter in Prosa von den „verschweinten Staaten", wo die Natur entsetzlich matt sei, wo es keine Singvögel gebe, wo ein gewinnsüchtiges, poesieloses Geschlecht lebe, „ausgebrannte Menschen in ausgebrannten Wäldern", wo der Mensch weder edler noch gebildeter, weder sittlicher noch glücklicher sei als anderwärts. Leiste die freie Staatsform in dieser Hinsicht so wenig, so habe sie für ihn auch keinen besonderen Wert, denn es sei gleichgültig, ob der Quarkfladen in eine runde oder viereckige Form getreten werde.

So konnte nur ein Mann sprechen, dem der bürgerliche Freiheitsbegriff noch völlig verschlossen war, ein liberaler Romantiker, das Kind einer Nation, die, wie die magyarische, den Kampf um ihre Unabhängigkeit erst in feudaler Form führte. Deshalb war diese harte Sprache keineswegs die Sprache eines Renegaten, und sobald Lenau nach Deutschland zurückgekehrt war, nahm er regen Teil an dem Kampf um die geistige Freiheit, in den sich der Kampf um die politische Freiheit noch verschleierte. Seine größeren lyrisch-epischen Dichtungen: „Faust", „Savonarola", „Die Albigenser" sind Schlachten, die er in dem Kampf um die geistige Freiheit geschlagen hat. Allein auch hier erwies sich als sein Verhängnis, dass ihm im letzten Grunde das deutsche Geistesleben fremd geblieben war.

Sicherlich wäre es unbillig gewesen, einem Dichter zu verbieten, nach Goethe noch einen „Faust" zu dichten, aber Lenaus „Faust" sticht, trotz einzelner wundervoller Gesänge, von Goethes „Faust" doch in gar zu kindlich-naiver Weise ab. Dann aber entschied sich Lenau nach längerer Wahl zwischen dem weltlich freien Hutten und dem finstern Fanatiker Savonarola für diesen; ihm widmete er das äußerlich geschlossenste, aber in seiner befreienden Tendenz zerfahrenste seiner großen Gedichte. Dies christliche Gedicht sollte ein Protest gegen das „Leben Jesu" von Strauß sein, das eben jetzt eine neue Epoche in der Befreiung des deutschen Geistes eröffnet hatte. An den konfusen Schwarmgeist und Geisterklopfer Kerner schrieb Lenau, er habe den alten pantheistischen Dämon zum Teufel gejagt, er habe in seinem Herzen scharfe Musterung gehalten und viel Gesindel daraus entfernt. Ein Glück noch, dass der pantheistische Dämon seinem Vertreiber einen rächenden Streich gespielt, dass in dem christlichen Gedichte der Christ schließlich doch den Dichter nicht bezwungen hat. Savonarolas christliche Eiferrede gegen Marianos poetische Verherrlichung des klassischen Altertums steht dieser an überzeugender Kraft nach, und für den Leser geht nicht Savonarola, sondern Mariano als Sieger aus dem Kampfe hervor. Nicht besser besteht Savonarola am Krankenlager Lorenzo Medicis, wo er mit seiner Eifer- und Strafrede gegen die von Überzeugungstreue und der Überlegenheit ruhiger Geistesklarheit eingegebene Gegenrede des Sterbenden offenbar im Nachteil bleibt. Der prophetische Ausfall Savonarolas gegen die Hegelsche Philosophie beweist vollends nichts, als dass Lenau davon auch wirklich nichts verstand.

Vom Glauben kehrte er dann wieder zum Zweifel zurück, in seinen „Albigensern", „freien Dichtungen", deren Held nach Lenaus eigenem Wort „der Zweifel sein sollte, der von Innozenz blutig gejagte und in Ketten geschlagene, den aber das Klirren seiner Ketten und deren harter Druck nicht schlafen ließen". Deshalb sind die „Albigenser" doch frei von jeder kahlen und nackten Tendenz; im Gegenteil zeichnen sie sich gerade auch künstlerisch durch frische Farben und plastische Gestalten vor dem „Savonarola" aus, dessen langweilige Predigten oft genug in seichten Gemeinplätzen versanden. Es war nur ein Lob für das Gedicht, dass die schwäbischen Dichter, die den „Savonarola" als „ungeheuer", als „das Meisterwerk aller Meisterwerke" gepriesen haben, sich nun unwillig abwandten, dass der brave Pastor Schwab an Anastasius Grün schrieb: „Wegen seiner Albigenser, die sich für den Glauben an die Sterblichkeit metzgen lassen, sind wir hiesigen Freunde in stillem Widerspruch mit Freund Niembsch." Was diese Philister am meisten verdross, das schadete der schönen Dichtung am wenigsten, die Vertiefung des historischen Gehalts, die das geistige Ringen der Gegenwart mit den Kämpfen der Albigenser verknüpfte.

In dem Schlussgesang der Albigenser bekannte der Dichter sich selbst zu dieser Absicht. Er hob sich über die Schranken seines Wesens hinaus, indem er das Rätsel der Zeit im Rätsel seines eigenen Daseins erkannte:


Woher der düstre Unmut unsrer Zeit,

Der Groll, die Eile, die Zerrissenheit?

Das Sterben in der Dämmerung ist schuld

An dieser freudenarmen Ungeduld;

Herb ist's, das lang ersehnte Licht nicht schauen,

Zu Grabe gehn in seinem Morgengrauen.

Und müssen wir vor Tag zu Asche sinken,

Mit heißen Wünschen, unvergoltnen Qualen,

So wird doch in der Freiheit goldnen Strahlen

Erinnerung an uns als Träne blinken.


Erschütternder und wahrer ist nie das Los der deutschen Poeten und Philosophen in vormärzlicher Zeit geschildert worden, jener Geisteskämpfer, auf die heute ein gespreizter Literatenklüngel von oben herabblicken möchte. Sie selbst würden ihre Erben freilich auch nicht in diesem Klüngel suchen; wie sie sich in die Folge der Zeiten stellten, das sagte Lenau in der prachtvollen Schlussvision der „Albigenser":


Das Licht vom Himmel lässt sich nicht versprengen,

Noch lässt der Sonnenaufgang sich verhängen

Mit Purpurmänteln oder dunklen Kutten;

Den Albigensern folgen die Hussiten

Und zahlen blutig heim, was jene litten,

Nach Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,

Die dreißig Jahre, die Zevennenstreiter,

Die Stürmer der Bastille und so weiter.


Einer dieser Streiter und Stürmer ist auch Nikolaus Lenau gewesen, nach den Bedingungen seines Daseins, die keiner aus freiem Entschlusse beseitigen kann. Was er geschaffen hat, ist zum guten Teile dem Roste der Zeit erlegen, aber ein kleiner Schatz seiner Lieder wird dauern, solange es eine deutsche Sprache gibt, und sein Name bleibt erhalten auf den goldnen Tafeln des menschlichen Emanzipationskampfs.

1 Siehe auch Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. In: Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1975, S. 265.

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